Es geht voran. In die „letzten Tage der Menschheit“?

von Lorenz Glatz

Erweiterte Fassung der Printversion von Streifzüge 87

Der Westen – zugleich geeinter und weniger einflussreich als je zuvor“

Seit über einem Jahr rollt eine mediale Dampfwalze durch „den Westen“. Sie soll unsere Gedanken über den Krieg in der Ukraine auf die Parole einebnen, „dass wir vor allem dafür sorgen müssen, dass Putin besiegt wird. Das muss das aktuelle Ziel sein. Das ist eine Frage der Sicherheit für die Zukunft Europas und für die Zukunft der Welt“ (EU-Ratspräsident Charles Michel zu CNN 23.3.2022). Nüchtern betrachtet freilich geht es im Zusammenhang der letzten dreißig Jahre darum, ob der Westen es schafft, nach dem Zerfall der UdSSR mit der NATO und ihrer Militärmacht endgültig an das Zentrum des Rests der Union, Russland, heranzurücken – oder ob „Putin“ sie zuletzt doch mit der Besetzung der Krim und dem Überfall auf die Ukraine und deren teilweise Annexion auf einige Distanz halten kann. Diese Frage sollte von den vereinigten Demokraten des Westens seit 2014 durch den Bürgerkrieg gegen die Russland-orientierten Teile der Ukraine und durch die massive Aufrüstung des ukrainischen Militärs und seit 2022 mit einem Endsieg gegen Russland auf Kosten der ukrainischen Bevölkerung gelöst werden.

Eine erstaunlich offene Umfrage jedoch zum Thema, ob „die Ukraine Friedensgespräche beginnen (sollte), auch wenn das bedeutet, bestimmte besetzte Gebiete an Russland abzutreten“, oder ob die „Ukraine weiterkämpfen“ soll, beantworteten zwei Drittel der Befragten in Österreich im Sinne von sofortigen Verhandlungen (heute.at/s/oesterreicher-wollen-nicht-dass-ukraine-weiterkaempft-100255951). In Österreich halten über 90 Prozent der Menschen die Neutralität des Landes und damit das Heraushalten aus Kriegen für wichtig, aber selbst aus einem NATO-Land meldet euractiv.com, „das führende Medium zur Europapolitik“, unwirsch: Die „Hälfte der Spanier wollen Frieden auf Kosten von Landverlusten“ (euractiv.de/section/europa- kompakt/news/ukraine-krieg-haelfte-der-spanier-wollen-frieden-auf-kosten-von-landverlusten). In der demokratischen Ukraine selbst herrscht Pressezensur, Oppositionsparteien sind verboten, und Menschen können dem Patriotismus ihrer Regierung kaum lauter widersprechen als jene im autoritären Russland.

Überraschen sollte ein solches Ergebnis nicht wirklich. Schon nach dem ersten Kriegsjahr sind zigtausend, möglicherweise weit über zweihunderttausend Soldaten ermordet oder verwundet worden, bei den Angegriffenen wie bei den Angreifern und auch bei den Zivilisten in der Ukraine (denen – anders als den Männern zwischen 18 und 60 Jahren – die Flucht in den diesmal strategisch aufnahmebereiten Westen gestattet ist, wenn sie dafür nicht zu arm oder zu alt sind), Städte sind verwüstet, Ackerböden, Grundwasser und Teile des angrenzenden Schwarzen Meeres vergiftet, und eine von Krieg und Sanktionen ausgelöste Welle von Inflation und Teuerung überzieht auch das „hilfreiche“ Europa.

In den Augen des übergroßen „Rests der Welt“ steht der Westen daher keineswegs gut da: „Das Paradoxe am Krieg in der Ukraine ist, dass der Westen zugleich geeinter und weniger einflussreich in der Welt ist als je zuvor“, heißt es in einem Bericht der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR; orf.at/stories/3305840). Tatsächlich haben es die USA geschafft, die NATO-Länder stärker denn je gegen Russland zu vergattern und ihnen Milliardenbeträge für Aufrüstung, Verluste im sanktionierten Handel mit Russland, Waffenlieferungen an die Ukraine sowie das Risiko der Folgen eines direkten Kriegs mit der Atommacht Russland aufzuladen. Das hat wohl damit zu tun, dass im „Rest der Welt“ (dem in diesem Fall auch die NATO-Randstaaten Ungarn und Türkei nahestehen) die westliche Propaganda den Blick weniger verstellen kann als in deren Ursprungsländern. Die Toten und die verheerenden Folgen der Bombardierung Jugoslawiens und Libyens, der zwanzigjährigen Besetzung Afghanistans, der Verwüst ung Iraks und des vom Westen angeheizten Bürgerkriegs in Syrien, aber auch die Osterweiterung der NATO und des amerikanischen Stützpunktnetzes und die von Dollars tatkräftig unterstützten „Farbenrevolutionen“ in der Ukraine und Georgien sind eine unvollständige Liste von neueren, im Großteil der Welt nicht vergessenen Aktionen der Hochburgen der Demokratie. Die Aufforderungen des Westens, sich an den Sanktionen gegen Russland und an der Unterstüzung der Ukraine zu beteiligen, stoßen daher in den Weiten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas kaum auf Zustimmung, wie es auch dem deutschen Bundeskanzler Scholz bei seiner Reise nach Brasilien, Argentinien und Chile Anfang des Jahres als „die neue Realität“ deutlich gemacht wurde (FAZ 31.1.2023)

Worauf die Macht des Westens beruht, warum sie schwindet …

Russland wird in der „National-Security-Strategy“ der USA (whitehouse.gov/wp-content/uploads/2022/10/Biden-Harris-Administrations-National-Security-Strategy-10.2022.pdf) nicht mehr als „competitor“, sondern nur noch als „an immediate and ongoing threat to the regional security order in Europe“ und als Bundesgenosse des wahren „competitors“ China betrachtet und behandelt. Dessen Aufstieg ist es, was die verbliebene Supermacht und ihre Verbündeten mit allen Mitteln einschließlich ihrer gewaltigen Militärmaschine und Rüstungsindustrie zu verhindern gesonnen sind. Auf diesen Säulen beruht ja letztlich auch die ökonomisch-finanzielle Stärke des Westens. Sie bieten der Kapitalverwertung weltweit einen recht sicheren Hafen, solange diese sich in der Form einer globalisierten Produktion durch den bei Bedarf freigeschossenen Zugang zu den Ressourcen und Märkten des Planeten verwirklichen kann. Für die USA ist dabei noch zusätzlich von großer Bedeutung, dass der Dollar als Leitwährung des Welthandels großteils durchgesetzt ist. Die Globalisierung nutzt das Lohn- und Konsumgefälle zum Großteil des Globus, das neben Superprofiten auch das Stillehalten der eigenen Bevölkerung sichert. Zugleich aber verlagert die globale Produktion von den reichen Staaten des „Zentrums“ an die billige, aber relativ unsichere „Peripherie“. Die Weltgeltung des Dollars (und in geringerem Ausmaß des Euro, Yen und britischen Pfunds) ermöglicht es umgekehrt dem Westen, aber vor allem den USA, ihre (im Falle der USA immens gewordenen) Staatsschulden zu einem guten Teil in der eigenen Währung per „Gelddruckerei“ zu begleichen.

Die ökonomische Dominanz von USA & Co. ist freilich im Schwinden begriffen. Erst jüngst hat Saudiarabien, der wichtigste Ölstaat und bisher ein Schützling unter dem Schirm der USA, die Weichen seines Erdölhandels mit China, das zum wichtigsten Kunden geworden ist, für eine Verrechnung in chinesischer Währung gestellt. Die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China seit 2009, Südafrika seit 2011) sind auf dem Weg, nicht nur ihren Erdölhandel, sondern Schritt für Schritt ihren gesamten Warenaustausch in Landeswährung abzuwickeln. Sie arbeiten seit dem letzten Jahrzehnt auch daran, Alternativen zu Weltbank und Internationalem Währungsfonds zu etablieren, und „vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs und des Konflikts um Taiwan“ versucht „der Staatenbund … sich als Alternative zur G7 zu positionieren“ (de.wikipedia.org/wiki/BRICS-Staaten). Der aktuelle Zulauf zu den BRICS-Staaten ist jedenfalls bemerkenswert: „Dreizehn Länder haben formell um den Beitritt gebeten und sechs weitere haben informell darum gebeten“, erklärte der südafrikanische BRICS-Botschafter (finanzmarktwelt.de/brics-19-laender-wollen-beitreten-268634/). Zu den Beitrittsaspiranten gehören Argentinien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Algerien, Ägypten, Bahrain und Indonesien. Am bemerkenswertesten jedoch sind die Beitrittswerber Saudi-Arabien und Iran. Ersteres war bisher zusammen mit seiner Schutzmacht Feind des zweiteren, und beide haben bisher bis dato im Jemen einen kostspieligen Krieg gegen einander geführt, den sie nunmehr auf chinesische Vermittlung beenden dürften. Auch dass die von Russland und Iran unterstützte syrische Regierung jüngst wieder in die Arabische Liga zurückkehren konnte, bedeutet einen Rückschlag für die USA und ihre Verbündeten.

Vor dem Hintergrund der aktuell für den Westen negativen ökonomischen und politischen Entwicklungen haben die USA daher nicht nur ihre offensive Politik in Osteuropa, sondern in Ostasien auch ihre Provokationen um die Insel Taiwan verstärkt, auf die China prompt mit militärischen Machtdemonstrationen geantwortet hat. Diese Insel, die sich nach der Niederlage der Kuomintang-Regierung gegen die KP China nach dem 2. Weltkrieg nach wie vor „Republik China“ nennt, hat dank ihrer Halbleiterindustrie für die Weltwirtschaft und vor allem für die militärische Rüstung vieler Staaten eine strategische Bedeutung. Sie wird von der „Volksrepublik China“ mit mehr oder weniger Völkerrecht beansprucht und besteht – Recht hin oder her – seit langem nur dank der militärischen Unterstützung durch die USA als ein von Festlandchina abgetrennter Staat. Auf die jüngsten Auseinandersetzungen hin soll nunmehr auch die EU nach Asien ausrücken und sich in den USA-China-Konflikt aktiv einbringen. Josep Borrell, Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik und Vizepräsident der EU-Kommission, erhob angesichts der jüngsten Krise die Forderung, auch europäische Kriegsschiffe in die Meeresstraße vor der Insel zu schicken, denn „Taiwan ist eindeutig Teil unseres geostrategischen Perimeters, um den Frieden zu sichern und unsere Interessen zu verteidigen“ (zeit.de/politik/ausland/2023-04/eu-aussenbeauftragter-josep-borrell-taiwanstrasse-kriegssschiffe).

und weshalb das kein Grund zur Beruhigung ist

„Si vis pacem, para bellum“ (Wenn du Frieden willst, rüste zum Krieg)“, diesen zum Sprichwort gewordenen Satz schrieb der römische General und Kriegstheoretiker Vegetius nicht lange vor dem Untergang des Weströmischen Reiches und ein paar hundertmillionen Kriegstote vor unserer Zeit. Für herrschaftliche Verhältnisse, über die hinaus schon Vegetius der Blick verstellt war, meint Friede Sieg, sodass Herrschaft ohne Kampf und Krieg nie lange Frieden geben kann, erst recht nicht die gegenwärtige Form davon, die zu unserer globalen Staatenwelt geworden ist. Ob als demokratisch bejubelt oder als autoritär beschimpft, wogt und schäumt diese (Un-)Ordnung unseres Zusammenlebens im „Wettbewerb“ um einen Platz möglichst weit oben in der stets labilen Pyramide nicht nur der Staaten, sondern auch aller von ihnen organisierten und kontrollierten Bereiche unseres Lebens, mit dem Tunnelblick auf Vorankommen, Überholen und Kämpfen. Gemessen wird in modernen Zeiten Erfolg und Versagen am Gelingen oder Scheitern im Kampf um Geld und seine Vermehrung, ob auf den Märkten, mit politischem Druck oder blanker Waffengewalt und hinab bis zum Geraufe um die Verteilung der Brocken und Brosamen derer, die dafür zu schuften und zu bluten haben.

Außerhalb der Röhre dieses engen Blickfelds droht nach einigen hundert Jahren der aktuellen Entwicklung Stück um Stück die Lebenswelt des Planeten an einer Klimakatastrophe zugrundezugehen, seine industriell für zerstörerischen Konsum ausgebeuteten Ressourcen gehen zur Neige, und die Zuspitzung der alles beherrschenden Konkurrenz bringt uns in gefährliche Nähe zu einem direkten Krieg zwischen den destruktivsten, weil auch atomar bewaffneten Schurkenstaaten des Homo sapiens. In dieser Lage ist eine Unterscheidung von mehr oder weniger bösen oder auch nur schwächeren und stärkeren Kombattanten und die Frage, ob diese Welt uni-, bi- oder multipolar sein soll, nur noch unerheblich. Diese Lebensweise ist von ihrem Kern und der Struktur her verheerend, nicht bloß in ihrer Erscheinungsform.

Derlei Überlegungen beginnen trotz aller Propaganda im Bewusstsein vieler machtloser Menschen durchaus anzukommen. Es wird aber darauf ankommen, ob Wege gefunden werden, solches Bewusstsein in Aktivität, in viele und mannigfaltige Versuche und Experimente solidarischer, ökologisch zuträglicher Produktions- und Lebensweisen umzusetzen. Es gibt derlei Anfänge in Inititativen von gegenseitiger Hilfe und Dienstleistung, von Erzeugung und Verteilung von Lebensmitteln und anderen alltäglichen Gütern. Dort können überschaubare Gemeinschaft lernen und dazu übergehen, Geld als ein bloß noch notwendiges, aber zunehmend zu beschränkendes Übel statt als eine selbstverständlich in Rechnung zu stellende Forderung von „Tauschgegnern“ auf dem Markt anzusehen und alle Tätigkeiten für einander nicht nach „Äquivalenz“ zu be„wert“en, sondern als den individuellen Möglichkeiten entsprechende Beiträge zu achten. Ob es gelingt, für solchen Umgang inmitten des Gegenteils Platz zu schaffen, ihn mit List und Klugheit zu schützen, zu verteidigen und auszuweiten, wird in recht schnellem Tempo zu einer Überlebensfrage nicht nur unserer Tierart werden.

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