Robert Jungk – Ururenkel des Ahasver

von Maria Wölflingseder

Robert Jungks 550 Seiten starke, 1993, im Jahr vor seinem Tod erschienene Autobiografie „Trotzdem – Mein Leben für die Zukunft“ gibt nicht nur Auskunft über sein Leben und seine Tätigkeiten, sondern gewährt auch tiefe Einblicke in das 20. Jahrhundert mit all seinen epochalen Katastrophen, aber auch emanzipatorischen Möglichkeiten. Jungk hatte wohl eine besondere Gabe, die Welt, die Menschen, die Lebensumstände sinnlich wie auch analytisch präzise wahrzunehmen. Der erste Teil des Buchs bietet aufschlussreiche Perspektiven und Aspekte über die Zeit vorm Zweiten Weltkrieg. Lebhaft beschreibt er die gesellschaftliche „Hochstimmung“, in der kaum jemand die nationalsozialistische Gefahr ernst genommen hat. Nie war die Theater- und Filmbegeisterung, der Enthusiasmus für die großen Boxkämpfe und die nächtlichen Prämienjagden der Berufsradler des Sechstagerennens größer als kurz vor der Machtübernahme Hitlers. „Die fanatischen, immer gewaltsameren politischen Auseinandersetzungen wurden im Grunde auch als Drama, als Sensationsfilm, als Sportmatch erlebt.“ (S.89)

Rasender Reporter wie Egonek

Schon als Kind packte den kleinen Robert der „Wandertrieb“. Seine „wirkliche Schule“ war „diese aufgeregte, ausgedehnte und unheimliche Großstadt Berlin“. Sie schien ihm „so riesig wie ein ganzes Land, so wechselvoll wie ein Kontinent“. Ohne Wissen der Eltern „reiste“ er mit der Straßenbahn durch entfernte Berliner Stadtteile. Auf dem zugigen Vorderperron stehend, fuhr er durch Fabrikgelände und Geschäftsstraßen, durch alte und neue Wohnviertel und durch die noch fast ländlichen Gegenden. Zunächst nur als neugieriger Zuschauer, bald aber als eifrig notierender Beobachter. „Denn seit einiger Zeit stand für mich fest, dass ich ,rasender Reporter‘ werden wollte. Wie ein alter Prager Freund meines Vaters namens Egon Erwin Kisch.“ Er war voller Stolz, diese Berliner Berühmtheit zu kennen. Wenn die Eltern Egonek – wie er genannte wurde – etwas Essbares aus der Küche ihrer fleißigen böhmischen Köchin in die nahe gelegene Wohnung überbringen lassen wollten, drängte er sich gerne als Bote auf. „Ich liebte diese halbdunklen Zimmer mit ihren Türmen von Zeitungspapier und war dankbar für die einfache kameradschaftliche Art, in der sich dieser ,große Mann‘, den ich im Bademantel oder in Hemdsärmeln, telefonierend, diktierend oder einmal auch wütend seine Gefährtin anschreiend kennengelernte, mit einem jungen ,Lausbuben‘ wie mir von gleich zu gleich unterhielt.“ (S.29)

Auch Robert Jungk wurde ein passionierter Zeitungsleser. „Zeitungen waren bei uns zu Hause fast so wichtig wie Lebensmittel. Sobald ich lesen konnte, war ich immer der erste, der noch barfuß zur Wohnungstür lief und die beiden Morgenzeitungen, die unter die Tür geschoben worden waren, durchblätterte. So konnte ich den Eltern beim Frühstück erzählen, ,was los war‘. Das hat mir niemand beigebracht. Die Liebe zu den frisch bedruckten Blättern war ganz spontan und wurde bald zur Leidenschaft.“ (S.36)

Welche Studienrichtung Jungk einschlagen wollte, dessen war er sich nach dem Abitur noch nicht sicher. Er besuchte Philosophie- als auch Geschichte-Vorlesungen. Am liebsten hielt er sich jedoch in der Preußischen Staatsbibliothek auf. Hier fand er „Zugang zu einem unerschöpflichen Reichtum“, den er in den Vorlesungen und Seminaren vermisste. Besonders die Zeitschriften-Lesesäle zogen ihn an – mit den neuesten Periodika aus den verschiedenen Fachgebieten. Bereits als junger Student fragt er sich, „welch einem in seiner Unvollständigkeit unwissenschaftlichen Bild der Wirklichkeit hingen die angeblich so exakten Wissenschaftler an, wenn sie über Einzelkenntnisse die Vielfalt und die großen Zusammenhänge vernachlässigten?“ (S.81) Die Ablehnung von Spezialistentum und Expertenherrschaft ist ein wichtiges Merkmal, das Jungk mit seinen Mitstreitern Erwin Chargaff und Ivan Illich teilt.

Das hilflose Erdulden als würdelos entlarven“

Robert Jungk berichtet auch über Erfahrungen und Erlebnisse, die seinen Lebensweg bestimmten. Vor allem die erlebte Ohnmacht gegen das Naziregime – Familienangehörige wurden ebenfalls ermordet – war ein lebenslanger Antrieb für sein Wirken. Es gab aber auch eine Erkenntnis, die ihn wie ein Blitz getroffen hat. Im zweiten oder dritten Jahr nach seiner ersten Flucht im März 1933 aus Deutschland traf er im Pariser Flüchtlingsfoyer am Parc de Luxembourg einen Schicksalsgenossen namens Litwin, der behauptete, Ahasver, jene mythische Figur des „ewigen Juden“, sei nicht eine negative, bedauernswerte oder hassenswerte Erscheinung, sondern ein durch Leiden Erfahrener, Berufener, den Unbekümmerten und Ahnungslosen die Augen zu öffnen. „Wir alle hier in diesem Raum sind die Ururenkel des Ahasver“, verkündete der Mann mit dem gewaltigen Haarschopf, der sein ausgemergeltes Gesicht als wirrer Heiligenschein umgab. Zugehört hat ihm selten jemand, wenn er wieder einmal seine Weisheiten von sich gab. Jungk jedoch hat diese Umkehrung des jüdischen Schicksals tief geprägt: „Wir waren nicht mehr nur Opfer eines sinnlosen Schicksals. Es war uns aufgegeben zu warnen, zu beunruhigen, lästig zu fallen. Denn nur der Verstörte wagt zu stören. Das kann eine produktive Störung sein. … Sie kann Gleichgültigkeit erschüttern, die Resignation, die Bequemlichkeit, das hilflose Erdulden als würdelos entlarven. Wer nicht zu sprechen, nicht aufzustehen, nicht zu widerstehen wagt, den beschämt Ahasver, der sich weiterschleppende Geschundene, durch das Beispiel seines Lebensmuts …“ (S.130)

Viele Jahrzehnte später war Jungk auch klargeworden, wie entscheidend der Jugendbund, eine Gruppe innerhalb der jüdischen Jugendbewegung, für seinen ganzen weiteren Weg war. Heimabende, Wanderungen, Abenteuerfahrten und vor allem endlose intensive Diskussionen prägten diese wichtige Zeit. „Die Erinnerungen an die kleine, durch persönliche Freundschaften und einen eigenen beispielhaften Lebensstil verbundene Gruppe und die Liebe zur schon damals vom industriellen Aufschwung bedrohten Natur wurden zu Leitsternen meiner Existenz.“ (S.48)

Robert Jungk tauschte sich nicht nur mit unglaublich vielen Menschen aus – bei ungezählten Vorträgen, Diskussionen, Zukunftswerkstätten, Demonstrationen, Buchpräsentationen, bei seinen aufwändigen Recherchen in aller Welt –, sondern er nahm sich auch Zeit, Freundschaften zu pflegen. Nachdem er sich 1970 nach Aufenthalten an vielen verschiedenen Orten für den Rest seines Lebens in Salzburg niedergelassen hatte, blieb es nicht aus, dass zwei ähnlich denkende kritische Geister sich über den Weg liefen. Auch mein Vater, der Lehrer und Schriftsteller Kurt Wölfflin, zählte zu Jungks Freunden. Zu Ostern 1974 war er das erste Mal bei uns zu Besuch.

Ein Weckruf

Einen besonderen Freund lernte Jungk nach seiner zweiten Flucht aus Deutschland in Prag kennen. Dort verbrachte er ab November 1936 fast eineinhalb Jahre, in denen er mit sehr vielen Menschen in Kontakt kam. Einer, der bis zu seinem Lebensende – unterbrochen nur durch einige Zeit wegen politischer Differenzen – ein vertrauter Gefährte bleiben sollte, war ein junger Maler, der ebenfalls aus Berlin stammte. Dieser konnte nicht begreifen, dass jemand mitten im Flüchtlingselend sich, wie Jungk, immer noch eine gute Zukunft ausmalte. Aber vermutlich war es gerade diese zuversichtliche Geisteshaltung, die ihn anzog. „Wir hatten uns in der Pause eines Bruno-Walter-Konzerts kennengelernt. Ob ich ihn zuerst ansprach oder er mich, haben wir nie geklärt. Im Gedränge gingen wir aufeinander zu, als seien wir verabredet, wechselten ein paar Worte über unsere Eindrücke, und damit begann ein Gespräch, das monatelang kaum mehr abriss …“ (S.145) Der neue Freund hieß Peter Weiss, der spätere Autor des dreibändigen Werks „Die Ästhetik des Widerstands“ (1975 bis 1981). In diesem Roman reflektiert er die Debatten und Konflikte innerhalb der kommunistischen und antifaschistischen Bewegung zur Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft.

„Trotzdem“, dieses Buch von Robert Jungk, ist nicht nur ein persönliches Vermächtnis und eine höchst lebendige Zeitgeschichte, sondern auch ein Weckruf, eine Aufforderung.

Robert Jungk: Trotzdem – Mein Leben für die Zukunft, (1993), 1994. Nur antiquarisch erhältlich.

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