Die Notwendigkeit dessen, was unnötig ist

von Emmerich Nyikos

 

Meinst du, es mache nichts aus, ob du selbst deine Leiden verschuldest oder das Schicksal?“

(Horaz, Satiren)

1.

Die Notwendigkeit eines Tresors resultiert aus dem Besitz von Juwelen. Wer keine Juwelen besitzt, braucht auch keinen Tresor, um sie vor Diebstahl zu schützen. Die Notwendigkeit des Tresors bezieht sich hier nur auf den Schatz, sie ist ganz und gar relativ in Bezug auf diese Sache. Verkauft man seine Juwelen, dann fällt auch der Grund für den Safe weg, er ist nicht mehr nötig, allein, er löst sich dadurch nicht in Luft auf: Er steht noch herum, bis auch er, weil entbehrlich, verkauft wird.

Notwendig in einem beschränkten, relativen, finalistischen Sinne ist das, was sich in Relation zu einem Faktum ergibt, das, um Bestand haben zu können, eines Umstands bedarf, der diesen Bestand garantiert. Es ist notwendig für dieses Faktum. Davon zu unterscheiden ist die Notwendigkeit in unbeschränktem, absolutem oder intrinsischem Sinn, nämlich der Tatbestand, dass eine Sache aus einem Grund resultiert – und zwar gezwungenermaßen –, ohne dass diese Sache für diesen Grund Relevanz haben würde. Sie ist notwendig, und zwar absolut, an und für sich, eben weil sie für den Grund ihrer selbst unerheblich, belanglos, bedeutungslos ist.

In beiden Fällen ist es nun so, dass, wenn der Grund wegfallen sollte, dass dann sich zugleich auch die Notwendigkeit der Sache verliert, allein, im letzteren Fall löst sie sich prompt mit dem Grund auf, während sie im ersteren Fall durchaus noch längere Zeit fortleben kann, wenn auch dann ganz ohne Grund.

Wasser, wird es erhitzt, erhöht seine Temperatur. Dies ist eine notwendige Wirkung der Hitze, notwendig jedoch nicht für die Wärmequelle, da die Wassertemperatur für die Wärmezufuhr an und für sich bedeutungslos ist: Sie braucht, um zu sein, nicht des kochenden Wassers. Indessen, stellt man den Heizkörper ab, so sinkt sogleich auch die Temperatur, eben weil der Grund dafür schwindet. Geht es hingegen darum, Wasser zum Kochen zu bringen, dann muss man das Wasser erhitzen. Die Hitze erweist sich als nötig, aber nicht an und für sich, sondern nur im Hinblick auf das Kochen des Wassers. Kocht nun das Wasser und stellt man den Kochtopf vom Herd, dann braucht man die Hitze nicht mehr, sie wird durchaus entbehrlich, auch wenn dies nicht unbedingt heißt, dass der Ofen dann auch sogleich abgedreht wird.

Wenn eine Sache verschwindet, für die eine andere notwendig ist, dann fällt auch die Notwendigkeit dessen, das sich als notwendig für diese Sache erwies, dem Verschwinden anheim, auch wenn dies nicht unbedingt auch für die Existenz dessen gilt.

Oder, um ein simples Beispiel aufzugreifen: Wer Nahrung zu sich nimmt, führt Energie dem Organismus zu und erhält ihn somit, sofern dieser nicht in irgendeiner Hinsicht defekt ist. Die Reproduktion des Organismus ist notwendig genau in dem Sinn, dass es anders nicht sein kann. Ebenso muss, wer überleben will, essen und trinken; die Nahrungsaufnahme ist hier allerdings notwendig nur im Hinblick darauf, dass man den Organismus erhält, nicht absolut, insofern man ja genauso gut auch verhungern oder wenigstens sich als ein Hungerkünstler betätigen könnte.

Immer dann also, wenn Alternativen existieren, hat man es mit relativen Notwendigkeiten zu tun. Diese sind allerdings, sind bestimmte Prämissen gegeben, oft ebenso eisern wie die intrinsischen Typs. Denn wer verhungert schon freiwillig gerne?

2.

Die Notwendigkeit im Kontext der Geschichte ist stets relativ: Um Parameterwerte, die sich als elementar mit Bezug auf eine gegebene Gesellschaft erweisen, innerhalb eines bestimmten Bereichs, der durch die Stabilität des Systems definiert ist, zu halten, muss dies oder das – je nach den gegebenen Bedingungen – sein. Oder anders gesagt: Die Notwendigkeit einer Sache ergibt sich aus einem Umstandskomplex, der dieser Sache bedarf, damit er Bestand haben kann. Aus A folgt nicht unbedingt B, sondern B ist notwendig nur hinsichtlich A.

Spaltet sich die Gesellschaft in Klassen, sobald ein bestimmtes Produktivkraftniveau erreicht worden ist, so bedarf es des Staates als eines Organs der dominierenden Klasse, um die Struktur des Transfers von Surplus à la longue aufrechterhalten zu können. Der Staat ist notwendig demnach, aber nicht an und für sich, sondern nur mit Bezug auf die Klassengesellschaft. Darüber hinaus entsteht er nicht automatisch (so wie der Anstieg der Temperatur sich aus der Erhitzung ergibt), denn auch wenn er für die sich bildende Klasse von Privateigentümern erforderlich ist, so heißt das nicht unbedingt auch, dass die Staatlichkeit sich deswegen durchsetzen würde. Es könnte ebenso sein, dass der Versuch kläglich scheitert, womit sich dann aber auch der Ansatz zu einer Klassengesellschaft zurückbilden würde.

Insofern, als in den antiken Städten die unteren Klassen zum Kriegsdienst unerlässlich sind (weil aufgrund der relativen Größe der polis oder civitas nur so die Verteidigung oder der Angriff, was die Truppenstärke betrifft, adäquat organisiert werden können), erscheint es angebracht, die De-facto-Versklavung durch Schuldknechtschaft abzuschaffen (oder erst gar nicht entstehen zu lassen), denn Sklaven kann man nun einmal mitnichten bewaffnen, das versteht sich von selbst. Daraus resultiert wiederum, dass fremde Sklaven eingeführt werden, um in den Bergwerken des Staates und auf den Latifundien der Oligarchie Zwangsarbeit zu verrichten, Sklaven, für deren Nachschub dann glücklicherweise (und wie von der Vorsehung geschickt inszeniert) die beständigen Kriege in Überfluss sorgen. Die Kaufsklaverei in Athen oder Rom ist notwendig demnach, aber nicht an und für sich, sondern nur im Hinblick auf eine gegebene historische Lage: im Hinblick darauf, dass auch weiterhin die herrschende Klasse von Arbeit befreit bleibt.

Umgekehrt ergibt sich zu Beginn der feudalen Epoche, dass, weil sich seit den Tagen Karl Martells das Militärwesen ändert, in dem Sinne nämlich, dass von diesem Augenblick an gepanzerte Reiter die Hauptstreitmacht bilden, die fränkischen Freien, Besitzer einfacher Hufen, die bis zu diesem Moment als Fußvolk das Hauptkontingent der fränkischen Heeresmacht stellten, nicht mehr am Krieg teilnehmen können, insofern es für sie unmöglich ist, sich, so wie die „Großen“, die kostspielige militärische Rüstung zu leisten. Sobald sie aber nun nicht mehr waffenfähig sind, sind sie der Willkür der potentes ausgeliefert – die natürlich nicht zögern, die Situation auszunutzen –, einer Klasse von Grundherren, denen die „Freien“ sich mit der Zeit „kommendieren“, wodurch sie auf das Niveau von „Hörigen“ sinken: gezwungen demnach, Abgaben und Dienste an einen Grundherrn zu leisten, die es diesem erlauben, sich ganz dem Krieg oder dem Beten zu widmen. Die Feudalisierung der Hufen ist also notwendig nur in dem Sinne, als dadurch eine Inkonsistenz der Gesellschaft entfernt wird.

3.

Historische Notwendigkeit ist, wie wir sahen, nicht absolut. Es gilt also nicht: Wenn A existiert, dann folgt daraus umgehend B (wobei hier A sämtliche Bedingungen für B denotiert), sondern andersherum: Wenn A sein soll, dann bedarf es des B. B ergibt sich nicht automatisch aus A, sondern es kann sich ergeben, weil es für A notwendig ist. Zumeist ist dies dann aber auch wirklich der Fall.

4.

Kommerz, Reklame, Marketing, Public Relations, Kundenservice, juristische Abteilungen, Lohnbüro, Börse, Banken, Insurance, Investment- und Finanzconsulting, Security, Arbeitslosen- und Armutsverwaltung, Zollbehörden, Handelsgerichte, Steuerwesen, Steuerfahndung, Steuerberatung, Preis- und Handelsstatistik – all dies, zusammen mit den Ressourcen sowie der Produktion, welche dafür die materielle Infrastruktur generiert, ist notwendig, nötig und nicht aus der Gesellschaft, so wie sie ist, wegzudenken; es ist indessen notwendig nur, weil die bürgerliche Gesellschaft bürgerlich ist. Wäre sie nicht bürgerlich, so würde all dies unnötig sein, weil, im Grunde, niemand es braucht.

Machen wir ein Gedankenexperiment: Denken wir uns eine Gesellschaft, deren Produktion weitestgehend automatisiert worden ist, eine Gesellschaft, die auf dem Gemeineigentum an den Produktionsmitteln ruht und auf der Grundlage physischer Daten geplant wird – so etwa wie man die Zubereitung von Süßspeisen plant, nur ein wenig komplexer, mit Input-Output-Matrizen und Computerprogrammen –, wobei die finale Verteilung dann zwanglos durch die Entnahme der so gefertigten Güter aus Magazinen erfolgt – und zwar je nach Bedarf. In einer solchen Gesellschaft gäbe es weder Kommerz noch Reklame noch all die anderen Dinge, die notwendig eben nur deswegen sind, weil die bürgerliche Gesellschaft bürgerlich ist.

Wenn man davon ausgeht – und dies ist banal –, dass der tatsächliche Sinn der Produktion der Stoffwechsel mit der Natur, die Bereitstellung von Gebrauchswerten ist und keineswegs darin besteht, sich monetär zu bereichern, d.h. als ein Vorwand der Verwertung des Werts, der Profitmaximierung, zu dienen (sodass die Gebrauchswerte nur als „Kollateralfrucht“ erscheinen), dann braucht man, seitdem die Produktion automatisiert werden kann – und das ist Bedingung –, in der Tat all diesen Firlefanz nicht, er ist überflüssig und nutzlos, genauso wie eine Perversion. Denn ist es nicht durchaus pervers, eine Handlung zu setzen, die mit der Sache an und für sich gar nichts zu tun hat, die aber gesetzt werden muss, damit der eigentliche Zweck erreicht werden kann?

5.

Indessen, heißt das dann nicht, dass die „Arbeit“, die man in dieser Gesellschaft mit Blick auf die bestimmte Struktur derselben verrichtet, ebenso unsinnig ist? Und in der Tat: All die Plackerei diesbezüglich, der sich jene unterwerfen, die noch nicht permanent arbeitslos sind – wie kann sie sinnvoll sein, wenn der Beweggrund, auf dem sie basiert, im höchsten Grade absurd ist?

6.

Stellen wir hier en passant noch in Rechnung, dass die Mode, der ständige Wechsel von einem Modell hin zum nächsten, dass die geplante Obsoleszenz nicht nur ungeheure Ressourcenmengen verschlingen, sondern darüber hinaus, solange die Produktion noch nicht gänzlich automatisiert worden ist, auch noch Arbeitskraft binden, so erweitert sich der Kreis derer, die sinnlose Tätigkeiten verrichten, noch weiter, denn all die Produktion, die sich aus diesen Phänomenen ergibt, muss im Grunde nicht sein (und natürlich auch nicht die daraus sich ergebende Entsorgung des Mülls).

Damit aber noch nicht genug: Geht man von der Tatsache aus, dass der Verschleiß der Arbeitskraft im bürgerlichen System die Regeneration des Arbeitsvermögens auf eine spezifische Weise notwendig macht – durch seichtes Vergnügen –, so wird man einräumen müssen, dass auch die Tätigkeiten in diesem Geschäft, der Massenzerstreuung, im Grunde unsinnig sind. Denn da, wo die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit pro Person auf ein Minimum reduziert worden ist, bedarf es keines seichten Vergnügens, da die Arbeitskraft offenbar gar nicht regeneriert werden muss. Fernsehen, Videospiele, Sportspektakel, Popkonzerte, Love Parades und andere Events ähnlichen Typs – all das könnte man getrost einfach streichen (oder zumindest auf ein vernünftiges Maß reduzieren). Niemand würde es brauchen, sobald die Gesellschaft auf rationale Weise organisiert worden ist.

Und was Krieg und Rüstung betrifft, so erübrigt sich jede Bemerkung.

7.

Das Publikum indessen hängt an all diesem sinnlosen Tun, so wie ein Heroinsüchtiger nur mehr Appendix der Injektionsspritze ist. Die Absonderlichkeit besteht hier gerade darin, dass, um überleben zu können, das Arbeitsvermögen verkauft werden muss, denn nur so kommt man zu Geld, um sich die Dinge des Lebens beschaffen zu können. Die konkrete Tätigkeit dagegen spielt hier gar keine Rolle, sie kann sein, wie sie will. Und würde sie darin bestehen, während acht Stunden an einer horizontalen Stange zu hängen (wie in einem Achternbusch-Film), so wäre es auch recht.

Die Erwerbstätigkeit, weil es im Hier und im Jetzt anders nicht sein kann, ist indessen nicht nur ein Imperativ, sondern darüber hinaus wird sie zu einem fundamentalen Bedürfnis. Die Basis drängt diese Gesellschaft demnach, mehr und mehr solcher sinnlosen „Betätigungen“ zu schaffen – wozu sie jedoch sich ironischerweise gar nicht in der Lage befindet –, anstatt dass das Unvermögen dieser Gesellschaft, genau dies zu tun, als Anlass aufgefasst würde, ein für alle Mal den Zustand der Absurdität zu beenden.

Schließlich, um all dies auf die Spitze zu treiben, sieht man all diejenigen von allen Seiten scheel an, die aus dem „Arbeitsprozess“ eliminiert worden sind, so als ob diejenigen, die noch immer darin festgesetzt sind, nicht genauso ausgedient hätten, eben nur auf andere Weise. Kurz: Die bürgerliche Gesellschaft, insofern als sie sich schon längst überlebt hat, generiert sinnloses Tun, das sich indessen als Ausfluss von Pflichterfüllung geriert. Und dies muss so sein, denn niemand auch könnte, ohne aus der mentalen Balance zu fallen, auf lange Sicht Tätigkeiten verrichten, von denen er weiß, dass sie unsinnig sind.

8.

Notwendig in der Geschichte ist nicht, wie wir sahen, was anders nicht sein kann, denn es kann anders sein, sondern nur, was eben so und nicht anders sein muss, damit eine andere Sache genau diese Sache sein kann: Das sinnlose Tun, worauf sich die „Arbeit“ in der bürgerlichen Gesellschaft in ihrem Endstadium reduziert, muss also sein, aber nur, weil seiner das Warensystem – und allein dieses – bedarf.

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