Enforce Flexibility, Punish the Flexible

Über die Peitscherlbuben der Disziplinar- und Kontrollgesellschaft

von Nikolaus Dimmel

Jüngst hat Göran Therborn mit großer Geste die soziale Substanz des Neoliberalismus als „Sado-Liberalismus“ charakterisiert. Dessen Kern bildet ein Mechanismus der Responsibilisierung. Darin wird den Verlierer:innen des Prozesses der atypisierten Flexibilisierung der Lohnarbeit, der Vermarktlichung und Durchkapitalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse sowie der profitablen Privatisierung der Kernfunktionen staatlicher Daseinsvorsorge auf von außen betrachtet unempathisch, rücksichtslos oder hinterhältig wirkende Weise mitgeteilt, sie seien selbst schuld an ihrer Misere.

Typisch für den darin zum Ausdruck gelangenden Politikmodus im Spektrum der rechtspopulistischen, rechtsextremen und (klerikal-)faschistischen politischen „Rackets“ ist, soziale Probleme zu erzeugen, ihre sozialtechnologische Steuerbarkeit im Habitus der Empörung zu blockieren und auf die daraus entstehenden Blockade-Konstellationen mit durchgängig idiotisch wirkenden Rezepturen zu antworten. Selbige basieren regelhaft auf Empirie-aversen Simplifizierungen, nationalistischen, rassistischen und moralisierenden Dichotomien. Ihr Storyboard ist simpel: Es geht um die Autochthonen gegen die Fremden, die (fleißigen) Leistungswilligen gegen die (faulen) Minderleistenden in der sozialen Hängematte aus Transferleistungen, Sozialhilfe und Arbeitslosengeld, um die heroischen Entrepreneure der Elite gegen die lauwarmen Handaufhalter der doch eher blöden Masse.

Derlei Narrative verdecken durchgängig, dass es das politische System selbst ist, welches Probleme erzeugt, die anschließend, allerdings nicht, ohne erst einmal profitabel medial skandalisiert worden zu sein, mit Dauerreformen erzeugenden Dauerreformen „bearbeitet“ werden. In der Tat gehen die Brüche der Integration und Assimilation von Immigrant:innen oder die geringen Arbeitsmarktchancen der Bildungsverlierer:innen auf politische Strukturentscheidungen ebenjener politischen „Rackets“ zurück, welche diese sozialen Probleme wortreich beklagen. In der Tat sind Einkommensarmut, kanzerogene Lebensbedingungen, extreme Ungleichheit, Wohnkostenüberlast, Fettleibigkeit oder Wohnungsnot im abgehängten Prekariat und in einem deutlich zunehmenden Segment der Einpersonen-Unternehmen und Scheinselbstständigen Ergebnis einer Politik der Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung, Entstaatlichung, Verwettbewerblichung oder schlicht der Lizenzierung des Kapitals, die durch Produktionsprozesse und Produkte die Körper der vulnerablen Subalternen (egal ob lohnabhängig oder selbstständig) in (Gift-)Müllhalden und disponibles „Humankapital“ verwandelt.

Man muss nicht den dünnen Begriff der Intersektionalität bemühen, um zu begreifen, dass, wie schon Pierre Bourdieu wusste, in den Feldern gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse alles mit allem zusammenhängt; auf dass man also nicht bloß ausgebeutete (Lohn-)Arbeitskraft ist, sondern in allen Lebenszusammenhängen permanent von Knappheit, Unterversorgung und Ausgrenzung bedroht. Zugleich aber mündet jede Dauerreform, und dies ist nun wirklich ein Gassenhauer der politischen Soziologie, in einer Situation der Überkomplexität, in einem selbstgestrickten Gordischen Knoten, der sich aus der Sicht der Agenten der Kapitalismusverwaltung nur noch auf repressive Weise zerschlagen lässt. Dass hierbei konzeptionell eher krudes Besteck zur Anwendung gelangt, versteht sich von selbst. Noch wähnt sich die politische Rechte nach 40 Jahren antisozialer Gegenreformation derart sicher im Sattel ihres Liberalisierungsreformregimes, dass sie sich um konzeptionelle Inkonsistenzen ihrer Rhetorik, Programmatik und „Policies“ keinerlei Gedanken zu machen genötigt sieht. Eine der Fraktionen des „Racket“ an der politischen Macht klebt sich die Label „sozial“ und „Standortsicherung“ an und betreibt eigentlich nur antisoziale, korruptive Politik, die den beschworenen Standort massiv beschädigt; die andere Fraktion schwätzt von „evidenzbasierter Politik“, betreibt aber auf grundsätzliche Weise „non-evidence-based politics“ fortgesetzter Anlassgesetzgebung – na und? Hauptsache, es geht medial „rein“ und der Souverän hält bei Heimat-Inszenierungen, Schweinsbraten, Knödel und Bier still.

Kochers Köcher

In die Pole-Position der Polit-Schausteller:innen jener Responsibilisierungs-Strategien des Sado-Liberalismus hat sich Arbeitsminister Kocher hinaufgearbeitet. Sein jüngster Coup bestand darin, einzufordern, den flexibel und atypisch, nämlich in Teilzeit Beschäftigten Familien- und Sozialleistungen zu kürzen, um zur Verrichtung einer Vollzeit-Erwerbsarbeit „anzuregen“ (die Zeitgeist-Vokale herzu lautet „nudging“), da dem Kapital die Arbeitskräfte ausgehen. Hallo, Kurzzeitgedächtnis? War es denn nicht die ÖVP, welche jahrzehntelang der Teilzeitarbeit und Flexibilisierung der Arbeitszeiten das Wort geredet hat? Und war es nicht das ÖVP-affine Institut für Familienforschung, welches die Teilzeitarbeit als Maßnahme zur Vereinbarkeit von Familie und Erwerb geadelt hat (Dörfler 2004)?

Fraglos ist der Befund des Arbeitskräftemangels triftig. Nach Pandemie, der „Great Resignation“ im Lichte der vor aller Augen ablaufenden Klimakatastrophe, der inneren Kündigungswelle angesichts prekarisierter Arbeitsbedingungen, dem Offenkundigwerden des Oxford-„Hoax“ der „47 % aller Jobs sind in 25 Jahren wegrationalisiert“-Erzählung (Frey/Osborne 2013) und der einsetzenden Pensionsübertrittswelle der „Babyboomer“ fehlt dem hiesigen „Branch“ der Megamaschine der Kapitalverwertung ausbeutbares Arbeitsvermögen. Auf der Suche nach Mehrwert stößt man indes unausweichlich auf das brachliegende „Humankapital“ – so der Hokuspokus-Slang der BWL – der überwiegend weiblichen teilzeitbeschäftigten Arbeitskräfte. Und „natürlich“ geht man an dieses Problem mit dem „Mindset“ der Peitscherlbuben der Disziplinar- und Kontrollgesellschaft heran. Und dieses sagt uns: Diese Leute „wollen einfach nicht“ (sich Vollzeit ausbeuten lassen). Also muss man auf das Instrumentarium der Sozialdisziplinierung setzen.

Allerdings sind diese brachliegenden Arbeitsvermögen und ihr Mehrwert-Potential nicht einfach deshalb bis dato unverwertet, weil ihre Träger:innen nicht wollen, sondern weil sie auch nicht können. Denn die Einzelkapitalisten setzen schlicht voraus, dass ihnen ausbeutbares Arbeitskräfte-Material beigestellt wird. Sohin ist es Aufgabe des ideellen Gesamtkapitalisten, Bedingungen (familiäre Reproduktion, Auf- und Wiederaufbereitung der Arbeitsvermögen, Care- bzw. Sorgearbeit) bereitzustellen, auf dass die Arbeitskräfte ihre Kraft zu Markte tragen. Der aber erledigt diese Aufgabe nicht bedarfsdeckend. Das ging sich bislang deshalb aus, weil Frauen, also jene, die der Arbeitsminister adressiert, den Agenten der Kapitalismusverwaltung, aber auch relevanten Teilen des Elektorates seit jeher als flexibles Reservoir („the last to hire, the first to fire“) des Arbeitsmarktes gelten. Auch das Murren über den hohen Gender-Pay-Gap hat man mühelos ausgesessen.

In dieser Dialektik von Wollen und Können gäbe es einerseits Stoff genug, um grundsätzlich über katholisch infizierte Familienleitbilder und Anti-Abtreibungs-Kampagnen, pronatalistische Mutterverdienstkreuz-Phantasien der ÖVP-Eliten oder völkische Geburten-Dschihad-Dystopien von seiten der FPÖ zu räsonieren. Das aber ist eine andere Baustelle. Im vorliegenden Zusammenhang müsste es dazu anregen, sich mit atavistischen patriarchalen Praktiken, unzureichend ausgebauten, nicht adäquat geöffneten, unleistbaren Kinderbetreuungseinrichtungen, inexistentem öffentlichen Verkehr und daraus resultierenden hohen Pendel-Belastungen, einem Spitzenwert des Gender-Pay-Gap oder diskriminatorischen Praktiken der Unternehmen nach Rückkehr aus einer Kindererziehungs-Episode zu beschäftigen. Und es zwänge, bei Licht besehen, auch dazu, sich zu fragen, warum Lohnarbeitskräfte in einer erwerbsarbeitszentrierten Ökonomie offenkundig Besseres im Sinne haben, als einen Gutteil ihres Lebens in einer Ausbeutungsstätte entfremdeter Arbeit zu verbringen. Jedenfalls wäre es ein Ansatzpunkt, sich mit Motiven der Verrichtung von Erwerbsarbeit zu befassen, einerseits mit Marxens Erwägung der „Lohnsklaverei“, also des stummen Zwangs der Verhältnisse, andererseits mit der Arendt’schen Unterscheidung von „Arbeiten“ und „Herstellen“, dazwischen aber auch mit der Csíkszentmihályi’schen Vorstellung des „Flow“, dernach wir eine Tätigkeit suchen, bei der wir bei uns sind und in der wir uns als gesellschaftliche Wesen vergegenständlichen können.

Modifizierter Taylorismus

Nichts dergleichen findet augenscheinlich in der Vorstellungswelt des Herrn Kocher statt. Hier geht es nicht um ein psychologisches Verständnis der Arbeitsmotive, ein soziologisches Verständnis der Arbeitsbedingungen oder ein der „Human Relations“-Schule entlehntes Menschenbild von sozialen Sinn suchenden Subjekten, sondern um eine modifizierte tayloristische Phantasie der Fabrik als Kasernenhof, der Arbeitskraft als „Loafer“, der faul, dumm und gefräßig dem Kapital auf der Tasche liegt, und, einmal aus dem Arbeitsleben ausgeschieden, der Allgemeinheit der Steuerzahlenden (die Klientel der ÖVP-Steuervermeidungsindustrie zählt hier ohnehin nicht dazu) zur Last fällt. Das ist nicht nur „disgusting“, sondern provoziert die Frage, wieso wir uns als Steuern zahlende Citoyen(ne)s derlei vor-empirischen Unsinn vom Sprechpult der politischen Dienstklasse zumuten lassen (müssen).

Sagt der Mensch doch tatsächlich, dass, um Vollzeitbeschäftigung attraktiver zu machen, ein treffsicherer Einsatz von Sozialleistungen und eine einkommensbezogene Sozialversicherungsbelastung zielführend wäre. Sozialrecht ist, scheint՚s, seine Sache nicht. Vorab: Auf Sozialleistungen bestehen noch weitgehend Rechtsansprüche. Treffsicherheit spielt im Sozialversicherungssystem keine Rolle. Wenn er das meint, soll er das auch sagen: nämlich dass sein Anliegen die Zerstörung des Kausalprinzips in der Sozialversicherung (Anknüpfen an der Ursache, also Unfall, Arbeitslosigkeit, Alter oder Krankheit) als einer bisher kollektiven, solidarischen, lohnbasierten Absicherung gegen typisierte Risiken ist. Und dass er selbiges durch das Finalprinzip (Bedarfsprüfung bei gleichzeitiger Anknüpfung an der Mitwirkung der betreffenden Person eines zu erreichenden sozialtechnologischen Ziels) ersetzen will. Kurz: Soziale Sicherheit wäre dann nur noch in der Logik der Sozialhilfe denkbar, wo Klient:innen an der Erreichung behördlich vorgegebener Zielsetzungen mitwirken müssen, um Leistungen zu erhalten. Zum Kotzen.

Ohnehin aber lässt sich derlei Gerede nur wenig Konsistentes entnehmen. Vielleicht wäre ihm damit geholfen, erst einmal zwischen Sozialversicherungs- und bedarfsgeprüften Leistungen zu unterscheiden. Denn Versicherungsleistungen sind nach der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (und seither auch in Österreich) eigentumsförmige Ansprüche. Da ließe sich dann auch lernen, dass im Sozialversicherungssystem (Pension, Leistungen nach dem Arbeitslosenversicherungsgesetz, Versehrtenrenten) u. a. das Äquivalenzprinzip gilt, demnach den Versicherungsleistungen die vorgängigen Arbeitsverdienste zugrunde liegen. Wer also vorher Teilzeit gearbeitet und daher auch weniger verdient hat, erhält auch geringere Leistungen. Dann wäre füglich darauf hinzuweisen, dass schon jetzt einem erheblichen Teil der ins Treffen geführten Sozialleistungen Bedarfsprüfungen zugrunde liegen, welche die ominöse „Treffsicherheit“ (das sozialpolitische Mantra der Rechten) ohnehin längst zu ihrem Gegenstand gemacht haben. Irgendwie schon peinlich, dies als Minister so augenfällig nicht zu wissen.

Noch übler wird es, wenn Herr Kocher ausführt, dass in Österreich zu wenig unterschieden wird bei „Familienleistungen, ob jemand 20 oder 38 Stunden arbeitet. Wenn Menschen freiwillig weniger arbeiten, dann gibt es weniger Grund, Sozialleistungen zu zahlen.“ Und das wird angesichts von 370.000 armen Kindern ausgeführt. Fraglos sollte er wissen, dass Teilzeitarbeit (in der ohnehin 70 % des Arbeitsvolumens einer Vollzeitbeschäftigung geleistet wird) vor allem darauf zurückgeht, dass Frauen Betreuungs- und „Care“-Pflichten (Kinder, pflegebedürftige Angehörige) übernehmen, weil in mehreren Bundesländern keine entsprechend geöffneten, leistbaren Betreuungseinrichtungen verfügbar sind, weil Arbeitgeber Lohnnebenkosten senken, indem sie keine Vollzeitbeschäftigung anbieten. Er sollte wissen, dass Frauen, die 80 % der Teilzeitbeschäftigten stellen, jetzt schon 40 % weniger Pension als Männer erhalten. Und er sollte vor allem wissen, dass der VfGH die verfassungsrechtlich zulässige/angezeigte Höhe der Familienbeihilfe eben nicht am Erwerbseinkommen von Eltern anknüpft, sondern an 50 % der durchschnittlichen Aufwendungen, die mit der Versorgung von Kindern einhergehen. Entweder er weiß es nicht, kann seinen Zynismus nicht zügeln oder lügt. Das ist wenig unterhaltsam und nicht „ministrabel“.

Treffsicher spart Herr Kocher dabei aus, was eigentlich auf der arbeits- und sozialpolitischen Tagesordnung steht, nämlich existenzsichernde Löhne in einer flexibilisierten, Family-Worklife-Balance ermöglichenden Vier-Tage-Woche (32–36 Stunden) mit vollem Lohnausgleich so durchzusetzen, dass dies von Klein- und Mittelbetrieben bewältigt werden kann, die 90 % aller Betriebe in Österreich stellen und zu 45 % auf ökonomisch dünnem Eis (kein/wenig Eigenkapital; geringe Entnahmen) stehen. DAS wäre die eigentliche Herausforderung.

Literatur

Dörfler, S. (2004): Die Wirksamkeit von Arbeitsbedingungen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Erwerb, ÖIF-WP 36/2004, Wien.

Frey, C. / Osborne, M. (2013): The Future of Employment. URL: https://www.oxfordmartin.ox.ac.uk/downloads/academic/The_Future_of_Employment.pdf

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