Inflation der Werte

Dass wir etwas wert sein sollen und dazu Werte brauchen, ist das Selbstverständlichste auf der Welt. Ist es das?

von Franz Schandl

Allenthalben ist von Werten zu reden. Von Werten, die wir haben, oder welchen, die wir brauchen, von Wertewandel und Werteverfall und vor allem und unablässig von der Wertegemeinschaft. Denn die benötigen wir, unbedingt. Auch allen Asylwerbern würde sie artig bekommen. „Integration ist Pflicht – beim Spracherwerb, bei unseren Werten“, sagt der neue ÖVP-Generalsekretär Peter McDonald. Sein Parteikollege, der österreichische Außenminister Sebastian Kurz hat jetzt einen „50 Punkte – Plan zur Integration von Asylberechtigten und subsidiär Schutzberechtigten in Österreich“ vorgelegt. „Werte sollen erleb- und erlernbar werden“, heißt es dort. In achtstündigen Crashkursen will man die Immigranten auf ihre Pflichten festlegen. Bei fehlender Integrationsbereitschaft sollen bestimmte Sozialleistungen gekürzt werden. „Wo hinein gilt es sich zu integrieren?“, fragt der Integrationsplan. Das fragen wir uns auch.

Werte der Verwertung

Es war Günther Anders, der einst die „Werte“ auf eine schwarze Liste setzte: „In der Tat ist der barbarische Begriff, der aus der Finanzwirtschaft stammt, erst nach 1850 in die Philosophie und erst in den Zwanziger Jahren in die Trivialsprache eingedrungen“. Der Westen spricht von der Verteidigung der Werte und der Philosoph spricht von Barbarei. Wahrscheinlich haben beide recht. „Denn ebenso gehört es zum Totalitarismus (und zwar zum geheimen der sogenannten ,freien Welt‘ nicht weniger als zum offen politischen), dass er versucht, den zu verwertenden Menschen auf dasjenige festzulegen und zu ,beschränken‘, was an ihm verwertbar ist; dessen Totalität zu zerstören; denjenigen Menschteil, der evidentermaßen in der Leistung nicht aufgeht, ihm aber trotzdem anhängt, zu entkräften.“

Tatsächlich legt der Singular offen, was der Plural verschweigt. Der Begriff des Werts hat sich ausgehend vom ökonomischen Sektor in alle gesellschaftlichen Bereiche gebohrt. Wert ist zu einem substanziellen Terminus geworden. Wenn etwas etwas wert ist, ist etwas etwas wert. Wert gilt als das Positivum sui generis. Wert ist dem gesunden Menschenverstand eine zu bejahende Assoziation, keine kritische Größe. Hinter den Werten verbirgt sich die Verwertungspflicht. Es geht, so das Papier des Außenministers um „die rasche Selbstherhaltungsfähigkeit“.

Der Wert setzt die Werte. Er ist auch die zentrale Instanz des Selbstwerts. Bürgerliches Selbstbewusstsein verläuft auf einer Skala der Ab- und Aufwertung am Markt. Das jeweilige Einkommen regelt die Zugangs- und Beteiligungsmöglichkeiten, die auch über Integration und Desintegration entscheiden: Was haben? Wo dabei sein? Wie viel dürfen? Was darstellen? Die Achtung der Menschen erfolgt nicht direkt, sondern über die jeweiligen Wertigkeiten am Markt. Akzeptiert wird, wer sich verwertet. Jeder Wer ein Was! Wer kein Was, ein Nichts! Dieses Selbstwertgefühl sinkt rapide, wird der Einzelne vom Kapital nicht anerkannt. Nicht nur Arbeitslose und Immigranten spüren das, die aber ganz besonders. Dass zu Wert immer Mehrwert und Minderwert(igkeit) gehören, versteht sich von selbst, muss aber eigens erwähnt werden. Und natürlich geht es um In-Wert-Setzung, dem neoliberalen Subjekt ist die Selbstoptimierung seines Humankapitals oberste Pflicht und stete Aufgabe.

Im Wert steckt auch alles drin, was uns so gespenstisch vertraut ist: die Konkurrenz, das Wachstum, das Ranking, der Preisvergleich und natürlich der Preis selbst. Mit dem Wert und seinen geprägten Worten wird das Vokabular ökonomifiziert und unsere Vorstellungskraft kanalisiert. Beides lassen wir nicht nur zu, es fällt gar nicht als Besonderheit auf. So zu sprechen erscheint uns als selbstverständlich. Wir haben keine andere Sprache. Man denke bloß an all die infizierten (und oft kaum substituierbaren) Begriffe wie Wertschätzung, Wertschöpfung, Bewertung oder wertvoll. Und der Werteworte werden mehr: Werteschulungen, Wertekatalog, Werteerziehung, Wertevermittlung, Werte-Patenschaften, vielleicht könnte man noch einen Wertekataster anlegen, wo Wertebüros mit Werteschablonen den Werteindex (Selbstverwertungskoeffizienten) von Flüchtlingen und allen anderen Subalternen ermitteln.

In Werten zu denken, ist Form gewordener Inhalt, wo nur taugt, was ihnen entspricht. Dass Menschen arbeitslos und obdachlos, mittellos und hilflos werden dürfen, passt zu diesen Werten, das freie Niederlassungsrecht hingegen nicht. Dafür dürfen im Namen der Werte Länder bombardiert und missliebige Regimes zu Fall gebracht werden. Auch an den unfreiwillig in Moskau und in der ecuadorianischen Botschaft in London sitzenden „Dissidenten“ entpuppen und entzaubern sich diese Werte ganz fulminant.

Mission wie Emission der Werte sind geradezu das Grundproblem dieses Planeten, die Verwertung von Mensch und Natur ebenso wie die Entwertung ganzer Gruppen und Regionen. Die reine Gewalt, die sich an ihren auswegslosen Enden offenbart, ist in erster Linie Folge virulenter Wertexplosionen, die immer ihren Ausgang im Westen hatten. D.h jetzt nicht, dass wir hier in den Metropolen a priori bösartiger sind als die anderen, sondern bloß, dass unser Zerstörungspotenzial größer, weil entwickelter ist.

Wollen sollen

Das Eingeforderte wird fixiert und formatiert im Wert und seinen Werten. Darin verpackt die gemeine Verwertungspflicht. Es ist zwar übel, wenn Menschen nichts wert sind, aber schlimmer noch ist, dass Menschen überhaupt etwas wert zu sein haben. Dass eine ökonomische Abstraktion – der Wert – diese Gesellschaft beherrscht, Status und Rang der Mitglieder vorgibt und via Werte verfügen möchte, was wir wollen sollen.

Wer sich den Werten überlässt, gerät in die kapitalistischen Klapsmühle. Das Bekenntnis ist zu dechiffrieren als Bekenntnis zur westlichen Herrschaft. Wir agieren in diesem Betriebssystem, nicht immer freiwillig, aber doch willig. Wir sind auf Betriebstemperatur, obwohl wir nicht einmal wissen, was uns betreibt. Viele kochen über. Und hurtig diskutieren wir dann nicht mehr die Unverträglichkeit der globalen Zustände, sondern welche Flüchtlinge nützlich sind, was sie kosten, was sie dürfen, wie sie zu funktionieren haben und wie sie zu sanktionieren sind. Wert und Werte produzieren solche Debatten. Sie sind nicht frei. Gerade das wäre zu erkennen und zu hinterfragen. Warum sollen wir das wollen und warum möchten wir das allen anderen aufdrängen? Dass man wollen soll, was man wollen muss, ist eine Zumutung, egal ob für Ausländer oder Inländer.

Stattdessen sollten wir aber darüber sprechen, woran es fehlt und was es braucht: Gibt es genügend Deutschkurse um die Sprache zu erlernen? Gibt es genug Unterkünfte, damit niemand im Freien schlafen muss? Gibt es genug Verpflegung und Medikamente, um die Vertriebenen zu versorgen? Die Liste ist unendlich und sie hilft wohl um einiges mehr als das Gelaber von der nun Wertegemeinschaft genannte Leitkultur. Denn da wurde lediglich das dumpfe Wort gegen die abgefeimte Kategorie ausgetauscht.

Wir hier sind im Vergleich zu den Flüchtlingen keineswegs das geringere Problem. Das schiere Gegenteil ist richtig. Schon alleine davon auszugehen, dass wir die Geber und sie die Nehmer sind, ist absolut abwegig, Herrschaftsvergessenheit par excellence. Dass im zusehends globalen Ausnahmezustand die Aufnahmeländer großzügige Stifter sind, die Gegenleistungen einzufordern haben, ist dezidiert zu bestreiten. Bestenfalls verteilen Räuber Beutestücke an die Beraubten. Es besteht kein Grund zu dieser sittlichen Selbstadelung.

Von einer freundlicheren Seite zeigten sich einige europäische Länder, als sie für Momente ihre staatliche Autorität außer Kraft setzten und die Flüchtenden einfach passieren ließen. Menschlichkeit ging vor Grenzsicherung. Das ist doch was, aber den Werten wurde dabei nicht entsprochen, sie wurden sistiert. Daran gilt es anzuschließen. Merkel und Faymann ist zugute zu halten, dass sie vorerst nicht den Orban machten. Mit den diskutierten Obergrenzen drohen Law and Order ja wieder zurück zu kehren.

Das Papier des österreichischen Außenministeriums indes behauptet ganz starrsinnig: „Österreich hat einen etablierten Wertekanon, der nicht verhandelbar ist“. Die Wahrheit ist, dass dieser sich stets in Bewegung befindet und permanent auch verhandelt wird. Heute wird da ein anderer Kanon als 1965 oder gar 1915 Jahren gesungen. Hier soll eingefroren werden, was aufzutauen ist. Dass selbst die Werte sich wandeln, sollte als Binsenweisheit gelten.

Frauen sind nicht deshalb nicht zu vergewaltigen, weil es verboten ist. Um Kinder nicht zu schlagen, braucht man keine Werte; Menschlichkeit und Respekt, Anerkennung und Empathie reichen völlig. Werte und Bürgerliches Recht sind nur Krücken, die Freundschaft, Sorge, Nächsten- und Übernächstenliebe nicht ersetzen können. Übrigens ist es keine zwei Generationen her, dass Kinder nicht mehr körperlich gezüchtigt werden dürfen, und dass Frauen in der Ehe von der Vormundschaft ihrer männlichen Partner juristisch befreit worden sind. Das ist ein historischer Wimpernschlag. Führende christliche Politiker wie der ehemalige ÖVP-Generalsekretär Michael Graff gingen davon aus, dass es Vergewaltigung in der Ehe gar nicht geben könne. Auch in Deutschland war sexualisierte Gewalt bis 1997 als außerehelich definiert. Heirat wurde somit als Auslieferungsvertrag interpretiert. Politiker wie Horst Seehofer wollten das auch beibehalten. Man soll den Mund also nicht so voll nehmen. Mehr Demut statt Demütigung wäre angesagt.

Bei der unheimlichen Offensive der Werte geht es darum, die Reihen dicht zu schließen („Wir“) und die Anderen nicht als Handelnde sondern als zu Behandelnde („Ihr“) zu konstruieren, die man dann entweder erziehen oder ausschließen muss. Aufnahmekapazitäten sind jedoch keine Frage des Könnens, sondern des Wollens, das Miteinander eine Frage der gegenseitigen Zuneigung, nicht einer Secondhand-Staatsbürgerkunde. Da fadisieren sich Ausländer nicht weniger als Inländer. Flüchtlinge werden sich die verordneten Werteschulungen reinziehen, den Crash-Kurs über sich ergehen lassen, und das wird es dann auch gewesen sein.

Man kann ja auch nicht darüber abstimmen, ob das aktuell jetzt eine Völkerwanderung ist oder nicht. Hier entfaltet sich allerdings das Enorme und wie der Begriff schon sagt, setzt es Norm und Normalität außer Kraft. Das gilt es in seiner ganzen Tragweite zu erfassen. Was wir allesamt bitter benötigen, ist, dass die Menschen sich und die anderen leiden können, also Freude und Freundschaft, Bewusstsein und Reflexion, Kooperation und Verantwortung, Lust und Liebe. Aber in der ideologisch aufgeladenen, ja rassistisch vergifteten Atmosphäre ist das schwer zu begreifen. Außerdem lässt sich damit kein Krieg führen. Vom Werteritter zum Wertekrieger ist der Weg ja nicht weit.

Die Frage hingegen, welche Werte wir brauchen, ist einfach zu beantworten: Keine!

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