Nachsommer der wehrhaften Demokratie

von Peter Klein

Anlass für den folgenden Text ist eine Meinungsverschiedenheit bezüglich des Ukrainekriegs, die im Herbst 2022 bei einem Telefongespräch mit Franz Schandl zutage trat. Meine unzweideutige Parteinahme für die Ukraine (einschließlich der westlichen Waffenlieferungen) wurde mir als Parteinahme für die „westliche Demokratie“ ausgelegt. Ich hätte, so Franz Schandl, meine kritische Haltung zur Demokratie verändert. Die folgenden Seiten sind in diesem Sinne eine Art Verteidigungsschrift. Die Demokratie wird hier, wie seit je in meinen Texten, als Diktatur dargestellt, und zwar als Diktatur in höchster Vollendung: als die ganz und gar unpersönlich funktionierende Herrschaft einer gesellschaftlichen Fetischform, nämlich der des (ökonomischen) Wertes, die im freien Individuum der modernen Demokratie die zugehörige Subjektform besitzt. Die Abstraktion von allen stofflichen Gegebenheiten hat es hier zu einem selbständigen Dasein gebracht, das als objektiv geltender Imperativ auftretend die stofflich-sinnliche Welt nicht nur vergewaltigt, sondern zunehmend sogar zerstört. Angesichts der Verschleißerscheinungen, die sich beim modernen Individuum und seiner Demokratie längst schon bemerkbar machen, ist die Kritik ihres fetischkonstituierten Wesens hoch an der Zeit. Sie hat aber wenig Chancen durchzudringen, solange die Identifikation mit politischen Großsubjekten à la „westliche Demokratie“ und „russisches Imperium“ im Vordergrund des Geschehens steht. Auch deswegen, nicht nur wegen des menschlichen Leids, das sie verursacht, wünsche ich der russischen Aggression das baldige Scheitern.

I.

Unter dem Prozess der Demokratisierung verstehe ich jene Formgebung des abendländischen Menschen, die als Aufklärung und Modernisierung schon seit der frühen Neuzeit abgelaufen ist. Eingemeindung in die Subjektform des Wertes, könnte man sagen. Vereinheitlichung der Welt in dieser überall gleichen gesellschaftlichen Form: abstrakte Vergesellschaftung. Es ist also ein epochaler Prozess, von dem hier die Rede ist, den man, wie etwa Hegel es tut, der dafür seinen „Weltgeist“ in Anspruch nimmt, auch schon mit Sokrates beginnen lassen kann. In der „Dialektik der Aufklärung“ steht jener „erste Wilde“ vorn dran, der damit anfing, die Welt mit einem „kalkulierenden Blick“ zu betrachten. Eine Variante Robinsons, meine ich, und insofern zur Aufklärung gehörig.

Im engeren Sinne handelt es sich aber natürlich um die Herstellung des modernen Rechtsstaates, der als sein Pendant die freie und gleiche Rechtsperson als Ansprechpartner sowohl voraussetzt als auch erzeugt. Grundlage ist natürlich die Verallgemeinerung der Warenproduktion im Zusammenhang mit der freien Lohnarbeit und dem Kapitalismus. Unmittelbar lässt sich daraus keine Handlungsanweisung ableiten. Es lässt sich nur zeigen, dass Demokratie und Kapitalismus keine der „Natur“ oder dem „Menschen“ innewohnenden Notwendigkeiten sind, sondern geschichtliche bzw. gesellschaftliche Phänomene mit Aufstieg, Höhepunkt/Blütezeit, Niedergang. Die Gefahr hierbei: dass man „gegen“ die Demokratie und den Kapitalismus ist, dabei aber jene Denkform anwendet, die selbst noch der entsprechenden gesellschaftlichen Formation angehört. Es kommt dabei eine (unvermittelte) „Kritik“ heraus, die sich, ihrer eigentlichen Absicht entgegen, um das immer noch weitere Vorankommen der abstrakten Vergesellschaftung (also von Demokratie und Kapitalismus) verdient macht, indem sie eben jenes „Wollen“ betreibt, das für die Subjektform des Wertes kennzeichnend ist. Jenes Wollen also, das auf dem Markt und im Warenverkehr seinen Platz hat. Es ist dann das „Wollen“ oder auch „Nicht-Wollen“ von etwas, das eben kein Etwas im Sinne eines umschriebenen Gegenstandes oder Projektes ist, das vielmehr in den Verhaltensweisen, Sitten und Gewohnheiten von Millionen von Menschen liegt; in ihrer Lebenspraxis also, in der sich der Stand der Produktivkraftentwicklung äußert.

Dieses Wollen der selbstverantwortlichen Rechtsperson (zu dem der Staat und die Sphäre der Politik als die logisch notwendige komplementäre Ergänzung gehören), hat – als Freiheit, freier Wille – die Tendenz, sich von der Sphäre der existentiellen Bedürfnisse loszureißen und sich als ein eigener Wert zu etablieren, für den man sogar bereit ist, die eigene Existenz aufs Spiel zu setzen bzw. zu opfern. Verwandtschaft mit der Religion, mit Gottes Gebot etc. Es ist zu unterscheiden von jenem anderen Wollen, für das man Synonyme wie Mögen, Brauchen, Benötigen, Sehnen, Lieben etc. einsetzen kann, und das auf konkrete, handgreifliche Ziele gerichtet ist, bei denen es erlaubt ist, sie gegenständlich (oder physisch/physiologisch) zu denken: als Gegenstände möglicher Erfahrung, was moralische oder Rechtsnormen, die sich zur empiristisch gedachten Welt apriorisch verhalten, nicht sein können. Dass sie sich apriorisch verhalten, liegt natürlich daran, dass sie in den praktischen Verhaltensweisen der entsprechend disponierten Menschen (Warenbesitzer) wurzeln, in Verhaltensweisen, die zu Verhältnissen geronnen sind, von deren Herkunft diese Menschen nichts wissen – obwohl sie selbst es sind, die sie produzieren.

Vermutlich kann man mehrere Schübe der Entwicklung voneinander unterscheiden. Bei mir geht es um die Herausbildung des modernen/demokratischen Kapitalismus. Dabei unterscheide ich zwei Abschnitte oder Phasen: 1. Die liberale Phase, die mit dem aufgeklärten Absolutismus anfängt, und 2. die demokratische Phase, die, nach einem ersten Vorschein im Jahr des Terrors 1793/94, im Weltmaßstab wohl mit den beiden Weltkriegen und den Regimen der Massenaffirmation zum Durchbruch gekommen ist: Demokratische Weltrevolution. Mäßigung dieser Revolution in der modernen rechtsstaatlichen Demokratie, Synthese (bzw. Austarieren) von apriorischer Struktur (Verfassung) und populistischer Stimmung (Wahlen).

II.

Die erste Phase könnte man als die theoretische Phase der Demokratisierung bezeichnen. Es geht vornehmlich um das Gesetz als solches. Der Appell der Ideologen/Theoretiker wendet sich an die Einsicht der „vernünftigen Wesen“, sie mögen sich um ihrer persönlichen Freiheit willen als dem Gesetz unterworfen betrachten, nicht aber dieser oder jener Person, die lediglich einen empirischen bzw. historisch entstandenen Anspruch auf ihre Befehlsgewalt/Herrschaft besitzt (Gottesgnadentum). Das bürgerliche Bewusstsein kommt sich hier sozusagen selbst auf die Schliche, jedenfalls auf dem Niveau der Kant’schen Philosophie, die ausdrücklich die (verselbständigte) Abstraktion als solche, nämlich die reine Form des allgemeinen Gesetzes überhaupt, zum Dreh- und Angelpunkt der bürgerlichen Freiheit erklärt. In diesem Sinne kann man durchaus von Theorie, nicht bloß von Ideologie sprechen.

Von diesem Niveau aus war es dann auch für Marx möglich und naheliegend, mit der Kritik der abstrakten Vergesellschaftung zu beginnen: Das allgemeine Gesetz wendet sich an alle „vernünftigen Wesen“ (das sind solche, die sich eines eigenen Willens bewusst sind) gleichermaßen und setzt sie (eben darin) als voneinander frei und unabhängig voraus. Freiheit und Gleichheit wiederum, diese abstrakten Leitsterne der bürgerlichen Revolution, sind Momente eines im Zuge des Warentausches unterlaufenden bzw. praktizierten Verhaltens. Im Vollzug des Tausches, der logischerweise nur freiwillig erfolgen kann, erkennen sich die Tauschpartner wechselseitig auch als gleichrangig an. „Gleichheit und Freiheit sind also nicht nur respektiert im Austausch, der auf Tauschwerten beruht, sondern der Austausch von Tauschwerten ist die produktive, reale Basis aller Gleichheit und Freiheit“ (Grundrisse, S. 156). Darin wird ein Verhalten fixert, das, zum Verhältnis geronnen, dem „Menschen“ um so mehr und um so selbstverständlicher als eine „unveräußerliche Eigenschaft“ zugerechnet wird, je mehr sich die Marktbeziehungen verdichten und ausdehnen. Der Kapitalismus, mit dessen Entwicklung die Verallgemeinerung der Marktbeziehungen einhergeht, bringt obendrein noch das Kunststück fertig, dass er, während er uns und den größten Teil der Erdbevölkerung in die gesellschaftliche Form des vereinzelten Warenbesitzers kleidet, die Produktion unmittelbar zu einer Sache der (inzwischen global dimensionierten) Gesamtgesellschaft macht, wodurch der stoffliche Grund der Warenproduktion, voneinander getrennte Produktionseinheiten, entfällt und die Warenform selbst untergraben und obsolet wird. Während sie sich allererst durchsetzt (als die objektiv wirksame und wirksam werdende Metaphysik der modernen Welt – die Wertvergesellschaftung), verliert sie ihre stoffliche Grundlage. Auch dieses Paradox konnte Marx bereits zu seiner Zeit formulieren. Freilich nicht, wie sich das „Obsoletwerden“ konkret anfühlen und gestalten wird. Das festzutellen ist unsere Sache, die Sache der Nachgeborenen.

Politisch ist die liberale Phase schwach auf der Brust, gleichsam als nihilistisch einzustufen. Welches Personal sich um den Standpunkt der abstrakten Allgemeinheit bzw. der Gesetzesherrschaft verdient macht, ist mehr oder weniger gleichgültig. Es muss nur aufgeklärt sein, sollte kein primitiver Rabauke sein, der die Herrschaft vor allem zur persönlichen Vorteilsnahme benützt. „Erster Diener des Staates“ ist die Devise Friedrichs II. von Preußen, des alten Fritz. In diesem Sinne hat der freiheitlich gesinnte Bürger des 18. und 19. Jahrhunderts kein Problem mit der Monarchie und den angestammten Sachwaltern der Allgemeinheit. Sie sind mit der rule of law à la Locke und Montesquieu ohne weiteres vereinbar. Der Bürger kennt nur private Ziele, auf die sein Wille sich richtet. Die allgemeine Wohlfahrt sollte sich dann von alleine ergeben, man muss ihr nur ihre auf dem Markt sich bewährende Freiheit (vor allem vom religiösen Dogma) lassen. Weil sie historisch (Mittelalter), metaphysisch (Gottesgnadentum) und auch ökonomisch (landed interest) aus einer anderen Sphäre kommen als der bürgerliche Gewerbefleiß, sind die traditionellen Dynastien gut dafür geeignet, das Ganze und die Einheit des jeweiligen Staatswesens zu repräsentieren. Sie scheinen über dem Dschungel der bürgerlichen Interessengegensätze zu stehen, „über den Parteien“, wie es bei Wilhelm II. heißt. Vereinzelt haben sich solche Dynastien – etwa in der britischen, niederländischen, dänischen etc. Monarchie – denn auch bis in die Zeiten der modernen Massendemokratie hinübergerettet. Ursprünglich wollten auch die USA einen König an die Stelle der verselbständigten Allgemeinheit setzen. Der Präsident ist als Institution dem Monarchen jedenfalls nachempfunden – nur eben, dass er zeitlich begrenzt regiert.

Das Handicap des Liberalismus, das er in den Augen der Demokraten besitzt: Er stützt sich empirisch auf den gebildeten Bürger, der eben auch der wohlhabende und besitzende Bürger ist. Der Demokrat aber hat den „Menschen überhaupt“ im Blick oder, wie es bei Eduard Bernstein heißt: das „Individuum überhaupt“. Solche Kategorien, die sich zur erfahrbaren Wirklichkeit „transzendental“ verhalten, um den Kant’schen Ausdruck zu gebrauchen, gehören freilich in die Metaphysik unseres ach so gottfernen Zeitalters. In der Epoche des Liberalismus sind „Besitz und Bildung“ die Bedingungen, die zur Teilnahme an der Gesetzgebung berechtigen. Sie befinden sich näher an der Empirie, besitzen also einen geringeren Abstraktionsgrad als jene „Überhaupts“. Daher die schmale soziale Basis der entsprechenden Vertretungskörperschaften, in die sich die „Massen“ übrigens keineswegs hineindrängten. Es gab sie im Sinne der „industriellen Arbeiterheere“ schlicht noch nicht.

III.

Die zweite Phase ist die demokratische „Vollendung“ des Liberalismus. Die Frage, wer die Gesetze gibt, rückt hier in den Vordergrund. Das Volk soll der Souverän sein. Die Gesetzesform als solche ist gegessen, aber es wird schludrig damit umgegangen. Welches soziale Phänomen gesetzlich sanktioniert (in den Rang der Allgemeingültigkeit erhoben) wird, wird zunehmend beliebig, wird zu einer Frage der Zweckmäßigkeit. Hauptsache, die empirische Allgemeinheit steht dahinter, die „Massen“. Wobei die „politische Macht“ und der „soziale Frieden“ die entscheidenden Kriterien sind. Ein pragmatisches Abrücken also von der „Allgemeinheit als solcher“, somit auch ein Abrücken von dem Bewusstsein, dass man es hier mit Metaphysik, mit einer verselbständigten Idee oder Abstraktion zu tun hat. Bestandteil der Abstraktion zu sein, nämlich freie und gleiche Rechtsperson, ist die quasi objektive Eigenschaft aller Menschen geworden, woraus sich die Tendenz zur empiristischen Verflachung im Umgang mit der Kategorie der Allgemeinheit ergibt. Als empirisch aufgefasste ist die Allgemeinheit angeblich nicht mehr verselbständigt. In diesem Sinne ist dies die eigentlich ideologische Phase der bürgerlichen Vergesellschaftung. Der theoretischen Kategorie des allgemeinen Gesetzes wird das „Volk“ (Klasse, Rasse) als bloß empirische Allgemeinheit untergeschoben. Und das bringt sich in seinen Stimmungen zur Geltung. Statt „Diener des Staates“, heißt es jetzt: „Dem Volke dienen“. Und gegen diese Maxime fällt dem empirisch-realen Volk üblicherweise nichts ein. Der politische Führer, der seine Maßnahmen im „Namen des Volkes“ ergreift, ist darin und so lange gerechtfertigt, wie diese Maßnahmen empirisch-faktisch akzeptiert und durchgeführt werden. Das Volk ist „dafür“, weil es nicht opponiert. Da jegliche abweichende Meinung zunächst von Einzelnen vorgetragen wird, trägt sie immer schon das Stigma der „Minderheit“ an sich, und die ist per se eine gegen die „Massen“ begangene Sünde, kann also, wenn es dem Machthaber gefällt, als ein am „Volk“ begangener „Verrat“ dargestellt werden.

Paradoxerweise lief diese theoretische Verhunzung der „Allgemeinheit“ als eine theoretische „Vertiefung“ ab. Von der grandiosen Entdeckung, dass Bildung und Besitz lediglich bei einer Minderheit der Bevölkerung anzutreffen sind, die ihre rechtlich und politisch privilegierte Stellung für ihr privates Wohl verwendet, das mit dem Allgemeinwohl eben nicht unmittelbar und automatisch identisch ist, wird viel Aufhebens gemacht. Im Namen der Allgemeinheit (kategorisch) werde die Allgemeinheit (empirisch) vom Staat und der Gesetzgebung ferngehalten. Dieser „Skandal“ wird als Anklage vorgetragen und im Ton des Entlarvens: nämlich der „Bourgeoisie“ (bzw. des „Judentums“). Es gibt jetzt (moralisch) Schuldige, die sich dem Glück der Massen in den Weg stellen. Gott, in dessen Ratschluss man sich fügen muss, hat abgedankt. Der menschliche Wille entscheidet, und er hat die Tendenz, zum „politischen Willen“ zu werden. Der „böse Wille“ der Bourgeoisie, vom privaten Egoismus gesteuert, muss durch den „guten Willen“ des Volkes ersetzt bzw. niedergekämpft werden. Denn das Volk – bei Rousseau noch der Counterpart des Adels – steht dem Allgemeinwillen (= Gesetz) nicht nur nahe, es ist der Allgemeinwille, jedenfalls dem „Wesen“ nach. Offene Flanke zum Populismus und Voluntarismus.

Aber die dieses Aufheben machen, täuschen sich. Folglich werden sie von der tatsächlichen Entwicklung enttäuscht. Sie übersehen, dass die „eigentumslosen Massen“, denen sie die wahre und echte „Freiheit und Gleichheit“ verheißen, als freie Lohnarbeiter:innen sehr wohl Eigentümer sind, Privateigentümer ihrer Arbeitskraft. Auch diese Sorte von Eigentümern besitzt, wenn sie sich denn entfaltet, einen Willen, der auf den Privatvorteil gerichtet ist. Und dieser in Massen auftretende Privatwille ist – bei dem geringen Radius seines Interesses (Lohninteresse, gewerkschaftliche Beschränktheit) – erst recht auf seine komplementäre Ergänzung, den staatlichen Allgemeinwillen, angewiesen. Das ist der wesentliche Gehalt von Lenins „Was tun?“. Hinter dem Rücken der bloß als Empirie behandelten Allgemeinheit, die vornehmlich qua Stimmung in Erscheinung tritt (Populismus, Kampagnen- und Stimmungsdemokratie), macht sich also sehr wohl die abstrakte Allgemeinheit geltend und der abstrakte millionenfache Mensch, der eine Rechtsperson zu sein beansprucht. Sie bereiten sich „insgeheim“ auf ihren Auftritt vor, und der wird in dem Maße immer wahrscheinlicher, in dem die Ware-Geld-Beziehung und die entsprechende „Marktgesellschaft“ um sich greifen. Trotz aller historischen Metaphysik und Gläubigkeit, deren lautes Getöse nur den Vordergrund und die Fassade dieser Entwicklung abgeben.

Die freie Lohnarbeit ist während der demokratischen Weltrevolution also erst noch auf dem Weg. Man springt nicht mit einem Satz in die Abstraktion (Karl Mannheim). Daher ist Platz für jede Menge Bilder und Vorstellungen, was die Massen, wenn sie erst einmal der „wahren“ Freiheit und Gleichheit teilhaftig und gewärtig sein werden, für Wunderdinge zu vollbringen imstande sind. Die „Zukunft“ (Futurismus) wird zum Schlagwort der Stunde, alle sind auf „Bewegung“ und „Entwicklung“ gestimmt. (Hier hat auch die Bloch’sche „Ontologie des Noch nicht“ ihren Platz und sein „Geist der Utopie“, die noch ganz auf der Linie der – bislang noch nicht erfolgten – „Verwirklichung“ von Freiheit und Gleichheit liegen.)

Aber es muss natürlich die Bewegung in die richtige Richtung sein. Die Lücke, die zwischen der verachteten (und missachteten) Gegenwart und der glorreichen Zukunft liegt, wird mit Konzepten und Plänen ausgefüllt. Der Glaube an den Willen, ursprünglich eine Sache der Privatsphäre, die der Liberalismus von der Politik möglichst frei gehalten wissen wollte, begibt sich, indem er diese Konzepte und Pläne zu verwirklichen trachtet, selbst auf die Ebene der Politik bzw. der Allgemeinheit. Er wird zum „politischen Willen“, der sich als verselbständigte Abstraktion gerade darin erweist, dass er meint, die Gesellschaftsformation, der er selbst ja angehört, auf beliebige Weise modeln zu können. Die einen „wollen“ den Kapitalismus, die anderen den Sozialismus. Beide Ismen werden dabei verdinglicht gedacht, der Subjektform des freien Willens angemessen. Gerade das russische Beispiel zeigt uns einen „politischen Willen“, der, nachdem er anfangs Rückhalt bei den Produktivkräften des am weitesten fortgeschrittenen Kapitalismus gesucht hatte, im weiteren Verlauf ganz auf sich selbst zurückgeworfen wird. An die Stelle der Produktivkraftentwicklung, die die auf der Warenform beruhenden Produktionsverhältnisse sprengt bzw. aushöhlt, tritt der „Wille“, der sich einbildet, dass die staatliche Verkündung und der staatliche Befehl der „richtigen Produktionsverhältnisse“ die ausschlaggebenden Kriterien sind. Die „entwickelten Produktivkräfte“ sind jetzt bloß noch eine Sache des Bekenntnisses, des energischen Wollens. Und was es zur Umsetzung dieses Wollens braucht, sind die entsprechenden Charaktereigenschaften: Treue zur Überzeugung, Festigkeit und Beharrlichkeit beim Durchführen der allzeit „dem Volke dienenden“ Maßnahmen. Und die stellt man dadurch unter Beweis, dass man rücksichtslos für die große Sache der Zukunft eintritt.

Wenn aber der politische Wille das ausschlaggebende Kriterium für das Vorantreiben der Produktion und der Produktivkräfte ist, dann lassen sich dabei etwa auftretende Verzögerungen oder Rückschläge sehr schnell auf das Fehlen dieses Willens zurückführen, sogar auf einen der großen Sache des Volkes feindlich gesinnten Willen, der bestrebt ist, den von der politischen Führung vertretenen Aufbauwillen zu sabotieren. Der entsprechende Verdacht steht jedenfalls im Raum. Und ein solcher feindlicher Wille muss natürlich bestraft und unschädlich gemacht werden. Wobei die Strafe um so härter und um so brutaler ausfallen wird, je weniger gefestigt und alteingesessen die betreffende Staatsmacht ist. Das kann man schon bei Hegel nachlesen. Die Trennung von Politik und Ökonomie, wie sie der „Bourgeois-Liberalismus“ des 19. Jahrhundert vertrat (Benjamin Constant, Cobden etc.), wird hier in der Tat aufgehoben, allerdings nach rückwärts, im Sinne der vorbürgerlichen Zwangsarbeit und Staatssklaverei. Dass die so entstehende Atmosphäre von Angst und Schrecken der Produktivkraftentwicklung günstig gewesen ist, wage ich zu bezweifeln. Mehr als eine – letztliche erfolglose – Nachahmung des fortgeschrittenen Kapitalismus („nachholende Modernisierung“, R. Kurz), ist dabei bekanntlich nicht herausgekommen.

Jedenfalls zeigt uns das russische Beispiel einen personalisierten Klassenkampf, der nach dem Muster der Terrorjahre der Französischen Revolution gestrickt ist: mit jeder Menge Verdächtigungen, Verschwörungsängsten und Verratsvorwürfen. Untrügliches Indiz für den bürgerlichen Charakter dieser Revolution. Marx, der in den handelnden Personen lediglich Charaktermasken sah, in denen sich die Regieführung durch die ökonomische Funktion ebenso verbirgt wie äußert, teilte die personifizierte Auffassung des Klassenkampfes in keiner Weise. Das zeigt auch seine Bemerkung zur Zehn-Stunden-Bill von 1847, die er als einen „Sieg des Proletariats“ bezeichnet. Empirisch-faktisch war dieses Gesetz aber das Werk der Tories gewesen, die den Adel und den Großgrundbesitz vertraten. Ein Lord, nämlich Lord Ashley, war über viele Jahre hinweg der unermüdliche Promoter des Gesetzes gewesen – in der Marx’schen Lesart somit ein Interessenvertreter des Proletariats. (Tatsächlich natürlich ein erster Schritt zur Systemwerdung des Kapitalismus.)

Demokratietheoretisch handelt es sich bei der unmittelbar „dem Volke dienenden“ Staatsmacht um das, was Bracher als „identitäre Demokratie“ bezeichnet. Die Staatsmacht behauptet, dass sie unmittelbar mit dem Willen bzw. dem Interesse des (empiristisch aufgefassten) „Volkes“ identisch ist. Dieses „Volk“ bzw. diese Staatsmacht steht über den Gesetzen, kann Gesetze machen, wie es ihm oder ihr gerade einfällt, wie es in der gegebenen Situation gerade opportun ist. Die Maßnahmen der Regierung sind immer gesetzeskonform, das Gesetz ist, anders als in der liberalistischen Theorie (Rechtsstaat), kein Schutz gegen die Staatsmacht, es kann kein Rechtsmittel gegen ihre Maßnahmen eingelegt werden. Daher auch „absolutistische Demokratie.“ Das Vollbild sind natürlich die verschiedenen Faschismen und nationalen Sozialismen, wobei mir der Stalinismus ein in die Länge gezogenes 1793/94 zu sein scheint.

IV.

Kurz gesagt: was heute als politische Diktatur, als Autokratie und Totalitarismus bezeichnet wird, sind nach meinem Verständnis unreife Formen der modernen Demokratie, Entwicklungsphasen, die im besten Falle zu ihr hinführen, oft aber auch im Stadium der Unreife steckenbleiben bzw. steckengeblieben sind. Was nichts anderes heißt, als dass Momente persönlicher Herrschaft und Gefolgschaft noch eine nennenswerte Rolle spielen: Neofeudalismus, Mafiastruktur. Denn das Vollbild der modernen rechtsstaatlichen Demokratie kann es nur zusammen mit der voll entfalteten Ware-Geld-Vergesellschaftung geben, zusammen mit der voll entwickelten Marktgesellschaft, die den erfolgreich funktionierenden, nämlich immerzu expandierenden Kapitalismus zu ihrer Voraussetzung hat. Nur hier ist die Form des Interesses in allen gesellschaftlichen Sphären die gleiche, nur hier sind die Menschen rechtlich und mental derart gleichgeschaltet, dass ihr Verhalten an den überall gleichen Vorstellungen von Erfolg und Aufstieg orientiert ist, dass sie den gleichen Impuls zur Bewegung besitzen, der sie dazu drängt, ihre Arbeitskraft zu qualifizieren, um sie besser verkaufen und in den vorhandenen Strukturen fleißig, strebsam, ehrgeizig etc. einsetzen zu können – immer in dem (mehr oder weniger deutlichen) Glauben, dass sie dabei auf „eigene Rechnung“ agieren, dass sie „für sich selbst“ verantwortlich sind und in freier Selbstverantwortung ihr „eigenes Leben“ gestalten. „Erziehung zur Freiheit“ ist zum nachgerade unhinterfragbaren Generalnenner der pädagogischen Schulen geworden. Was der historische Totalitarismus nur meint und beteuert und mit äußerer Gewalt und Denkvorschriften durchzusetzen bestrebt ist, die „Einheit des Volkes“, ist hier, im Schlaraffenland der „Chancengleichheit“, zur funktionierenden Realität geworden. Die Subjektform des Wertes, das von der Erfahrungswelt abgekoppelte „Ich“ des Ware-Geld-Individuums, herrscht derart total, dass sie zur objektiven Voraussetzung jeglichen Denkens und Strebens geworden ist.

Gerade in der Totalität dieses Herrschens geht den Beherrschten das Bewusstsein davon (beherrscht zu werden) verloren. Rousseau: Die Sklaven verlieren in ihren Ketten alles, sogar das Bedürfnis, sie abzuwerfen. Das ist das Geheimnis der „westlichen Freiheit“, die, weil sie rein zu einer Sache des praktischen Funktionierens geworden ist, auch die Befreiung von jeglicher verbindlichen Ideologie in sich zu schließen beansprucht. Auch auf dem Felde der Ideologien und Glaubensbekenntnisse soll – wie überall sonst in der Warenwelt – das Prinzip der dem abstrakten Ich freistehenden Wahl gelten. Die bunte Oberfläche dieser Warenwelt verdeckt die Immergleicheit der Konstellation, in der sich das abstrakte Individuum befindet. Sollte es (bzw. das, was von diesem Ich unterdrückt wird) aller Freiheit zum Trotz (und sie „missbrauchend“) einen Ausbruchversuch unternehmen, indem es sich ausschließlich und mit existentiellem Ernst an eine bestimmte Ware oder eine bestimmte Ideologie bindet, lautet die Diagnose „Sucht“ oder „religiöser Wahn“ oder „Extremismus“ – und es wird darüber diskutiert, ob man den betreffenden „Fall“ eher als krankhaft oder als kriminell einzustufen hat. Und natürlich gibt es immer auch die „Ursachenforschung“. Aber auch dann, wenn das abstrakte Individuum die Umstände und die „gesellschaftlichen Verhältnisse“ in Rechnung stellt, kommt es nicht über sich hinaus. Es betrachtet, sich selbst immer schon voraussetzend, „die Gesellschaft“ auf äußerliche, instrumentelle Weise, wie etwas, das ihm gegenübersteht und das wie ein Werkstück zu behandeln und zu reparieren ist. Dass der Kapitalismus bereits in ihm selbst, in dem abstrakten Warenbesitzer-Ich, anwesend und wirksam ist, sieht es nicht, kann es seinem abstrakten Wesen entsprechend nicht sehen.

Ist dies ein Grund zu verzagen? Natürlich nicht. So wie der Kapitalismus insgesamt, hat auch das abstrakte Ich nur eine historisch begrenzte Lebensdauer. Solange sein Instrumentalismus der Produktivkraftentwicklung diente und das Leben auf der Erde in Summe zu verbessern schien, gab es die optimistische Idee seiner Gesundheit und Normalität. Die Schmerzen, die die Herausbildung dieses Ichs und seiner Vernünftigkeit verursachten, schienen sich – historisch gesehen – zu lohnen (siehe etwa Freud oder auch Marx: aufsteigende Phase der Bourgeois-Epoche). Inzwischen ist die kapitalistische Produktion unübersehbar in Destruktion umgeschlagen und das abstrakte Ich hat mitsamt seinem Erfolgsstreben schwer an Ansehen verloren. Noch mehr Autos? Noch mehr Stromverbrauch für die Digitalisierung? Noch mehr Straßen, noch mehr Beschleunigung und Effektivierung von was auch immer? Wo man doch (scheinbar) zum Leben nur Geld benötigt? Und wird das nicht – als Fiat-Geld – eh von den Zentralbanken „erzeugt“ oder von den Kryptos in beliebiger Menge „geschürft“? Die Zweifel, dass es sich lohnt, für mehr von dem Immergleichen zu schuften und auf das „eigentliche Leben“ zu verzichten (wie es in der Ratgeberliteratur heißt), mehren sich jedenfalls. Siehe den Fachkräfte-Mangel. (Der Hausarzt meiner Mutter etwa hat seine Praxis 2020 plötzlich und aus vollem Lauf heraus zugemacht: um sich endlich einmal „um sich selbst“ und sein Privatleben zu kümmern.)

Das Geldmotiv ist bei allen Projekten und auf allen gesellschaftlichen Ebenen rein als solches in den Vordergrund getreten. Voraussetzung dafür, dass sich ein kritisches Verhalten dazu aufdrängt und verbreitet. Dass es um immer noch mehr „Freiheit und Lebensgenuss“ gehe, ist rhetorische Schminke, die auf dem alt gewordenen Gesicht des Kapitalismus nicht mehr so recht haften mag. Dergleichen Phrasen werden von den Protagonisten des Systems genauso routinemäßig abgespult, wie es die Funktionäre der späten DDR mit der „unverbrüchlichen Freundschaft zur Sowjetunion“ gemacht haben. Wer glaubt noch an einen Fortschritt, der von „Genies“ in der Art eines Elon Musk propagiert wird? Damit kann nur der Fortschritt der Aktienkurse gemeint sein. Gefühle von Sinnverlust und Perspektivlosigkeit machen sich breit, die Menschen leiden unter allen möglichen seelischen Defekten von der Depression bis zum Burnout-Syndrom. Man möchte dem abstrakten Ich entkommen und flieht in religiöse Sekten und verschiedene andere Rauschmittel, durch die man qua „Bewusstsein“ an der täglichen Misere etwas ändern zu können hofft. Auch hinter dem Selbstmord, jährlich hundertausendfach verübt, steckt häufig, wie ich jüngst gelesen habe, der „Antrieb, sich selbst entfliehen zu wollen“ (SZ vom 22.07.2023).

Was uns die Krise des Kapitalismus im Großen zeigt, vom Klimawandel und der Vermüllung der Ozeane bis zur millionenfachen Flucht aus Armut und Krieg, schlägt durch auf die Ebene des einzelnen Individuums, dem der Aufstiegswille ebenso wie der Glaube an die Zukunft abhanden gekommen sind. „Zukunftsangst“ ist das Schlagwort, mit dem die in der westlichen Welt verbreitete Mentalität häufig charakterisiert wird. Der Kapitalismus ist zum allumfassenden System geworden, und das richtet auf allen Ebenen seines Erscheinens, oben wie unten, Schaden an. Um darauf zu kommen, braucht es keine übermäßige Anstrengung des Begriffs. Die Rede vom „System“ kursiert in „rechten“ wie in „linken“ Kreisen. Die einen wollen es retten, indem sie – zunehmend hilflos – die „Werte“ der Demokratie und der individuellen Moral beschwören (oder mittels „Wokeness“ auf die Spitze treiben), die anderen wollen zurück zu ihm, wie es – angeblich – früher einmal war, als es noch „Heimat“ gab und keine Globalisierung. Und die es zerstören wollen, kapieren nicht, dass sie sich in der Abwehr jeder Allgemeinheitszumutung, die sie immer schon als „Diktatur“ und „staatlichen Eingriff“ denken, als genau die abstrakten Individuen erweisen, die überhaupt nur zusammen mit dem totalen Staat haben entstehen können.

Einen Ausgang aus dem Kapitalismus kann aber das Systemdenken so oder so nicht weisen. Die Zerstörungen, die der Kapitalismus anrichtet, haben zwar eine allen gemeinsame Ursache, und wie im Falle des Krieges (der für den Existentialismus à la Carl Schmitt den „Grund“ des Staates lieferte) sind auch alle Menschen direkt und unmittelbar in ihrer stofflichen Existenz davon betroffen, die Bewältigung der Schäden selbst kann aber nicht allgemein sein. Es gibt dafür kein allgemeingültiges Rezept oder System, das so automatisch wirken würde wie die Notwendigkeit des Kapitals, sich zu vermehren. Die Maßnahmen, die zu ergreifen sind, können je nach Ort, Sachverhalt, Kenntnisstand und Möglichkeiten immer nur konkret sein. So konkret, wie das Leben und die Lebensformen vielfältig sind. Und genau in diese Richtung hat sich der öffentliche Diskurs ja längst entwickelt. Was wird nicht alles gewusst und vorgeschlagen, was zu tun oder zu unterlassen wäre, damit das Leben auf der Erde noch für ein Weilchen weitergehen könnte. Hier führen die Empirie und die empirischen Wissenschaften das Wort, die Politik mit ihren allgemeinen Gesetzen und ihren Machtspielen besitzt dafür keine Kompetenz, sie sieht blass aus daneben. Fürs konkrete Leben war sie noch nie zuständig. Und ihr Counterpart, das auf einen Punkt zusammengeschrumpfte Privatinteresse des Markt-Individuums hat das gleiche Handicap: Weil die Belange der Natur und des stofflichen Lebens das heilige Wachstum beeinträchtigen und Arbeitsplätze in der Industrie kosten würden, müssen die guten Wünsche Gerede bleiben – frommes Gerede. Beten wir mit dem Papst dafür, dass Gott die Menschheit erleuchten möge.

V.

So weit waren wir schon mal. Die verschiedenen Öko-Initiativen, die Klimaaktivisten, die ganze Bewegung, die im Namen der Materie dabei war, eine gewisse Rücksichtslosigkeit gegen die „wirtschaftlichen Zwänge“ an den Tag zu legen, sie lechzten förmlich danach, von den Illusionen, die sie in den „politischen Gestaltungswillen“ setzten, erlöst zu werden. Für einen nicht unerheblichen Teil der Bevökerung, vor allem für die junge Generation, stand das ganze auf der Verwertung des Werts basierende System am Pranger. Der Kapitalismus einschließlich Kryptowährungen und KI sah so deutlich wie noch nie nach Sackgasse aus – und in diese Situation hinein platzte der russische Überfall auf die Ukraine.

Mit einem Schlag stand „die Politik“ wieder ganz oben auf der Agenda, über geopolitische Machtverhältnisse wurde gefachsimpelt, die Rüstungsaktien stiegen und statt vom Kapitalismus wurde nur noch von der Demokratie geredet. Die „westliche Demokratie“ und ihre „Werte“ erstrahlten in neuem Glanz. Für die Kapitalismuskritik war dieser Anschlag des Herrn Putin und seiner Kamarilla zweifellos ein Unglück. Natürlich stellt er selbst ein Moment der kapitalistischen Krise dar: Eine Verliererregion, die noch ein gewisses Maß an staatlicher Funktionsfähigkeit (vor allem aber Atombomben) besitzt, wehrt sich. Aber sie wehrt sich nach rückwärts. Sie wehrt sich mit den ideologischen Mitteln der Vergangenheit, so dass wir nun wieder zwischen „nationalen“ und „imperialen“ Interessen zu differenzieren beginnen. Und sie wehrt sich mit einer Primitivität und Lügenhaftigkeit, neben der sich die amerikanische Begründung für den Einmarsch in den Irak wie das fein ziselierte Kunstwerk diplomatischer Raffinesse ausnimmt. Abu Ghraib ist vergessen, Butscha beherrscht die Schlagzeilen. Die NATO, vor wenigen Jahren totgesagt, gilt nun wieder als Schutzschirm der Zivilisation gegen die Barbaren aus dem Osten.

Und genau das ist für mich der Grund, dieser barbarischen Art von Gegenwehr den baldigen Kollaps zu wünschen. Genauso wenig wie im Falle Vietnams, das wir gegen den US-Imperialismus unterstützten, habe ich heute ein Problem damit, die Ukraine zu unterstützen und mich auf die Seite des „Westens“ zu schlagen. Das ist keine „prinzipielle“ Entscheidung für irgendeinen Ismus, sondern eine an die konkrete Situation gebundene. Das historische Resultat des Krieges steht ohnehin auf einem anderen Blatt als das, was die Staatenlenker jeweils „gewollt“ haben. Irgendwelche Erwägungen, ob die Ukraine „gut“ oder „schlecht“ ist, ob es dort korrupt oder rechtsstaatlich zugeht, spielen für mich keine Rolle. Sie sind sämtlich politischer Art – und von dieser Ebene der verselbständigten „politischen Subjekte“ ist schnellstmöglich wieder wegzukommen, darum geht es doch. Sie sind ein falsches Identifikationsangebot und hindern die gesellschaftlichen Individuen daran, mit der Aufklärung über sich selbst fortzufahren und voranzukommen. Wie seinerzeit die Oktoberrevolution die Köpfe verwirrte, das theoretische Denken lähmte und das, was einmal „Kritik der Politischen Ökonomie“ hieß, in einen Katechismus für den Glauben an das „Vaterland aller Werktätigen“ verwandelte, so blendet auch die im Abwehrkampf stehende Demokratie die Augen. Der Blick auf ihr ökonomisches Wesen ist erschwert, sie wird daran gehindert, ihre Krise, für die es ja auch das kritische Denken braucht, zu entfalten.

Die Befürchtung, dass der von mir gewünschte „Sieg des Westens“ zu einem irgend stabilen Zustand der weiteren friedlichen Kapitalakkumulation führen wird, habe ich nicht. Die Zeit, in der Fukuyama seine Illusion vom „endgültigen Sieg der liberalen Demokratie“ zum Besten gab, liegt auch schon wieder 30 Jahre zurück. Und die schwindelnde Höhe, in die der Kapitalismus seine per Fiat-Geld erschwindelte Akkumulation inzwischen geschraubt hat, mit Billionen von Dollars angeblicher Schulden, macht mich ziemlich sicher, dass der eigenartige Nachsommer, den die „wehrhafte Demokratie“ dank Putin heute erleben darf, nur von kurzer Dauer sein wird. Dass die Kritik des Wertes kein militärisches Unternehmen ist, sollte jedenfalls klar sein. Freilich kann es im Zuge oder im Gefolge eines solchen Unternehmens dazu kommen, dass diese Kritik auch einmal vom sogenannten Mainstream als dringlich empfunden wird.

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