Fatales Rendezvous

von Petra Ziegler

„Frech und unverschämt“, der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger zeigte sich brüskiert. Frech und unverschämt – wie kleine Kinder gerne abgekanzelt werden, wenn Altgewordene in deren Verhalten oder Äußerungen Unbotmäßiges zu erkennen glauben. Wenn aufbegehrt wird gegen ihr Regelwerk, Etabliertes in Frage gestellt wird, wenn so eins sich undankbar zeigt gegenüber dem, was doch nur zum eigenen Besten auferlegt wurde. Frech und unverschämt also die Bestrebungen der neuen griechischen Regierung, sich den Vorgaben von EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds nicht weiter widerspruchslos zu fügen.

Bestenfalls Kopfschütteln ruft derart aufmüpfig vorgetragene Unvernunft hervor, gefolgt von den üblichen Ermahnungen: der Sparkurs sei ohne Alternative, Privatisierungen sowieso und Vereinbarungen schließlich dazu da, um eingehalten zu werden. Da wissen sich die Staatstragenden einig mit der veröffentlichten Meinung (vom sogenannten Qualitätsmedium bis zur Gratisgazette) und den vereinigten Stammtischen. Zusehends ringen die Politprofis und Kommentatoren um Geduld mit den renitenten Südländern, wenn auch noch kaum einer offen „nach dem Psychiater“ (J. Fleischhauer, der uns im Spiegel Online vom 10. März an seiner Diagnose teilhaben lässt) rufen mag, wo es hier doch ganz offensichtlich an „Wirklichkeitsbezug“ mangelt.

Realitätsverweigerung wird denen attestiert, die im Verlust von Lebensperspektiven, in massenhafter Prekarisierung, im Entzug selbst geringfügiger sozialer Errungenschaften die Grenzen des Zumutbaren überschritten sehen. Und noch diejenigen, die Verständnis artikulieren, beeilen sich besorgt, den Blick auf die Tatsachen einzufordern. „Regieren ist ein Rendezvous mit der Realität“, weiß Wolfgang Schäuble, ganz langgedienter Veteran, und in diesem Punkt widersprechen wir ihm gar nicht. Über das Regieren ist damit fast alles gesagt, zu den gegenwärtigen Verhältnissen nichts Gutes.

Mit ihrem Programm bleiben Tsipras & Co. freilich ebenso in der Realität – also der obligatorischen Selbstaufopferung im Dienste marktwirtschaftlicher Verwertung – befangen wie die Amtsführenden und -anwärterInnen andernorts. Was da als „radikal“ wie der Teufel an die Wand gemalt wird, kann gerade mal als hilflos keynesianischer Wiederbelebungsversuch bezeichnet werden, ein „europäischer New Deal“ verbunden mit dem Gelöbnis in Zukunft nie („Nie!“) wieder über die Stränge zu schlagen. Immerhin – sie pochen auf genügend Spielraum, wenigstens die ärgsten Härten für die Bevölkerung zu dämpfen. So weit zeigt das in die richtige Richtung. Immerhin. Allerdings: Verhaltene Wendemanöver unter lauter Geisterfahrern verbessern nicht eben die Überlebenschancen der Beteiligten. Also: „Runter von der Autobahn!“ und das schnellstmöglich.

Die unselige Gewohnheit, ein auch nur einigermaßen menschenwürdiges Auskommen an den Erfolg eines reinen Selbstzweckunternehmens (nämlich aus Geld mehr Geld zu machen) zu knüpfen, vernebelt die Köpfe. So vollständig, dass ein Hinterfragen erst gar nicht in den Sinn kommt. So selbstverständlich, dass alle Verrücktheiten, die die kapitalistische Logik produziert, als Sachzwänge akzeptiert und vor jedes Bedürfnis gestellt werden.

Die Vorgaben von Ware und Wert schaffen Fakten. Sie erst formen, was uns als Realität tagtäglich konfrontiert und wir fortgesetzt reproduzieren. „Das Gesetz, nach dem die Fatalität der Menschheit abrollt, ist das des Tausches.“ Die herrschende Realität bleibt, solange wir danach handeln, tatsächlich unhintergehbar. „Der Tauschwert, gegenüber dem Gebrauchswert ein bloß Gedachtes, herrscht über das menschliche Bedürfnis und an seiner Stelle; der Schein über die Wirklichkeit. Insofern ist die Gesellschaft der Mythos und dessen Aufklärung heute wie je geboten. Zugleich aber ist jener Schein das Allerwirklichste, die Formel, nach der die Welt verhext ward.“ (Theodor W. Adorno, Soziologie und empirische Forschung, 1957)

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