Über Vergänglichkeit, „Logik“ und Drapierung

Ein Blickpunkt (von vielen)

von Emmerich Nyikos

1.

Was vorbei ist, das ist auch wirklich vorbei – und es kommt deswegen nicht wieder. Zumindest kann diese Behauptung hinsichtlich der geschichtlichen Erscheinungen Gültigkeit für sich reklamieren, denn auch die Tragödie wiederholt sich immer nur als Farce.

Um dies zu präzisieren: Jedes historische System, und das ist trivial, durchläuft verschiedene Phasen, und dieser Phasenablauf ist nicht reversibel. Das System mag, was seine prinzipielle Funktionsweise angeht, zwar immer noch dasselbe System sein, die „Phänomene“ indes ändern sich – die Ausdrucksformen mithin, welche gleichsam den Kern des Gesellschaftssystems (die Eigentumsstruktur und die Klassenrelationen) „realisieren“, unterliegen einer beständigen Transformation. Das gilt sowohl für die Infra-Struktur, als auch, und dies um so mehr, für die Super-Struktur des Systems.

So durchläuft, um konkreter zu werden, das Kapitalsystem im Hinblick auf seine Infra-Struktur, und zwar ganz unabhängig von den Intentionen der betreffenden Akteure, gleichsam automatisch diverse Etappen (die Vorphase der Warengesellschaft als solche, die Phase des allmählichen Eindringens des Kapitals in sämtliche Sphären der Produktion, die klassische Phase des Ausgleichs der Raten des Profits, die monopolistische Phase und schließlich die Phase, die man post-modern zu nennen geneigt und die durch das allmähliche Verschwinden der Arbeit aus der Produktion im engeren Sinn gekennzeichnet ist).

Was nun die Super-Struktur anbelangt, so muss man unterscheiden zwischen dem Bereich, der eng an die Produktionssphäre rückgekoppelt ist (die Regelungs- und Supportinstrumente von staatlichen respektive para-staatlichen Institutionen, inklusive Staatskonsum, auf der einen und das juristische Instrumentarium auf der anderen Seite, Instanzen, die das reibungslose Funktionieren einer kapitalistischen Warengesellschaft und deren Expansion garantieren sollen), und einem anderen Bereich, den man als Spielwiese der Gesellschaft ansehen könnte und dessen Areal sich mit der stetigen Zunahme des gesellschaftlichen Surplus aufgrund des systembedingten Steigens des Produktivkraftniveaus ständig ausgedehnt hat und sich natürlich immer noch ausdehnt. Hierzu zählen etwa Feste, Casino und Börse, Entertainment und Sport oder auch, wie jüngst erst erlebt, das Corona-, das Putin- und, in der Perspektive, das CO2-Untergangsspiel.

Dabei ist zu beachten, dass die „Elemente“ der „Variablen“ dieses Bereichs (Variablen, die je nach historischer Lage mit Konstanten belegt werden können: etwa kirchliche Prozessionen, Fernsehshows und so fort, wenn es sich um die Domäne des Unterhaltungssektors handelt), im Prinzip beliebig austauschbar sind (wenn auch nicht völlig willkürlich und arbiträr, insofern sie auf dem Produktivkraftniveau der Gesellschaft basieren), ohne dass dies die Funktionsweise des Systems (zu unterscheiden von seiner Performance) mehr als superfiziell tangieren oder beeinflussen würde.

Wichtig ist, in diesem Zusammenhang zu betonen, dass sich mit dem wachsenden Surplus die „Freiheitsgrade“ des Systems (im Bereich der Super-Struktur) ungeahnt vermehren – sich also in letzter Instanz das Spiel-Feld vergrößert –, was den Spielraum auch für Kindereien und Schwachsinnigkeiten jeglicher Art enorm anwachsen lässt, ohne dass diese Absurditäten nur irgendwie aus einer kapitalistischen oder sonstigen historischen „Logik“ heraus notwendig wären, auch wenn man einräumen muss, dass der Übergang aus dem „instrumentellen Bereich“ in den „Bereich des Spiels“ fließend ist und es offenbar keine scharfe Trennlinie zwischen beiden gibt.

Überhaupt kann man sagen: Je mehr man sich von der Produktionssphäre im engeren Sinne entfernt und je mehr man sich dem Spiel-Platz nähert, desto weniger automatenhaft funktioniert das System und desto größer wird der Freiraum für (relativ) autonomes Handeln. – Es versteht sich im übrigen von selbst, dass dieses Spiel-Feld der Gesellschaft nicht zuletzt auch ein Feld ist, auf dem schöne Profite gemacht werden können (nämlich, wie jüngst erst gesehen, mit Tests, Masken, m-RNA-Präparaten, digitalen Waren, Lithium, „erneuerbarer Energie“ und Waffensystemen). Zudem dürfte es klar sein, dass diese Spielereien durchaus nicht immer harmlos sein müssen und es in der Tat auch wirklich nicht sind – insbesondere wenn es sich um die, wenn man es so nennen will, „Ebene des Gebrauchswerts“ handelt.

Sowohl in dem einen, wie auch in dem anderen Sektor der Super-Struktur haben wir es somit mit permanenten Umformungen zu tun, nur sind diese hier – im Gegensatz zur Sphäre der Produktion – fluktuierend, volatil und weit weniger systematisch als im Bereich der Infra-Struktur. Das gilt für das Spiel-Feld noch mehr als für das instrumentelle System, das sich mehr oder weniger direkt auf die produktive Basis bezieht.

Schließlich müssen wir Änderungen auch auf der Ebene der Verhaltensweisen registrieren, und zwar derjenigen Verhaltensweisen, welche im Prinzip als klassenabhängig einzustufen sind. Hier allerdings, was den Habitus mithin einer Klasse betrifft, wird die Sache schon komplizierter, da dieser Habitus in gewisser Weise in drei sich überlagernde „Schichten“ zerfällt:

1. die zugrundeliegende gesellschaftliche Position mit ihren objektiven Charakteren (Superiorität versus Subordination usw.), die durch eine gewisse Beständigkeit gekennzeichnet sind;

2. die Ausprägungen dieser Charaktere, die je nach historischer Situation variieren, wobei ein Schwanken oder Wechseln zwischen den diversen Formkomplexen, aufgrund der relativen Arbitrarität, nicht ausgeschlossen ist, immer vorausgesetzt, daß die allgemeine Grundlage (also Punkt 1.) sich nicht verändert hat; und

3. das konkrete Gewand, in das sich diese Ausprägungen zu kleiden pflegen, also die oberflächlichste phänomenale Struktur – man könnte hier durchaus von Drapierung sprechen.

Was dies zu bedeuten hat, werden wir gleich sehen.

2.

Was vorbei ist, das ist vorbei – das gilt offenbar auch für den faschistischen Komplex. Denn dieser Komplex verdankt seine Existenz einer ganz bestimmten historischen Lage, die so, wie sie war, nicht wiederholbar ist.

Die bürgerliche Gesellschaft in ihrer klassischen Phase setzt sich, wie allgemein bekannt, aus der Klasse der Kapitaleigentümer und derjenigen Klasse zusammen, die aus den „Händen“, wie man sie sinnreich genannt hat, besteht. Dazwischen aber gibt es auch eine „Klasse“ (oder genauer gesagt: eine diffuse Schicht), die weder das eine, noch das andere ist – weder Fisch noch auch Fleisch. Denn auf der einen Seite sind die Angehörigen dieses Gesellschaftsclusters keine Kapitaleigentümer (auch wenn sie Kleinstaktionäre sein mögen), was sie auf eine Stufe mit den Arbeitern stellt, auf der anderen Seite jedoch verfügen sie über einen bescheidenen Wohlstand (Grundstücke, Werkstätten, Läden, Wohnungen oder ein relativ hohes Gehalt), was sie ein Stück weit in die Nähe der bourgeoisen Klasse rückt.

Nun hat sich seit der Endphase des Ersten Weltkriegs ergeben, dass der Klassenkonflikt zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse, nicht zuletzt infolge dieses Krieges, virulent werden sollte, um nach dem Ausbruch der globalen Krise im Jahr 29 und während der darauf folgenden Depression dann noch an Schärfe zu gewinnen.

Es ist nun offensichtlich, daß eine „Klasse“, die sich zwischen den Fronten eingekeilt sieht, in so einem Krieg der Klassen gegeneinander durchaus nichts gewinnen kann. Man kann hier nur unter die Räder geraten. Was lag daher vom Standpunkt der „Mittelklasse“ näher, als nach einem Ausweg zu suchen, der aber, wie die Dinge nun einmal lagen, nur darin bestehen konnte, den Klassenkonflikt als „gelebte Praxis“, als sich manifestierende Realität zu beenden? Wie aber eliminiert man den Klassenkonflikt (in dieser spezifischen historischen Lage), ohne die bürgerliche Gesellschaft als solche mit diesem zugleich abzuschaffen, was ja wohl nicht die Absicht dieser „Klasse“ sein konnte?

Nun, für die „Mittelklasse“ musste es so scheinen, dass der Krieg der Klassen von der Arbeiterklasse seinen Ausgangspunkt nahm, denn es sind offenbar die unteren Kategorien der Gesellschaft, die eine Umwälzung der bestehenden Zustände wollen, nicht die bürgerliche Elite, von der man banalerweise annehmen durfte, dass sie das bestehende System durchaus bewahren wolle – also auch den bescheidenen Wohlstand und die „Überlegenheit“ über die „unteren Schichten“, die die „Mittelklasse“ für sich in Anspruch nahm.

Daher würde es durchaus genügen, die Arbeiterklasse in die Schranken zu weisen. Da es natürlich nicht anging und offensichtlich unmöglich war, die Klasse als solche (die Klasse an sich)aus dem System auszuscheiden – denn ohne diese würde dieses System trivialerweise nicht überleben –, dies aber auch gar nicht nötig war, wurde folgerichtig die Klasse für sich die Zielscheibe, das Angriffsziel der „Aktivisten“ der petite bourgeoisie – nämlich die Organisationen der Arbeiterklasse. Um deren Eliminierung bewerkstelligen zu können, müsste man freilich auch das Backup derselben, das parlamentarische Regime mit seinen Garantien (Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit), ausradieren und an seine Stelle eine Regierungsform setzen, die frei von diesbezüglichen Rücksichten wäre und die überdies der Unfähigkeit der ihrem Wesen nach atomisierten „Mittelklasse“, sich als Klasse zu artikulieren, entspräche – ein Regime, aufgebaut auf dem „Führerprinzip“. Was es dann noch brauchte, das waren Schlägertrupps (die SA), die sich nicht zuletzt aus Underdogs rekrutierten – aus dem „Bodensatz der Gesellschaft“ – und denen man die Drecksarbeit übertrug, und potente Financiers des Projekts, die, wie man weiß, nicht auf sich warten ließen.

Im Grunde ging es demnach um die „Homogenisierung“ der bürgerlichen Klassengesellschaft, ohne freilich dem Klassencharakter dieser Gesellschaft unsittlich näherzutreten. Welches Moment aber ist homogen in einer Klassengesellschaft, das an die Stelle der Klassenzugehörigkeit gesetzt werden könnte? Nun, der abstrakte Status der Bürger in ihrer Eigenschaft als nationale Subjekte, eine „Gemeinschaft“ mithin, die, ethnisch interpretiert, also als „Volksgenossenschaft“, diese Homogenität herzustellen und damit die Harmonie in der Gesellschaft zu garantieren schien – und so eben auch die Eliminierung des Konflikts zwischen den Klassen. Diese „Homogenisierung“ fand allerdings nur in der Einbildung statt und zudem auf einem phänomenalen Niveau, das die gesellschaftliche Differenzierung gar nicht tangierte, sie vielmehr unversehrt ließ.

Es ist also eine eingebildete Gemeinschaft (imagined community), die eben deswegen, um nämlich als Gemeinschaft erlebt werden zu können (da sie ja im Grunde fiktiv ist), des Ausschlusses von Subjekten bedarf, die aufgrund eines Merkmals, das an sich als völlig unbedeutend erscheint und in der Tat konstruiert ist – die „rassische Herkunft“ –, dennoch aber irgendwie „dokumentiert“ werden kann (durch einen Ahnenpass), dem Verdikt, nicht zur Nation zu gehören, verfallen. – Und dieser Ausschluss eines Teils der Gesellschaft ist es gerade, der die „nationale Gemeinschaft“ erst wirklich greifbar macht und als solche überhaupt erst konstituiert.

Indessen, damit diese „Gemeinschaft“ mehr sein kann als nur ein Feiertagsevent und sich (auf einem oberflächlichen Niveau wenigstens) auf Dauer etabliert, müssen alle davon auch irgendwie real profitieren. Da das heimische Kapital, wie gesehen, tabu ist, bleibt nur, durch die Expansion (im Grunde kolonialer Natur) über die Grenzen hinaus (also durch Krieg), die Mittel sich zu verschaffen, die nötig sind, um die „Volksgenossen“ (insbesondere auch die der unteren Kategorien) bei der Stange zu halten. Zudem trägt der Dünkel gegenüber den andern, gegenüber den Objekten der kolonialen Begierde mithin, die man sich mitnichten entblödet, als „Untermenschen“ zu klassifizieren, noch dazu bei, die Gemeinschaft innerhalb der Nation, den Zusammenhalt der „Volksgenossen“, zu stärken.

Es versteht sich von selbst, daß diese eben skizzierten „Motive“ gar nicht ins Bewusstsein der Akteure der petite bourgeoisie treten mussten, daß sie demnach nicht explizit, sondern nur unterschwellig wirkten. Auf der Oberfläche des Bewusstseins wurden diese vielmehr in die Parolen der „Rassen-Wissenschaft“ oder in sonstige Phrasen gekleidet.

Was nun die Bourgeoisie anbelangt, so dürfte es klar sein, daß in der Zwischenkriegszeit ihre Angst vor einer radikalisierten Arbeiterklasse durchaus real war – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der russischen Revolution. Zudem war nach wie vor der imperialistische Impuls virulent, in Deutschland eben auch der Drang nach einer Revanche für den Vertrag von Versailles.

Und hier, in diesen beiden Punkten, treffen sich die Bourgeoisie und die „Mittelklasse“: Die prophylaktische Konterrevolution, um die es der Bourgeoisie grundsätzlich ging, trifft auf den Wahn der „Homogenisierung“, während der imperialistische Expansionsimpuls des Kapitals sein Gegenstück in der Lust nach Beute in den Ost-Ländern findet (und vor allem in der UdSSR). So kommt es denn, dass die Bourgeoisie (oder die potentesten Kapitalkonglomerate) nicht nur den faschistischen Verein finanziert, sondern auch, die Gunst der Stunde nutzend (wozu auch die politische Spaltung der Arbeiterklasse gehört), ihm schließlich die Macht überträgt. Der Rest ist bekannt.

3.

Das alles ist nun vorbei und vergangen. Die historischen Bedingungen nämlich – und das springt sofort in die Augen – sind heute vollständig anders: Denn die Arbeiterklasse wurde im Laufe der Zeit, im Rahmen von kapitalistischer Prosperität und welfare-System,nicht nur moralisch absorbiert und so als historischer Akteur neutralisiert, sondern sie ist auch, dank der Automatisierung der Prozesse der Produktion, dank Computerisierung und Robotisierung, physisch im Schwinden begriffen. Zudem hat sich das Kapital zu einem Globalkomplex gemausert, der nationale Bindungen gar nicht mehr kennt und dem solche Affinitäten vollkommen fremd sind. Das Kapital ist seinem Wesen nach zu einem transnationalen Gebilde geworden, nicht nur was die operativen Entitäten betrifft (die supra-nationalen Konzerne mit ihren transnationalen Verflechtungen, gegenseitigen Beteiligungen, Allianzen, Fusionen und Joint Ventures), sondern auch mit Bezug auf seine Eigentümerbasis (siehe Blackrock, Vanguard und Konsorten). Auf dieser Grundlage kann es faschistische Regime, so wie man sie von früher her kennt, einfach nicht mehr geben. Es gibt schlicht und ergreifend, philosophisch gesprochen, keinen Grund mehr dafür. Das heißt nun nicht, dass es mit der bürgerlichen Liberalität nicht doch zuende wäre, aber das steht auf einem anderen Blatt.

Was aber noch nicht vorbei ist, das ist das, was man den Habitus der „Mittelklasse“ zu nennen geneigt ist, die Denk- und Verhaltensweisen, kurz: das Gehabe einer „Klasse“, die sich in der Zwischenzeit zahlenmäßig enorm aufgebläht hat und deren Kern mittlerweile aus einer„akademischen Elite“ besteht.

Dieser Habitus nun basiert auf einer gesellschaftlichen Position, die, wie wir sahen, unter der der herrschenden Klasse, aber immer noch über der der lohnabhängigen Massen angesiedelt ist. Daraus ergibt sich ein natürlicher Dünkel, ein Überlegenheitsgefühl, das sich mit einem Minderwertigkeitskomplex, dem ein Aufstiegsstreben korrespondiert, glücklich paart. Dieser Minderwertigkeitskomplex zieht dann auch zumeist eine Neigung nach sich, sich als „Opfer“ darzustellen, ohne es nur irgendwie zu sein. Zudem ist diese „Klasse“, per definitionem, atomisiert, was sie anfällig macht für alle Arten von künstlicher „Gemeinschaft“. Schließlich neigt sie zur extremen Moralisierung, die sich daraus ergibt, dass dies der sicherste (und billigste) Weg ist, sich über die andern, wer auch immer dies sei, zu erheben.

Diese Charaktere können sich nun je nach der historischen Lage auf unterschiedliche Weise realisieren, einerseits in autoritären (wie schon gesehen), andererseits aber auch in „liberalen“ Ausprägungsformen. Es versteht sich von selbst, daß die diversen Charaktere, von denen hier die Rede ist, je nach den Umständen (wenn es sich um ihre konkrete Realisierung handelt) auch konfligieren können, dass, mit anderen Worten, einmal dieses, dann wieder das andere dieser Charaktermerkmale in den Vordergrund tritt und so die jeweiligen Ausprägungsformen des Habitus beherrscht.

So wurde während der langen Prosperitäts- und Stabilitätsphase nach dem Zweiten Weltkrieg das Überlegenheitsgefühl gegenüber denen da unten einfach durch demonstrativen Konsum artikuliert und zur Schau getragen, oder sogar (bei einer Minderheitsfraktion) „kritisch“ interpretiert, d.h. es offenbarte sich einerseits als „ablehnende Haltung“ gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft (ohne dass dies Konsequenzen nach sich ziehen konnte, weil es immer nur um isolierte Aspekte dieser Gesellschaftsform ging); andererseits aber auch als Geringschätzung für den konsumistischen Pöbel, der unfähig sei, seine Lage zu erkennen, und der sich von denen da oben einlullen und an der Nase herumführen lasse (was ja an sich nicht ganz falsch ist). Es ist in diesem Rahmen auch bisweilen vorgekommen, dass man da, wo die kommunistische Partei (nicht ganz schuldlos) dazu verurteilt war, ein marginales Dasein zu fristen, und von den unteren Klassen nicht nur ignoriert, sondern auch mit Häme und Spott bedacht worden ist, durch den Eintritt in diese Partei dem Drang, sich von der Masse abzuheben, Ausdruck verlieh.

Es wurde dann auch konsequenterweise das „Gemeinschaftsgefühl“ von der „Nation“ auf das Terrain globaler Affinitäten verlagert: auf das, was man die „freie Welt“ zu nennen pflegt, oder, bescheidener und weniger universalistisch, auf die EU als Inkarnation der Überwindung dessen, was man als „nationales Hinterwäldlertum“ zu apostrophieren beliebte.

Die Moralisierungstendenz wiederum bezog ihre Nahrung vornehmlich aus den Staaten des Ostblocks, deren Populationen man jetzt, „weltoffen“ wie man nun einmal war, natürlich nicht mehr als „Untermenschen“ ansah, sondern als „Opfer brutaler Diktaturen“ – es war auf allen Seiten en vogue, sich vom Totalitäten im Osten scharf abzugrenzen und mit dem moralischen Finger auf sich selbst als den Hort der „Freiheit“ zu zeigen (und dabei konsequenterweise die Intervention im Bürgerkrieg, das „Unternehmen Barbarossa“ und den Kalten Krieg ignorierte, die eines der Momente waren, die den östlichen Repressionsapparat bis zu einem bestimmten Punkt wenigstens zu verantworten hatten).

Nach dem liberalen Intermezzo, wo es chic gewesen war, das Mittelklasse-Gehabe in liberale Formen zu kleiden, erleben wir heute indes einen Rückfall in Denk- und Verhaltensmuster, die die Ausprägungen des Habitus der „Mittelklasse“ von einst, diejenigen aus der Zwischenkriegszeit, reproduzieren, ihre autoritäre Form – aber jetzt in neuem Gewande. Was hier anders ist, das ist freilich nur die Oberfläche des Ausdrucks, nicht die Essenz, die eben lediglich neu drapiert worden ist.

4.

Was zuerst einmal auffällt, das ist die Übernahme der Symbolik und Semantik aus dem Arsenal der historischen Linken: So wie sich die Anstreicher-Partei dort bedient hat (Nationalsozialismus, Volksgenossen, das Rot in der Fahne), so bedient man sich heute genauso, nicht zuletzt insofern, als man sich als „Linke“ präsentiert (was aber nichts anderes heißt, als dass man alles, was man nicht selbst ist, als „rechts“ diffamiert) und mit „linken Parolen“ hantiert (man denke nur an „Solidarität“).

Desgleichen ist auch heute das Kapital als Produktionsweise und Gesellschaftsordnung aus dem Blickfeld verschwunden, insofern man, so wie man einst zwischen „raffendem“ und „schaffendem“ Kapital unterschied und so in dieser fiktiven Unterscheidung das Kapital verschwinden ließ, jetzt ad hoc irgendwelche Sündenböcke erfindet, die nicht einmal mehr als „schädlich“ markierte Angehörige der bourgeoisen Klasse sein müssen, sondern irgendwelche „Quertreiber“ sind, die sich als so böswillig erweisen, die „heile moralische Welt“ zu zerstören, die man nicht müde wird, sich gegenseitig vorzuspielen – also vornehmlich die „Rechte“ oder was man auch immer darunter versteht.

Das „Führerprinzip“ darf schließlich auch noch seine Renaissance erleben: An die Stelle des „Führer befiel, wir folgen“ tritt aber jetzt das „follow the science“. Dazu passt auch ganz gut, daß man nichts mehr anzweifeln soll, was von der „Wissenschaft“ kommt und was uns die „Wissenschaft“ vorsetzt: „Diese Regeln dürfen überhaupt nie hinterfragt werden“, wie dies RKI-Chef Lothar Wiehler so schön formuliert hat. Damit das auch so bleibt, dafür steht ein Medienapparat zur Verfügung, der unisono dasselbe Lied von der „Wissenschaft“, der man folgen soll, singt und jede noch so leise Kritik diffamiert (manchmal in „Stürmer“-Manier), sowie, im Getümmel der Straße, Schlägertrupps, die an die SA von einst gemahnen, sich aber, sinnigerweise, „Antifa“ nennen. Eine ihrer Parolen lautet dann auch ganz schlicht: „Wir impfen euch alle!“

Gleichklang der Meinung, Zensur („Löschung“ und Canceln), Denunziantentum und Ausschluss von andern (die „Schwurbler“ und „Corona-Leugner“) dürfen desgleichen ihre Wiederauferstehung in neuer, zeitgemäßer Aufmachung feiern. Wen wundert es da, dass man auch jetzt allenthalben, wie schon zuvor, mehr oder weniger freudig mit der Masse mitzulaufen bereit ist?

Massenaufmärsche sind heute zwar nicht mehr en vogue, dafür aber Masseninjektionen, wodurch sich jeder in die „neue Gemeinschaft“ der „Geimpften“ einreihen kann, die so an die Stelle der „Volksgenossenschaft“ tritt, wobei die Genetik erneut eine Hauptrolle spielt: Waren es einst die Gene der „Ahnen“, so ist es jetzt die mRNA eines Virus-Fragments. Den Ariernachweis ersetzt so der Impfpass. Die Armbinde aber mit dem Kreuz wird mit der Maske vertauscht. Schließlich hat man sich auch nicht entblödet, die gängige Grußform, wie einstmals, außer Kraft zu setzen: Man gibt sich nicht mehr die Hand, man gibt sich die Faust – der Abstand ist so, wie auch früher, gewahrt.

5.

Warum diese „Wende“? Wir können im Grunde nur spekulieren. Vielleicht ist es das diffuse Gefühl der Bedrohung, das diese autoritäre Reaktion ausgelöst hat? War es einst die (reale) Bedrohung der gesellschaftlichen Existenz der „Mittelklasse“ durch den Klassenkonflikt, die den faschistischen Reflex herbeigeführt hat, so könnte es jetzt die (eingebildete) Bedrohung der physischen Existenz – durch ein „Killer-Virus“ – sein, die dazu geführt hat, dass man sich nun, in neuem Gewand allerdings, so verhält, wie man sich einmal schon verhalten hatte. Die historische Substanz ist jetzt allerdings völlig verschieden – gab es früher in dem Geschehen so etwas wie eine „historische Logik“, so fehlt diese jetzt ganz –, das Stück, das nun aufgeführt wird, ist ein anderes Stück, auch wenn die Kulissen im Prinzip dieselben wie einst sind.

Wie dem auch sei, das ist nur ein Aspekt des Problems unter vielen, ein Problem, das, wie mir scheint, seinen Ursprung im Kapitalsystem selbst oder, genauer, in seinem Werden hat: Es besteht eben darin, daß ein historischer Punkt erreicht worden ist, wo infolge des ungeheuren Wachstums des gesellschaftlichen Surplus auf der Basis des technologie-induzierten Steigens des Produktivkraftniveaus das „Spiel-Feld“, von dem wir eingangs sprachen, sich so ausgedehnt hat, dass jeder nur denkbare Schwachsinn, wie grotesk er auch sein und welche realen Schäden er auch immer nach sich ziehen mag, als möglich erscheint, ohne dass irgendeine historische (also systembedingte) Notwendigkeit dafür vorliegen müsste – und jenseits aller kapitalistischen „Logik“. Das heißt freilich nicht, dass dieser Schwachsinn nicht von den verschiedensten Kapitalfraktionen profitlich genutzt werden könnte und nicht auch, was die Maximierung der Profite betrifft, in der Tat weidlich genutzt wird.

Nachbetrachtung:

Der Umstand, dass auf dem Spiel-Feld oder genauer: auf der Basis des „Spiels“ in der Tat bombastische Profite erzielt werden können, darf uns nicht zu der Ansicht verleiten, dass es sich hier, wenn es um das „Corona-Spektakel“, den Krieg gegen Russland oder das „Klima“ zu tun ist, um Vorgänge handelt, die auf die Infra-Struktur, auf die Sphäre der Produktion in ihrer systemischen Verfasstheit, instrumentell bezogen sind (so wie das staatliche Bildungssystem oder die Eigentumsgesetze), auch wenn es so erscheinen mag. Dieser Ansicht nach nämlich sollen allfällige „Strategen“ des globalen Kapitals im Hintergrund damit beschäftigt sein, Programme auszubrüten und dann auch in die Tat umzusetzen (wie das „Corona-Regime“, die „Putin-Bedrohung“, die „CO2-Hysterie“), deren letztendlicher Sinn darin bestünde, durch ein „neues Akkumulationsregime“ oder dergleichen das System des Kapitals vor dem Untergang oder zumindest vor seinen Krisen, der „fallenden Profitraten-Tendenz“ oder sonstigen System-Turbulenzen zu „retten“ – angeblich, weil man eingesehen habe, dass es so, wie bisher, nicht mehr weitergehen kann.

Es ist indes offensichtlich, dass es nicht nur so, wie bisher, weitergehen kann, sondern auch, dass es so weitergeht – nämlich kapitalistisch. Denn wer sollte dieses System überwinden, angesichts dessen, dass es nicht einmal mehr hinterfragt wird – nämlich als kapitalistisches Warensystem? Und wenn man es nicht überwindet – und zwar aktiv und bewusst –, dann existiert es banalerweise fort, wie kläglich auch immer. Wer also sollte glauben wollen, dass die Bourgeoisie aus diesem Grund alarmiert und beunruhigt wäre?

Ja noch mehr: Krisen, die sich zwangsweise daraus ergeben, dass das Kredit- und Schuldensystem, das die post-moderne Phase der bürgerlichen Gesellschaft zu ihrem Funktionieren absolut notwendig macht, periodisch explodiert, kann man so oder so nicht vermeiden, selbst wenn man sich auf den Kopf stellen sollte. Indessen, die Elite des Aktionärskapitals ist von solchen Krisenprozessen in Wirklichkeit gar nicht betroffen, denn das fiktive Kapital, das man dabei verlieren kann und auch wirklich verliert, gewinnt man danach um so sicherer zurück. Das Chaos, das notwendigerweise entsteht, wenn das System des Kapitals ins Schlingern gerät, betrifft dann nur die Masse der Klein- und Nicht-Eigentümer, aber die fällt als Faktor eigentlich nicht ins Gewicht, solange sie brav die Dogmen der kapitalistischen Gesellschaftsform glaubt. Und das tut sie auch – ganz von alleine, so daß auch die bombastischen Überwachungssysteme, die man offenbar plant, gar nicht notwendig, also auch nur ein „Spiel“ sind.

Was man hier aber noch geflissentlich übersieht, das ist, dass sämtliche „Maßnahmen“, von denen der Kreis der „Strategen“ angeblich annimmt, dass sie das System „retten“ oder in Schwung bringen könnten, weit davon entfernt, einen Ausweg zu bieten, in Wirklichkeit nur Öl ins Feuer gießen. Denn sie basieren und können eben nur darauf basieren, dass der Staat als Abnehmer all der Waren auftritt und auftreten muss, deren lukrative Produktion sich aus den ins Werk gesetzten Phantastereien ergibt (Tests, Masken, mRNA-Präparate, „erneuerbare Energien“, „Überwachungstechnologie“ und nicht zuletzt Waffensysteme). Das aber heißt, dass die Steuern für die Verbraucher erhöht werden müssen (denn das Kapital ist tabu), was aber dann natürlicherweise die Kaufkraft für andere Waren empfindlich beschränkt, sodass in der Summe durchaus nichts gewonnen wäre, oder aber, was wahrscheinlicher ist, dass der Staat, um konsumieren zu können, Kredite aufnehmen muss – und das führt in die extreme Verschuldung, was aber nur die Krisenprozesse beschleunigen kann. Aber selbst wenn der „Endverbraucher“ das alles zahlen müsste, so würde dies lediglich bedeuten, dass wiederum nur eine Verschiebung des Warenkonsums stattfinden würde – denn das Volumen der Kaufkraft der unteren Klassen ist, trivialerweise, systembedingt begrenzt. Vom Standpunkt der Prosperität des Systems kann dies alles nur als kontraproduktiv oder hirnrissig eingestuft werden.

Es ist also weder nötig, die Existenz des Systems aktiv sicherzustellen, noch auch ist es möglich, Krisen des Systems zu vermeiden. Das Kapitalsystem nämlich macht, was es letztendlich will. Ganz im Sinne von: Der Mensch denkt, Gott aber lenkt – wobei der „Gott“ hier der abstrakte Reichtum in Systemform ist.

Mit einem Wort: Alles, was bezüglich „Corona“, „Krieg für die Freiheit“, „CO2“ usw. im Rahmen der Super-Struktur des Systems sich ereignet, steht objektiv in keinem instrumentellen Zusammenhang mit der Infra-Struktur des Systems – wir haben es eben mit Aktionen auf einem Spiel-Feld zu tun, nicht aber mit einem Tun, das systembedingt notwendig wäre. Die Intentionen oder das, was man sich vielleicht dabei denkt, spielen hier demnach gar keine Rolle. Es kann sich dabei eben nur um wilde Phantasien und intellektuellen Selbstbetrug handeln, der ein bezeichnendes Licht auf die intellektuelle Kapazität der „Kapital-Strategen“ würfe, wenn sie denn wirklich sich dazu versteigen würden, in diesen Kategorien sich den Kopf zu zerbrechen. Es wäre im Grunde genommen genauso, wie wenn ein Spieler im Casino reich werden wollte, während die Aussicht darauf gleichsam null ist. Das ist unbeschadet des Umstands gesagt, dass das Profitmotiv, eben die kurzfristige Profitgewinnung, bei all dem immer eine Rolle spielt.

Betrachten wir die Sache daher von einem anderen Blickpunkt:

Alle diese „Spielereien“ („Corona“, „Wolodymyr“, „Greta“ und was man sich noch so ausdenken kann) kann es nur geben, weil

1. Philanthropie-Milliardäre à la Soros und Gates, die, wie (fast) alle Akteure, selbst an den Unfug, den sie verzapfen, glauben – insofern es ihr Steckenpferd ist, Philanthropen zu sein, denen es, wie zu vermuten, subjektiv in der Tat um die „Rettung der Welt“ im Hinblick auf die human rights, die „Gesundheit“, das „Klima“, oder was es noch so gibt, geht (wenn auch auf kapitalistische Weise, sodass sie natürlich dabei auch immer gewinnen), ein Steckenpferd by the way, das sich direkt aus der Langeweile ableiten lässt, die unendlicher Reichtum nun einmal mit sich bringen muß –, weil Philanthropie-Milliardäre mithin diese Unsinnigkeiten mit ihrem Vermögen, über Foundations, fördern und pushen, indem sie die finanzielle Grundlage für Institutionen der verschiedensten Art (Universitäten, Institute, Akademien, Medien und was es dergleichen noch mehr gibt) und Organisationen (NGOs) zur Verfügung stellen, die erst die „Resultate der Forschung“, die „Modelle“ und überhaupt den Wahn produzieren, ohne den es nicht geht, wobei die „Produzenten“ all dessen von sich aus schon an den Unsinn glauben und sie nicht erst „gekauft“ werden müssen, sodass man sagen kann, dass das Geld der Aktionärsphilanthropen lediglich die Hegemonie der Idiotie sicherstellt;

2. all dieser Nonsens nicht dem Profitmotiv hier und jetzt widerspricht;

3. der Umfang des Surplus all diese „Spielereien“ erlaubt, ohne daß zugleich das System der Produktion zusammenbrechen müsste (auch wenn es natürlicherweise zu Dysfunktionalitäten und Verzerrungen kommt);

und endlich 4., last but not least, die Bereitschaft der „Mittelklasse“ da ist, in dem „Spiel“ mitzuspielen, ja noch mehr: sich ein innerer Drang auf Seiten derselben manifestiert, moralisch erhaben zu sein, und, was noch wichtiger ist und oft unterschätzt wird, weil, systembedingt, die Vernunft, also das kritische Denken, flächendeckend ausgesetzt hat und in rasendem Tempo verfällt – man denke nur an das „an oder mit“. Und das ist überhaupt die Crux der Affäre.

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