Gegenwart und Geschichte

Ein Schlaglicht auf den Wahn, auf dem das postmoderne Bewusstsein basiert

von Emmerich Nyikos

„Durch die einfache Tatsache, dass jede spätere Generation durch die frühere Generation erworbene Produktivkräfte vorfindet, die ihr als Rohmaterial für neue Produktion dienen, bildet sich ein Zusammenhang in der Geschichte der Menschen, bildet sich eine Geschichte der Menschheit, die um so mehr die Geschichte der Menschheit ist, als die Produktivkräfte der Menschen und infolgedessen ihre sozialen Beziehungen sich vergrößert haben.“

(K. Marx, Brief an Annenkow vom 28.12,1946)

„Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte.“

(K. Marx / F. Engels, Die deutsche Ideologie)

„Die Urformel der Postmoderne ist das, was Goethe als Ursünde begreift. Also zum Augenblick zu sagen: ‚Verweile doch! Du bist so schön.‘ … Was man will, ist die ewige Gegenwart, damit Geschichte und Zukunft mit Gegenwart besetzt werden können. Das ist Dummheit oder Angst, oder beides.“

(H. Müller, Zur Lage der Nation)

1.

Man könnte den Eindruck gewinnen, als ob das postmoderne Bewusstsein in der Gegenwart, dem Punkt des Jetzt, vollständig aufgeht, ja darauf erpicht ist, darin aufzugehen – eine Sachlage, die darin sich äußert, dass man alles Denken und Handeln allein darauf bezieht: Es gibt die Gegenwart – und ansonsten nichts. Oder genauer gesagt: Es gibt die Gegenwart des Jetzt (die sich unendlich fortsetzt) und die vergangenen Gegenwarten, wobei die eine Gegenwart die andere fortlaufend ablöst. Demnach gibt es für dieses Bewusstsein eben nur aparte Gegenwarten, die der Natur der Sache nach aufeinanderfolgen, in ihrer Qualität aber nichts als Gegenwart sind – wenn auch (bis auf eine) vergangen. Die Vergangenheit als solche nimmt man somit zwar zur Kenntnis, denn es gibt ja die Zeit, die man schwer leugnen kann, indessen nur als ein seltsames Ding, das so weit entfernt und dem Jetzt so äußerlich ist, dass es die, die in der „letzten“ Gegenwart leben, gar nichts angehen kann. Es sei denn, als antiquarisches Objekt oder als Beispielsammlung, d.h. als „Lehre, die zu ziehen ist“. Das hat mit Geschichte indes nichts zu tun. Es ist nichts als ihre Karikatur, ihre Parodie oder ihr Zerrbild. Was aber ist dann die Geschichte?

Fassen wir es kurz: Die Geschichte ist jeder gegebene Moment, in dem sich das Werden zum Gewordenen verdichtet und aus dem sich seinerseits wieder das Werden ergibt.

2.

Nehmen wir zur Illustration des Gesagten eine beliebige Person, die jetzt auf einem Sessel sitzt. Das ist Gegenwart. Schlicht und ergreifend. Oder doch vielleicht nicht? Denn, so wäre zu fragen: War der Sessel immer schon da? Oder ist er hergestellt worden – und zwar schon vor, sagen wir, etlichen Jahren oder, möglicherweise, Jahrzehnten? Offenbar, wird man sagen. Damit nicht genug. Denn die Produktion dieses oder auch jeden sonstigen Möbelstücks, das in diesem Moment der Person zur Verfügung steht (von allem anderen hier einmal abgesehen), involviert notwendigerweise nicht allein das Material, aus dem es gemacht wird, sagen wir, Holz, Leim, Nägel und was es dergleichen zur Produktion noch so bedarf, sondern auch das Werkzeug, das notwendig ist, ein solches Stück zu erzeugen: Hammer, Säge, Hobel und noch vieles andere mehr. Das Material und das Werkzeug jedoch, die hier in der Tischlerei Anwendung fanden, mussten indes offenbar gleichfalls vor ihrer Anwendung fabriziert worden sein: etwa in einer Werkzeugfabrik, die das Metall für Hammer, Säge und Hobel ihrerseits dann aus einem Verhüttungsbetrieb geliefert bekam, der das Erz für seine Produktion aus einem Bergwerk bezog, und die Maschinen aus anderen Fabriken, die ihrerseits wieder davor Material und Maschinen von woanders erhielten … und so unendlich fort bis hin, wenn man denn so weit zurück gehen will, zum ersten Stein der Australopithecinen.

Der Tischler nun, der den Sessel hergestellt hat, hatte sich, damit er überhaupt herstellen konnte, trivialerweise zuvor mit Nahrungsmitteln ernähren und mit Kleidung einkleiden müssen, und diese Nahrungsmittel und diese Kleidung sind ihrerseits wieder von anderen Arbeitskräften mithilfe anderen Materials und anderer Arbeitsmittel hervorgebracht worden, die gleichfalls zuvor mittels ganz anderen Materials und ganz anderer Arbeitsmittel fabriziert worden sind – und so immer fort.

Von all dem anderen hier ganz zu schweigen, das in diesem Zusammenhang desgleichen eine Rolle spielt: etwa von der Tätigkeit der Lehrerinnen oder der Lehrer, die dem Tischler (und all den anderen auch) das Lesen, Schreiben und Rechnen beigebracht haben (Fähigkeiten, ohne die auch weniger anspruchsvolle Arbeiten wie die des Technikers oder die des Ingenieurs nicht ausgeführt werden könnten), wobei dies in einem Gebäude geschah, das Jahre zuvor von Architekten, Maurern, Elektrikern und Installateuren mithilfe von Material, Gerät und Maschinen entworfen und gebaut worden war, die ihrerseits wieder mithilfe von Material, Gerät und Maschinen hergestellt worden sein mussten, die wiederum – und so immer fort.

Und dies alles, was hier gesagt worden ist, gilt offenbar nicht nur für die Produktionstätigkeiten und für solche, die für die Produktion notwendig sind, sondern auch für andere, die sich auf rein intellektuellem Terrain abzuspielen pflegen; es gilt unter anderem somit nicht nur für das materielle, sondern auch für dasjenige Instrumentarium oder „Arbeitsgerät“, das in einem „geistigen“ Kontext zur Anwendung kommt: Es gilt unter anderem mithin für die Bücher, die man jetzt, in diesem Augenblick, verwendet, und die das Ergebnis von Denkprozessen sind, die auf andere, schon früher entstandene Bücher – somit auf das Wissen, das damit transportiert worden ist – zurückgreifen konnten und auch, notwendigerweise, zurückgreifen mussten. Und so in die Tiefen der Zeiten hinab – bis dahin letztendlich, wo die Schrift, ja eigentlich, wo die Sprache als Kommunikations- und Denkinstrument die historische Bühne betrat.

Was bedeutet all dies? Nun, die Gegenwart der Person, die jetzt auf diesem Sessel sitzt, ist, wenn man sie lediglich als das Präsens losgelöst vom Werden begreift, auf den Umfang und das Gewicht eines Sandkorns geschrumpft und sie verflüchtigt sich völlig, wenn sich diese Person wieder von diesem Sessel erhebt. Allein, sollte sie, auf dem Sessel sitzend, zufälligerweise, sagen wir, einen Text verfassen, der vielleicht später einmal in irgendeiner Form von Bedeutung sein könnte (wie gering die Wahrscheinlichkeit dafür immer auch sein mag), dann wird der Punkt der Gegenwart – vielleicht, denn man kann es nicht wissen – eine Wirklichkeit erlangen, die über den flüchtigen Moment, den Augenblick, der an und für sich keinen Bestand hat, hinausgeht. Ist dies nun aber der Fall, dann ist das, was in dem bestimmten Augenblick geschah, in der Tat nur ein weiteres Moment in der Kette (im Prozess) der Geschichte – ein Durchgangspunkt, an dem das Werden zum Gewordenen wird und zugleich das Gewordene sich wieder zum Werden entfaltet.

3.

Übertragen wir nun das soeben Gesagte auf die Gesellschaft in ihrer Qualität als System:

Die jeweilige Gegenwart, die zu einem bestimmten Zeitpunkt gegebene Ordnung, kann als eine Art „Konstruktion“, „Gefüge“ oder „Formation“ vorgestellt werden, die sich aus „Schichten“ oder „Strata“ aufbaut, wobei die unterste Schicht die abstrakteste ist, die darauf aufbauenden dann aber eine nach der anderen immer konkreter werden.

Dieser Schichtenaufbau entspricht grosso modo indes der Abfolge historischer „Phasen“ des gegebenen Gesellschaftssystems, einer Abfolge mithin, die zugleich einen „Übergang“, eine „Transition“, oder, genauer, eine „Expansion“ vom Elementaren hin zum Komplexen repräsentiert, wobei sich, und das ist entscheidend, das Elementare keineswegs verflüchtigt, sondern im Komplexen, so könnte man sagen, „aufgehoben“ ist (wenn auch nicht unbedingt „beseitigt“, sofern es sich um die „Etappen“ ein und derselben Gesellschaftsordnung handelt).

Die historischen Phasen, von denen hier die Rede ist, ergeben sich aber nun aus dem Zusammenspiel (bisweilen) zeitdivergenter Prozesse, die aus der spezifischen Funktionsweise selbst der jeweiligen historischen Konstellationen entspringen. Es versteht sich dabei natürlich von selbst, dass in den Anfangsphasen immer auch frühere, einer vorhergehenden Gesellschaftsform angehörige, d.h. überlebte Zustände mitgeschleppt werden, die aber dann nach und nach abgebaut, zurückgedrängt oder modifiziert (assimiliert oder angepasst) werden.

Die Progression vom Elementaren hin zum Komplexen (die „Progression“ hier als wertneutral genommen: eben als „Expansion“) darf dabei aber nicht so verstanden werden, als ob man sich die Verhältnisse in früheren Phasen als „einfach“ oder, genauer, als „unkompliziert“ vorstellen müsste; vielmehr ist es so, dass diese durchaus „kompliziert“ gewesen sind, wobei sich die „Kompliziertheit“ allerdings daraus ergeben hatte, dass eben, wie schon gesagt, die Überreste und Trümmer einer früheren Gesellschaftsform oder -ordnung noch eine ganze Weile mitgeschleift wurden (oder sogar mitgeschleift werden mussten), Ruinen mithin, deren „Abbau“ respektive „Modifizierung“ (deren Assimilierung an das sich neu ergebende Gefüge) dann parallel lief mit der zunehmenden Komplexität, dem allmählichen, von Phase zu Phase sich verstärkenden Komplexerwerden der Strukturen und des Funktionierens des Systems selbst.

Die Qualität des Elementaren bezieht sich also exklusiv auf die Struktur und die Funktionsweise des neuen Gesellschaftssystems. Daraus folgt, dass mit „Kompliziertheit“ in den Anfangsphasen (im Gegensatz zur „Komplexität“ der späteren Phasen) nur gemeint ist (und gemeint sein kann), dass inhomogene respektive heterogene Momente koexistieren.

4.

Werden wir nunmehr noch ein wenig konkreter und wenden wir uns dem System des Kapitals als einem der Exemplare der Gesamtheit der historischen Produktionsweisen zu:

Wenn wir unter die Oberfläche der Erscheinungswelt blicken, so sehen wir hier verschiedene Strata, aus denen die kapitalistische Ordnung, so wie sie sich zur Zeit präsentiert, aufgebaut ist, wobei die „unterste“ Schicht die abstrakteste, die „oberste“ die konkreteste ist: das Stratum der Beziehungen zwischen den in privaten Arbeitsprozessen hervorgebrachten Waren (die Ebene des Werts), dasjenige der Beziehungen zwischen den Produktionsmitteln und der von diesen getrennten gesellschaftlichen Arbeitskraft (die Ebene des Mehrwerts), dasjenige der Beziehungen zwischen den Kapitalentitäten (die Ebene der uniformen Profitrate, die den Produktionspreis der Waren determiniert), dasjenige der zentralisierten Kapitale innerhalb der Sektoren (die Ebene des Monopolkapitals) und schließlich dasjenige der Verselbständigung der äußeren Formen (die Ebene der ultimativen Anhebung des Produktivkraftniveaus, die perspektivisch in der kompletten Automation der Produktionsprozesse mündet), auch wenn hier der Zeitfaktor eine nicht zu gering zu veranschlagende Rolle in der Analyse spielt, insofern immer auch bedacht werden muss, dass sich im Laufe der Zeit das jeweilige Gewicht der einzelnen Schichten (d.h. ihr Determinationspotential) von der untersten hin zur obersten verschiebt.

Diesen Strata entsprechen nun allerdings die historischen Phasen des bürgerlichen Systems, d.h. das, was aktuell existiert, ist das Resultat eines Prozesses, der darin besteht, dass sich aus dem Elementaren sukzessive (und zwar systembedingt, also „logisch“) das Komplexe ergibt, sodass wir als Resultat eben einen „Schichtaufbau“ haben, wobei das Frühere im Späteren durchaus präsent ist und sich als dessen „Basisstruktur“, als dessen grundlegenden „Kern“ oder „Urgrund“ erweist (wenn auch dann am Schluss vielleicht nicht mehr „sichtbar“ präsent, sondern nur implizit als Ausgangspunkt, lediglich „aufgehoben“ im Jetzt – und zwar, in diesem speziellen Fall, in einem strikten Hegelschen Sinn).

Diese Phasen sind:

1. die Phase der Warenproduktion als solche (man könnte hier auch von einer Vorphase sprechen), aus der sich als Resultat bestimmter bis zu einem gewissen Punkt im Hinblick auf dieses Resultat aleatorischer und nicht-intentionaler Prozesse (die „ursprüngliche Akkumulation“, wie sie von Marx genannt worden ist, also die Trennung der unmittelbaren Produzenten von den Mitteln zur Produktion, sowie die Konzentration der – zumeist kolonialen – Absatzwege bestimmter Warenkategorien in einer bestimmten regionalen Zone, nämlich England) die nächste Phase ergibt;

2. die Phase des embryonalen Kapitalsystems, in der relativ unsystematisch Profit produziert wird, und aus der sich die nächste Phase durch Akkumulationsprozesse (in sämtlichen Sektoren) ergibt, wobei das Verhältnis Produktionsmittel zu Arbeitskraft, respektive: konstantes zu variablem Kapital (die organische Zusammensetzung), der Natur der Sache nach (bedingt durch die jeweilige technologische Basis) je unterschiedlich ausfallen wird;

3. die Phase des Kapitalsystems klassischer Prägung, die durch den Ausgleich der Profitraten gekennzeichnet ist (im Rahmen des unterschiedlichen Umfangs des jeweiligen Anteils des konstanten Kapitals am Gesamtkapital der Kapitalentitäten) und aus der sich die nächste Phase infolge der durch die Konkurrenz induzierten Zentralisationsprozesse ergibt („ein Kapital schlägt viele tot“, wie Marx das treffend genannt hat);

4. die Phase des Monopolkapitals, in der sich Monopolpreise bilden und in der auf der Grundlage der dadurch generierten Monopolprofite die Wissenschaft endgültig unter das Kapital subsumiert wird, sodass sich diese in eine bestimmte Richtung gedrängt sieht (nämlich im Hinblick auf die Anhebung des Produktivkraftniveaus tätig zu sein, was schließlich in die Automatisierung und Robotisierung des Produktionsprozesses mündet);

5. schließlich, hervorgehend aus der monopolistischen Phase, die postmoderne Phase oder die Endphase des bürgerlichen Systems (so könnte man im Hinblick auf die fundamentalen Transformationen sagen, die gerade dabei sind, buchstäblich alles über den Haufen zu werfen), eine Phase, in der lediglich die externe Hülle der kapitalistischen Produktion überlebt: Aufgrund von Automatisierung und Robotisierung und damit der tendenziellen Eliminierung der Arbeit aus den Produktionsprozessen, fällt die Basis weg für die Produktion des Werts (und, a fortiori, des Mehrwerts), sodass nur noch die äußeren Formen, Preis und Profit, übrig bleiben (wobei diese Konstruktion allein durch das Monopol, das Monopol des Privateigentums an den Mitteln zur Produktion und dasjenige der Monopolkapitale, aufrechterhalten wird).

5.

Wir haben hier also eine statische Konstruktion, zugleich aber auch einen Prozess vor uns, die, im theoretischen Denken, insofern verbunden sind, als der „Aufstieg vom Abstrakten zum Konkreten“, als Marx’sches methodologisches Prinzip, notwendigerweise den historischen Gang vom Elementaren hin zum Komplexen reflektiert. Denn das Abstrakte ist elementar, das Konkrete komplex. Oder anders gesagt: Geht es darum, ein System zu verstehen, so ist, letztendlich, die historische Anschauungsweise als fundamental zu betrachten, als maßgebend für die tiefere Einsicht in die Zusammenhänge, in das „Getriebe“ einer Gesellschaft, das stets insofern verborgen liegt, als es im Konkreten nicht unmittelbar erscheint.

Das aber heißt: Der Augenblick, das Jetzt, der Punkt der Gegenwart ist, da er sich im Grunde als die Verdichtung eines (polyvalenten) Prozesses erweist, als ein solcher, als pure Gegenwart, als oberflächliches, gehaltloses Präsens, nicht zu begreifen: Betrachtet man diesen Punkt losgelöst von dem erwähnten Prozess, vom Prozess der Geschichte mithin, so wird man immer nur das erfassen können, als was das jeweils Gegebene naiverweise erscheint. Wer sich daher auf das Hier und Jetzt kapriziert, wird demnach immer nur über eine verengte Perspektive, einen extrem bornierten Blickpunkt verfügen.

Blendet man die historische Dimension aus den Überlegungen aus, dann erhält man lediglich einen statischen Eindruck von der Oberfläche der in einem bestimmten Moment gegebenen Realität (davon, was ins Auge fällt, also die scheinbaren Zusammenhänge) – einen Eindruck von der Welt der Erscheinung mithin, die das Wesentliche zwar „involviert“, aber nur implizit –, insofern ein System in seinem Wesen nur verstanden werden kann, wenn man dieses System als ein prozessierendes Ganzes, als historische Totalität begreift, d.h. nicht nur „in Aktion“ (das momentane Hin und Her der gegenseitigen Einflussnahmen diverser „Faktoren“), sondern auch im Werden begriffen, denn nur, wenn man es in seinem Werden (und zwar vom Blickpunkt des Gewordenen, also retrospektiv) analysiert, werden die zugrundeliegenden, die tieferen Zusammenhänge sichtbar, die eben infolge der Komplexität des Konkreten sich dem Augenschein entziehen: Nur indem man (im theoretischen Denken) die historischen Transformationen „reversibel“, „rückgängig“ macht und daher die Überlagerungen Schritt für Schritt abbaut, können diese Zusammenhänge, auf die es letztendlich ankommt, freigelegt werden, ein Vorgehen, das dann in die Lage versetzt, das Ganze zu re-konstruieren. – Nicht von ungefähr dringt Marx im Kapital bis zur Ware vor, um von dort den Ausgangspunkt für die Analyse des Gesamtsystems zu nehmen.

Was für ein System als Ganzes gilt, gilt aber dann gleichfalls für jeden aparten Aspekt der Gesellschaft: Das jetzt Gegebene, von dem die Oberfläche allein „sichtbar“ ist oder genauer: sich dem Blick penetrant aufzudrängen versucht, ist stets das Resultat historischer Prozesse, die in die Tiefe reichen und deren Analyse allein es erlaubt, die Gegenwart, so wie sie ist, zu begreifen.

6.

Das jeweils Existierende ist, um ein Fazit zu ziehen, somit kein Gegebenes, sondern ein Gewordenes. Und dies impliziert, dass das, was jetzt existiert, nur als die Verdichtung historischer Prozesse zu begreifen ist, ohne die es schlicht und ergreifend gar keine Gegenwart gäbe.

Zugleich aber kann das Gewordene, dies folgt logischerweise aus der Betrachtung von diesem Blickwinkel aus, nur als ein Ausgangspunkt, als die Basis anderer, perspektivischer historischer Prozesse angesehen werden. Ja, das Gegebene kann eigentlich nur ein Ausgangspunkt sein – und sollte, wenn man die Sache aus der Distanz, eben historisch, zu betrachten geneigt ist, auch als ein solcher fungieren. Denn wenn man die Potentialitäten, die das Resultat der Geschichte sind, nicht bereit ist zu nutzen, dann wäre es so, wie wenn man sozusagen zwar „übernimmt“ (von der Vorwelt), ohne jedoch (an die Nachwelt) „weiterzuvermitteln“. Genaugenommen wäre das der Stillstand oder, auf lange Sicht, der Abbruch der Geschichte.

Kurz: Die Gegenwart ist nichts, es sei denn, man macht was daraus. Es versteht sich dabei natürlich von selbst, dass das Sujet dieser Praxis nur jenseits des Unfugs, des Irrsinns und der Hirnrissigkeiten, wie sie heute en vogue sind, gefunden werden kann – ja, jenseits aller kosmetischen Reformen, die darauf abzielen, das Bestehende irgendwie zu „verbessern“. Das ist so abwegig nicht, wie es erscheinen könnte: Denn da das Tradierte sich heute (mehr denn je) als „Kondensat“ der gesamten Geschichte darstellt, kann diese Praxis, nimmt man die Sache denn ernst, nur eine historische sein, und das heißt: eine Praxis, die die Funktionsweise der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit im Blick hat, was letztendlich darauf hinausläuft, diese Gesellschaft gemäß den realen Möglichkeiten umzugestalten, die im Laufe der Zeit akkumuliert worden sind – und dies umso mehr, als die Notwendigkeit der bürgerlichen Formen (beginnend mit dem Privateigentum am Produktionsapparat) – und damit auch ihre Sinnhaftigkeit – mit der Eliminierung der Arbeit aus der Produktion von Gebrauchswerten schwindet, ganz abgesehen davon, dass das „Weiter so“, wie man vermuten darf, wenn man die aktuellen Tendenzen extrapoliert, eben nur „Turbulenzen“ und Kindereien bereithält.

Das sollte für jeden einsichtig sein, es sei denn, man versteift sich darauf, so wie die Postmoderne es tut (nicht nur die postmoderne Philosophie, sondern offenbar auch die postmoderne Gesellschaft), sich in die Gegenwart zu vergraben und, als Folge davon, dem pensiero debole, dem „schwachen Denken“, zu frönen, wie es zu Beginn der postmodernen Ära Gianni Vattimo ungeniert propagiert hat (ohne sich allerdings dessen bewusst gewesen zu sein, dass er mit diesem Ausdruck nur den realen Zustand der bürgerlichen Philosophie und Wissenschaft beschrieb) – ein „Denken“, das dann lediglich, im Gegensatz zu Hegel und Marx, zu Mininatur-Narrationen befähigt.

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