Kein Staat zu machen oder: Warum Keynes unsexy ist

Streifzüge 49/2010

von Petra Ziegler und Andreas Exner

Die Krise gilt großen Teilen der Linken als Spätfolge politischer Entscheidungen, deren Korrektur mehr als überfällig ist. Entsprechend harsch fällt das Urteil gegen die herrschende politische Klasse aus: wenig einsichtig, unwillig, hörig gegenüber den Interessen der Finanzindustrie.

„Obwohl die gegenwärtige Lage durch geringes und unsicheres Wachstum bei abnehmender Beschäftigung gekennzeichnet ist, geht die Regierung wieder zur neoliberalen Tagesordnung über“, beklagt die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik in ihrem MEMORANDUM 2010 (www.memo.uni-bremen.de) und hält resignierend fest: „Die aus der Not geborene aktive Krisenbekämpfung stellt allerdings keineswegs einen Paradigmenwechsel der herrschenden Politik dar.“

Die Allianz für alternative „Wege aus der Krise“, ein Zusammenschluss aus Attac Österreich, mehreren Menschenrechts- und Umweltschutzgruppen und Gewerkschaften, hat ebenfalls „genug von dieser Politik“ und vermisst „echten“ Reformwillen seitens der Regierungen. Weil aus der Krise nichts gelernt wurde – so der gemeinsame Tenor –, würden seitens der politischen Machthaber immer noch „einseitig die Interessen der Reichen bedient“.

Von der heilsamen oder verderblichen Wirkung staatlicher Einflüsse war bereits John Maynard Keynes überzeugt. Ihm galt der Staat als „bestimmender Agent“, dessen Tätigkeit in die eine oder andere Richtung wesentlich beeinflusst werden kann. Die Mehrheit der heute in Gewerkschaften und Globalisierungskritik Aktiven ebenso wie die meisten linksorientierten Ökonom_innen teilen diese Sichtweise. Staatliches Handeln wird interpretiert als Ergebnis widerstreitender Interessen, ebenso gut auf das naiv verstandene „Allgemeinwohl“ gepolt, wie dagegen. Ein vermeintlich fehlgeleitetes Verhalten der staatlichen Akteure wird auf eine Schieflage politischer Kräfteverhältnisse zurückgeführt, der es vor allem mittels „Demokratisierung“ entgegenzuwirken gilt. Der Staat erscheint gleichsam als neutrale Instanz in einem ungesellschaftlichen Außerhalb, die – entsprechende Einsicht und Vernunft ihres Personals vorausgesetzt – als Korrektiv gegen die selbstzerstörerischen Tendenzen und Zwänge des Marktes angerufen werden kann.

Weiter so, nur „anders“?

Unter dem Motto „Überfluss besteuern, in die Zukunft investieren!“ appelliert die Kampagne der zivilgesellschaftlichen Allianz (www.wege-aus-der-krise.at) an eben diese Vernunft der Regierenden, um sie in keynesianisches Fahrwasser zu lotsen. Mit umfassenden Investitionen in öffentlichen Verkehr, thermische Sanierung, Bildung, Gesundheit, Pflege etc. und „auch mit einer Kürzung der Arbeitszeit“ erhofft sie sich „Antworten auf die soziale Dimension der Krise“ und die Grundlage für „ein gutes Leben für alle“.

Beinahe gleichlautend fordert die Memorandum-Gruppe ein „mittelfristig angelegtes Zukunftsinvestitionsprogramm“: mehr Beschäftigte im öffentlichen Bereich, „sozial-ökologische Regulierung“, einen „Umbau der Wirtschaft in Richtung demokratischer Strukturen, weg vom heute einseitig vorliegenden Machtdiktat des privaten Kapitals“. Die alternativen Wirtschaftsweisen wähnen mit ihren Forderungen einen „Entwicklungsweg“ befördert, der „Wachstum und Wohlstand“ nicht vorwiegend „in Beton gegossen“ sehen möchte. Die „Allianz“ wiederum verspricht sich „erste Schritte in Richtung eines ökologisch nachhaltigeren Wirtschaftssystems“. Mittel und Zweck, da wie dort, die Schaffung bzw. Sicherung von Arbeitsplätzen.

Mit jeweils deutlichen Anklängen an den „Green New Deal“, ansonsten ganz gemäß dem klassischen keynesianischen Ansatz soll via Erhöhung der öffentlichen Nachfrage für mehr Beschäftigung gesorgt und über die so gesteigerte Massenkaufkraft die Konjunktur in Schwung gebracht werden. 250.000 neue Arbeitsplätze errechnet die „Allianz“ auf ihrem Weg aus der Krise.

Verengung auf Verteilungsfragen

Nicht „ein Herumdoktern an Symptomen“ nimmt das Programm der Memorandum-Gruppe für sich in Anspruch, „sondern eine Beseitigung der Krisenursachen“. Sie versteht „alternative Wirtschaftspolitik“ als „Gegenstück zu den neoliberal gewollten Umverteilungen von unten nach oben“, in denen – im Verbund mit Entstaatlichung und Deregulierung – die wesentlichen Ursachen für die aktuelle Krise gesehen werden.

Auch für Attac & Co. setzt „ein gutes Leben für alle“ vorderhand ein Umleiten von „Überfluss“ in „sinnvolle“ Bahnen voraus. Mit Nachdruck wird eine „gerechtere Verteilung von Einkommen und Vermögen“ eingefordert. „Überfluss“, hier freilich rein monetär gedacht, soll via deutlich erhöhter Steuern auf Gewinne und Vermögen abgeschöpft, „sinnvoll“ investiert und sohin zur Bedürfnisbefriedigung aller nutzbar gemacht werden.

Der Selbstzweck der kapitalistischen Verwertung (als solcher unangetastet) wäre somit in den Dienst der Allgemeinheit gestellt. Die Frage der – politisch richtig oder falsch gesteuerten – Distribution wird ganz zu Unrecht zur eigentlichen „Systemfrage“ aufgeblasen, die in der kapitalistischen Produktionsweise selbst wurzelnden Widersprüche und Irrationalitäten dagegen bleiben ausgeblendet.

Zielt die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik mit ihren Vorschlägen vorrangig auf den Schutz „des Systems“ vor sich selbst („Es wird einfach nicht begriffen, dass die von Gier getriebenen Spekulationen auf den Finanzmärkten negative Effekte für die Wirtschaft und die Gesellschaft auslösen, ja, eine Systembedrohung darstellen“), so sei Attac & Co. hier freundlich unterstellt, eine Überwindung des marktwirtschaftlichen Konkurrenzsystems zumindest anzustreben. Unglücklicherweise über den Versuch von dessen Reanimation.

Geradezu beschworen wird die „Zurückführung“ des Finanzsektors auf eine „dienende“, seine „eigentliche“ Funktion. „Die Gewinnorientierung hat die Banken von ihren angestammten Aufgaben weggeführt. Anstatt kostengünstige Finanzierung für realwirtschaftliche Aktivitäten bereitzustellen, haben sie aus Profitorientierung ein gefährliches globales Finanzkasino errichtet.“

Gerade so, als ob „realwirtschaftliche Aktivitäten“ jenseits der Gewinnlogik angesiedelt wären und der ersehnte, reregulierte Kreditfluss nicht zuvorderst die Akkumulation über die Reinvestition bereits realisierter Gewinne hinaus ermöglichte, nichts anderes als die Maximierung des Profits. Komfortable Bedingungen dafür zu schaffen, wäre denn wohl auch in Zukunft erste Pflicht einer „anderen Politik“, andernfalls wäre an Abschöpfung ja erst gar nicht zu denken. Wobei die Frage erlaubt sei, wo die neu zu beackernden Felder privatwirtschaftlicher Aktivität zu orten wären. Waren doch die bereits in der Vergangenheit eher mauen Gewinnaussichten in der vielgepriesenen „Realwirtschaft“ – also der Ausbeutung lebendiger Arbeitskraft in der Selbstzweckmaschinerie des Profits – ursächlich für den Run auf das „Kasino“. Die genannten Hoffnungsgebiete Bildung, Gesundheit und Pflege können es wohl nicht sein, sollen diese Bereiche doch gerade nicht profitlogisch zugeschnitten werden.

Kapitale Abhängigkeit

Was sagt der Meister selbst? Keynes, in einem Essay über die „wirtschaftlichen Möglichkeiten unserer Enkelkinder“: „… es mag bald ein Punkt erreicht werden, an dem diese Bedürfnisse in dem Sinne befriedigt sind, dass wir vorziehen, unsere weiteren Kräfte nicht-wirtschaftlichen Zwecken zu widmen.“

Die „Enkelkinder“, ganz im fröhlichen Glauben, die Akkumulation des Kapitals sei sich selbst nicht genug, sondern stehe tatsächlich zuvorderst im Dienste der Deckung dringlichen Bedarfs, pochen auf dessen zweckdienliche Verwendung. So als wäre das Kapital nur fehlgeleitet, irgendwie an seiner wirklichen Aufgabe vorbei. Als wäre nicht stockende Kapitalverwertung der historische Kern der Krise, der im Profitratenfall der 1970er Jahre und den polit-ökonomischen Reaktionen darauf (Reallohnstagnation, Finanzmarktliberalisierung etc.) zu suchen ist, sondern würde das Kapital seiner tatsächlichen Bestimmung nur böswillig vorenthalten und so als sei, wären die „absoluten“ (Keynes) Bedürfnisse erst einmal gestillt, der Hunger nach Akkumulation ebenso Vergangenheit.

Solcherart Vorstellung vom „guten Leben“ entpuppt sich als nicht viel mehr als die nostalgisch verklärte Erinnerung an vorgeblich „bessere“ Zeiten. An die Jahre der anschwellenden Massenproduktion und der massenweisen Vernutzung menschlicher Arbeitskraft – damals, als die Marktwirtschaft noch „sozial“ und die Verteilung zwar auch irgendwie ungerecht war, aber eben nicht so sehr, dass die Mehrwertproduktion selbst dabei in Bedrängnis geraten wäre.

Keynes selbst – das ist ihm gegenüber den meisten seiner Adept_innen zugute zu halten – vertrat immerhin keine gänzlich unkritische Vorstellung wirtschaftlichen Wachstums oder der Lohnarbeit. Ein Umstand, der in der heterodoxen Keynesdebatte hervorgehoben wird. So meinte Keynes etwa 1930 in dem oben genannten Essay, dass „das wirtschaftliche Problem innerhalb von hundert Jahren gelöst sein dürfte …“, nahm aber an, dass „für lange Zeiten … der alte Adam in uns noch so mächtig sein (wird), dass jedermann wünschen wird, irgendeine Arbeit zu tun, um zufrieden sein zu können. … Mit Drei-Stunden-Schichten oder einer Fünfzehn-Stunden-Woche kann das Problem eine ganze Weile hinausgeschoben werden. Denn drei Stunden am Tag reichen völlig aus, um den alten Adam in den meisten von uns zu befriedigen!“

Das war freilich die langfristige Perspektive von Keynes. Auf absehbare Zeit sollte der Staat dagegen danach trachten, Vollbeschäftigung durch eine entsprechende Investitionspolitik zu schaffen – ein Programm, das Keynes in der „General Theory“ von 1936 skizziert: „Der Staat wird einen lenkenden Einfluss auf die Konsumneigung teils durch sein Steuersystem, teils durch die Fixierung des Zinssatzes, teilweise vielleicht noch auf andere Weise auszuüben haben“. (Übers. aller Zitate A.E.) Da Keynes dem Bankensystem nicht zutraut, den Zinssatz im Sinn der „optimalen Investitionsrate“ zu manipulieren, schlägt er einen weitergehenden Ansatz vor: „Deshalb, so denke ich, wird eine ziemlich vollständige Sozialisierung der Investitionen sich als das einzige Mittel erweisen, annähernde Vollbeschäftigung zu erreichen; dies schließt nicht notwendigerweise alle möglichen Arten von Kompromissen und Instrumenten aus, mit der die öffentliche Gewalt mit der privaten Initiative kooperieren wird“. Im selben Atemzug verwahrt Keynes sich freilich gegen ein „System des Staatssozialismus“ und hält fest: „Es ist nicht das Eigentum an Produktionsmitteln, das der Staat in die Hände bekommen muss“.

Doch auch in der „General Theory“ kommt Keynes auf eine Perspektive zu sprechen, die nicht in das übliche Bild keynesianisch inspirierter Politik passen will, dass nämlich der Zinssatz langfristig gegen Null gehen müsse: „Ich bin mir sicher, dass die Nachfrage nach Kapital strikt limitiert ist, und zwar in dem Sinn, dass es nicht schwierig wäre, den Kapitalstock bis zu dem Punkt auszudehnen, wo seine Grenzeffizienz auf einen sehr tiefen Wert gefallen wäre. Das würde bedeuten, dass die Nutzung der Produktionsmittel fast nichts mehr kosten würde…“. Unter diesen Umständen, so meint Keynes, würden die Einnahmen der Unternehmen nur mehr die Produktionskosten plus einen Aufschlag für Managementaufgaben und das Risiko ausmachen, und er schließt daraus: „Obwohl nun diese Lage der Dinge recht gut mit einem gewissen Individualismus verträglich wäre, so würde dies doch die Euthanasie des Rentiers bedeuten, und folglich die Euthanasie der kumulativen Unterdrückungsmacht des Kapitalisten, den Knappheitswert des Kapitals auszubeuten.“

Ins Auge fällt hier nicht nur, dass Keynes offenbar die Renditewünsche der „Rentiers“ als Ursache der Akkumulation angibt, sondern auch ein naives Vertrauen in die „Vernünftigkeit“ des Staates und seine Fähigkeit, eine „Sozialisierung der Investitionen“, also eine umfassende Investitionslenkung, ins Werk zu setzen. Dies soll noch dazu ohne einen Angriff auf das Privateigentum geschehen.

Diese Widersprüche bei Keynes selbst setzen sich bei seinen „Enkelkindern“ fort. Die Kunstfigur des „Rentiers“ steht wieder im Kreuzfeuer von Kritik und mehr noch im Zentrum des Ressentiments; der Staat gilt nach wie vor als eine Verkörperung des „allgemeinen Wohls“; und nicht selten tritt eine vage Kritik des wirtschaftlichen Wachstums zusammen mit dem Glauben auf, der Staat könne in irgendeiner Art die wirtschaftliche Entwicklung planen und entsprechend steuern. Weitreichende Veränderungen in den Eigentumsverhältnissen sind in linkskeynesianischen Kreisen heute ebenso tabu wie für Keynes, von einer Aufhebung des Eigentums schon gar nicht zu reden.

Der Staat sind wir, bin ich!

Der exzessive Bezug weiter Teile der globalisierungskritisch gesinnten sozialen Bewegungen auf Keynes ist Symptom einer generellen Malaise. Anstatt von den eigenen Strebungen, Sehnsüchten und Leiden auszugehen, nach Verbindungen zu anderen, ähnlich gelagerten Erfahrungen zu suchen und sich auf solcher Grundlage für ein besseres Leben zu organisieren, wird die Gesellschaft mit dem Blick des Staates betrachtet, agiert und argumentiert als Einflüsterer der Regierung, als Berater der Machthaber.

Der Berater ist auf Ordnung aus, sein Zauberwort ist Regulierung. Der sprachliche Kontext dieses Begriffs verweist auf Flüsse und auf Zähne. Dies ist kein Zufall. Die Regulierung unterstellt ein zu Regulierendes, das problematisch, aber grundsätzlich brauchbar ist. Wie die Wildwasserverbauung einen Fluss nicht austrocknen, sondern harmlos machen und die Spange die Zähne nicht ziehen, sondern ansehnlich machen soll, so soll Regulierung den Selbstzweck der Kapitalakkumulation keineswegs aushebeln, sondern irgendwie den Menschen dienstbar machen.

Der staatsförmige Blick auf die Gesellschaft ist der Blick der Kontrolle, der Disziplinierung, der obrigkeitlichen Ordnung. Er existiert nur in der Vorstellung jener, die sich der abstrakten Allgemeinheit „Staat“ und ihrer polizeilich-militärischen Konkretisierung unterwerfen – und diese damit überhaupt erst ins Leben rufen. Der reelle Staat blickt nicht, er denkt und handelt nicht, existiert nicht als Subjekt. Was hier als Subjekt erscheint, ist eine zerklüftete Apparatur von Disziplinierung und sozialen Kämpfen, die darum toben – innerlich gebrochen, inkohärent und erratisch, ständig im Fluss.

Die Subjekthaftigkeit des Staates ergibt sich aus der Entsubjektivierung seiner Glieder. Wo eine reelle Gemeinschaftlichkeit nicht besteht, die Einzelnen aber de facto nur in Gemeinschaftlichkeit bestehen können, entsteht „er“, der Fetisch der Gemeinschaft. Die Gemeinschaftlichkeit der Menschen wird zu einer fiktiven Gestalt, die menschlicher Projektion entspringt, von ihren reellen Beziehungen abgehoben, scheinbar mit einem eigenen Leben, eigener Macht begabt. Nur durch den Bezug auf „ihn“, den Staat, gewinnen die Menschen Beziehung – so verkehrt spielt es sich in den Köpfen ab. Der Staat zeigt dabei ähnlich wie Arbeit, Ware und Kapital einen abstrakt-konkreten Doppelcharakter, ist Einheit zweier widersprüchlicher Momente.

Die abstrakte Allgemeinheit der „Gemeinschaft selbst“ erscheint konkret als Polizei und Militär, als ein besonderer Körper der Gemeinschaft, der im gegebenen Fall an die leere Stelle der gemeinschaftlichen Halluzination von Gemeinschaft tritt. Umgekehrt erscheinen Polizei und Militär nicht als konkrete Trupps Bewaffneter, sondern als Verkörperungen der abstrakten Allgemeinheit. Die Möglichkeit ins Gefängnis zu kommen besiegelt nicht den Ausschluss, sondern gerade die Zugehörigkeit zur staatlich verfassten Gemeinschaft. Zugehörigkeit durch Einschluss.

Und ähnlich wie das Kapital, dem das Alltagsbewusstsein ebenso gern einen sich selbst bewussten Zweck und eine ungebrochene Einheit unterstellt, die es nicht hat, wird der Staat als ein Übersubjekt suggeriert, das für die ihm Untergeordneten sorgt oder sorgen soll, die Spekulanten an die Leine zu legen hat und ganz allgemein damit beauftragt ist, zu tun, was „die Mehrheit will“. Weil der Staat nun nicht das „tut“, was er laut Meinung vieler Staatsangehörigen tun soll, versetzt man sich flugs in die Position der Phantasiefigur, die man im Kopf hat: eines Souveräns, der hegt und straft und reguliert. L’état c’est moi, der Staat bin ich, so lautet der unausgesprochene Ausgangspunkt der sozial bewegten Keynesgemeinde.

Was damit unterstellt und befestigt wird, ist die Einbildung, das Leben der Gesellschaft, das sich aufgrund seiner besonderen (bürgerlichen) Struktur in Staat und zivile Gesellschaft spaltet, wäre etwas anderes als die sozialen Beziehungen selbst. Anstatt diese zu verändern, aus denen der Staat hervorgeht, wird Veränderung über „ihn“, das vermeintliche Subjekt der Macht, angestrebt. Die keynesianisch geprägte Identifikation mit dem Staat ist deshalb im wörtlichen Sinne kindlich. Des Staates Personal ist nicht nur de facto immer noch ein Männerbund, dem seine Politik entspricht, sondern erstens ist der Staat schon als solcher patriarchal bestimmt und zweitens, genauer noch, als der Familienvater, als der Patriarch schlechthin: zur Gewährleistung der Kontinuität, der Sicherung des Lebens, der Regelung der Fortpflanzung, zur Strafe der Bösen und zur Ermunterung der Guten, zur Stärkung der Schwachen und um die Starken in ihre Schranken zu weisen. Die Kindposition des keynesianischen Standpunkts hat im Gestus des Patriarchen, den man bei wirtschaftspolitischen Vorschlägen und Forderungen nimmt, ihr Pendant: Die neoliberale Deregulierung (de facto nur eine andere Art der Regulierung) wird als Tat eines harten Vaters imaginiert, der Mutter und Familie vernachlässigt, die stärkeren Brüder schalten und walten lässt, ja, ihnen sogar die schwächeren Geschwister dienstbar macht und sie für Vergehen bestraft, deren sie sich gar nicht schuldig gemacht haben, zur Rettung braucht es den guten Vater, der für eine gerechte Ordnung sorgt.

Der gute Vater ist freilich nicht weniger patriarchal. Seine (vermeintlich aus ihm selbst entspringende) Macht erhält er aus der monopolistischen Verfügung über die legitimen Mittel der Gewalt – Mittel, die legitim „sind“, weil sie als legitim anerkannt werden und so als lender of last resort der Disziplinierungsprozedur zur Verfügung stehen. Wer nicht hören will, muss fühlen, sagt auch der gute Vater.

Der Staat als „materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses“ (Nicos Poulantzas) ist eine Verdichtung von Verhältnissen der Unterordnung: zwischen Kapital und Lohnarbeit, „Mann“ und „Frau“, Einheimischen und Zugewanderten, Mehrheiten und Minderheiten, Mensch und Natur. Die Beziehung der Individuen auf das verdichtete und scheinbar außer ihnen existierende, also fetischisierte Verhältnis der Unterordnungen ist selbst ein Verhältnis der Unterordnung. Es erfordert Zustimmung und Konstanz, andernfalls endet der Versuch der Unterordnung, der Versuch, Menschen zu einem Mittel zu degradieren, mit Vernichtung entweder der Unterzuordnenden oder der Unterordnenden. (Geschichtlich selten ist der Fall, dass ein Vorhaben der Unterordnung einfach aufgegeben wird.)

Der staatsförmige Blick der keynesianisch Bewegten zieht also die Vorstellung des organisierten, geregelten, normierten Menschen, des organisierten Lebens im Unterschied zur Selbstorganisation nach sich. Der Staat kann nur existieren, wo Selbstorganisation nicht existiert. Eine gesellschaftliche Selbstorganisation, die ihren Kontext und ihre Form verändern kann, ist mit Staat unverträglich. Umgekehrt verträgt sich die staatliche Regulierung nicht mit einer Selbstorganisation der Individuen, die massenhafte Dimension erhält, ihre Beziehungsform transformiert und damit die Individuen selbst.

Weil aber Selbstorganisation als Ausdruck von Autonomie ein irreduzibles Moment des Menschen (und damit auch der kapitalistischen Produktionsweise) darstellt, schlagen sich selbstorganisierte Bewegungen früher oder später auch im Staat nieder, wenngleich in einer erstens durch das Erfordernis der Selbsterhaltung seines Personals und zweitens der Selbsterhaltung der Kapitalakkumulation gebrochenen und selektiven Form. Die Akkumulation des Kapitals ist Quelle der Mittel staatlichen Handelns. Wo das Kapital nicht akkumuliert, wird auch nicht in größerem Umfang produziert. Und wo nichts zu besteuern ist, gibt es keinen Steuerstaat. Die Akkumulation ist über ihren Beschäftigungseffekt auch eine wesentliche Quelle der Legitimität staatlichen Handelns, das in die Krise gerät, wenn Steuereinnahmen für „soziale Leistungen“ aufgrund von Akkumulationsschwäche sinken und Beschäftigte aus dem Arbeitsprozess ausgestoßen werden.

Optische Täuschung

Die Attraktivität von Keynes und des Bezugs auf vermeintliche Steuerungspotenziale des Staates verdankt sich jedoch nicht nur der verdeckten autoritären Prägung vieler Aktivist_innen in den sozialen Bewegungen, die aus dem Gefühl der Schwäche heraus einen vermeintlich Starken, den Vater Staat, anrufen und mit vernünftigen Argumenten von der Rechtmäßigkeit ihres Begehrs in Kenntnis setzen und auf ihre Seite ziehen oder sich selbst gedanklich an seine Stelle setzen wollen – denn diese Orientierung bildet die Peripherie des Autoritarismus, dessen bekannte Zuspitzungen ja nicht isolierte Inseln in einer anti-autoritären Gesellschaft formen, sondern sich vielmehr aus einem weiten Feld hierarchiegläubiger und obrigkeitsfokussierter Einstellungen in der Gesellschaft erheben, wozu eben auch große Teile der sozialen Bewegungen beitragen.

Ein wesentliches Moment der keynesianischen Fixierung ist neben einem verdeckten Autoritarismus auch eine Art von optischer Täuschung. Weil erstens in den 1950er und 1960er Jahren Prosperität und, so wird behauptet, eine „demokratische Aushandlung“ wichtiger Fragen existierten, und zweitens die Keynessche Theorie das offizielle Instrumentarium der Wirtschaftspolitik darstellte, sei die sich keynesianisch gebende Wirtschaftspolitik Ursache der Prosperität gewesen. Im österreichischen Kontext einer schwachen Tradition militant-autonomistischer Selbstorganisation und der sich daraus ergebenden starken Staatsfixierung verdichten sich Autoritarismus und optische Täuschung in einer hartnäckigen Kreisky-Nostalgie, die sich dem historischen Zufall der personellen Passung eines Patriarchen der guten, keynesianischen Bauart mit dem Strukturpatriarchen Staat ergab. Wohlgemerkt: Hier ist die Rede von strukturellen Phänomenen, die keine Frauenministerin der Welt verändern kann, solange sie Ministerin eines Staates ist.

Es ist den tiefer gehenden autoritären Prägungen geschuldet, dass sich auf der Ebene der polit-ökonomischen Analyse nicht viel gegen diese optische Täuschung ausrichten lässt. Die Argumente sind oft entwickelt worden, und seien hier nur kurz zusammengefasst. Die Zeit zwischen 1914 und 1945 war von einer systemischen Krise geprägt, die das politische System auf internationaler und nationaler Ebene ebenso wie das ökonomische, globale System umfasste. Die Frage, ob die Krise von einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft abgelöst oder aber in einem brutalen Akt „schöpferischer Zerstörung“ (Joseph Schumpeter) Durchsetzungsphase eines neuen Akkumulationsregimes sein würde, fand ihre Schreckensantwort in letzterer Option. Der Zweite Weltkrieg war nur oberflächlich ein Desaster für das deutsche und österreichische Kapital. Tatsächlich waren die intensivierte Ausbeutung der Lohnabhängigen, die endemische Zwangsarbeit und nicht zuletzt die Aneignung von Ressourcen und Produktionsmitteln in den besetzten Gebieten Grundlage einer verbesserten Mehrwertrate. Die Erfolge der kriegerischen „Akkumulation durch Enteignung“ (David Harvey) wurden durch die anhaltende Offensive des Kapitals gegen die Lohnabhängigen in den 1950er Jahren konsolidiert und erweitert. Niedrige Reallöhne, eine in den Produktionsschlachten des Krieges modernisierte Infrastruktur und nicht zuletzt die in Schützengräben und an der „Heimatfront“ disziplinierte Arbeiter_innenklasse schufen die Voraussetzungen für das nachfolgende „Wirtschaftswunder“. Marshallplan und Wiederaufbau spielten dafür keine entscheidende materielle (wiewohl eine wichtige ideologische) Rolle.

Die wesentliche soziale Neuerung des Faschismus in seiner italienischen wie deutschen Ausprägung war die „Sozialpartnerschaft“ zwischen Kapital und Arbeit. Während tripartistische Arrangements zwischen Staat, Kapital und Arbeit, die der Krieg zur Steigerung der Arbeitsdisziplin erzwang, nach dem Ersten Weltkrieg wieder in der Versenkung verschwunden waren, wurden sie nach dem Zweiten Weltkrieg zum festen Bestandteil der post-faschistischen Gesellschaften. Die „Sozialpartnerschaft“ erfüllte weniger die Funktion einer Abstimmung sachlich-wirtschaftspolitischer Natur, sondern die einer Disziplinierung der Arbeiter_innenklasse. Angemerkt sei an dieser Stelle lediglich, dass die Ansicht, der Neoliberalismus hätte zu einer „Aushöhlung“ demokratischer Verfahrensweisen geführt, nicht einmal eine optische Täuschung ist, sondern schlicht falsch. Der von Poulantzas Ende der 1970er Jahre so genannte, sich damals im Vorlauf zur neoliberalen Konterrevolution der 1980er Jahre entwickelnde autoritäre Etatismus beschreibt zweifelsohne eine veränderte Ausprägung des Staates. Dies allerdings nicht vor dem Hintergrund seliger keynesianischer Nachfragesteuerung und „Sozialpartnerschaft“, sondern als Gegenangriff auf die militant-autonomistischen Bewegungen nach 1968.

Solange die Forderungen nach mehr Lohn und weniger Arbeit sich in die Grenzen der aufgrund der Modernisierungsleistung des Krieges (vor allem der Einführung und Ausweitung von Fließbandtechnologie) hohen Produktivitätszuwächse bannen ließen, unterfütterte der Reallohnzuwachs eine dynamische, von hohen Profitraten angetriebene und durch weite Territorien der inneren „Landnahme“ (Burkhart Lutz) für die Warenproduktion begünstigte Akkumulation. Keynesianische Politik spielte dafür keine wesentliche Rolle.

Mit den Bewegungen nach 1968 zerbrach der gesellschaftliche Konsens, auf dem die keynesianische Regulationsweise beruhte. Die Reallohnzuwächse begannen die Produktivitätszuwächse zu übersteigen, zulasten der Profite. Weitere Produktivitätszuwächse gingen aus technologischen Gründen, aber auch aufgrund zunehmender Arbeiter_innen-Militanz zurück, während der Kapitalaufwand wuchs. Es sank die Profitrate, die Akkumulation ging zurück und im Gegenzug wuchsen Erwerbslosigkeit, staatliche Haushaltsdefizite und die Inflation. Dazu kam, dass mit dem Aufholen der Kriegsverlierer Japan und Deutschland und der nachlassenden Konkurrenzfähigkeit der USA das System von Bretton Woods (Wechselkursbindung, Kapitalverkehrskontrollen, Goldstandard des Dollars) aufgelöst wurde, die Hegemonie der USA ins Wanken geriet und damit die relative internationale Stabilität der „Wirtschaftswunderjahre“. Kurzum: Keynesianische Politik war vor allem eine Ideologie – als solche ein wichtiges Moment der Herrschaftsstabilisierung in den 1960er Jahren, aber keinesfalls eine Perspektive für heute.

Der vor kurzem verstorbene Jörg Huffschmid schrieb in seiner theoretischen Grundlegung von Attac, der „Politischen Ökonomie der Finanzmärkte“ (1999) von einer „historischen Alternative“, die sich Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre zwischen „Vertiefung oder Aufkündigung der Reform“ – womit er die Ausbreitung der keynesianischen Ideologie und den internationalen Apparat von Bretton Woods meinte – gestellt hätte. Tatsächlich lag die aus emanzipatorischer Sicht wesentliche Entscheidung in der Zeit von Mitte bis Ende der 1970er Jahre. Die fortschreitende Unterminierung repressiver Ideologien und disziplinierender Arrangements inklusive „keynesianischer Wirtschaftspolitik“ hätte ab diesem Punkt auch einer breiten Bewegung hin zu einer alternativen Form der Reproduktion abseits von Staat, Markt und Kapital bedurft. Die Welle der Unterdrückung und Vernichtung der antisystemischen Bewegungen im Verlauf der 1970er Jahre und der Kooptation ihrer Ausläufer in den 1980ern bereitete dem jedoch ein Ende. Vorerst.

Der wirkliche Ausweg

Auf der Suche nach schnellen Auswegen aus der Krise verfällt die nach wie vor mehrheitlich neoliberalismuskritische Linke prompt wieder der oberflächlichen Praxistauglichkeit des Keynesschen Maßnahmenkatalogs. Ansätze einer grundlegenden Systemkritik, die mittlerweile etwa in der Attac-internen Debatte durchaus breiten Raum einnehmen, bleiben gegenüber scheinbar „realistischen“, breit „anschlussfähigen“ fiskal- und konjunkturpolitischen Forderungen nachrangig – beziehungsweise wird der langfristige Umstieg in ein „anderes Wirtschaftssystem“ als eine Art zweistufiges Verfahren vorgestellt. Wogegen wenig einzuwenden wäre. Es braucht die massenhafte Verweigerung gegenüber weiteren Zumutungen im Krisenzusammenhang ganz unmittelbar. Die jüngsten Ankündigungen von Regierungsseite schreien geradezu nach Mobilisierung, um drohende Repressalien gegenüber den Schwächsten der Gesellschaft abzuwehren, der Kampf um Rahmenbedingungen für gesellschaftliche Selbstorganisation, er stünde notwendig auf der Tagesordnung. Auch Vermögenssteuern sind kurzfristig äußerst brauchbar, andernfalls wird der vermeintlich notwendige „Sparzwang“ vom „sozialen Netz“ kaum mehr als einzelne Fäden übriglassen.

Was es nicht braucht, ist das Schüren illusionärer Hoffnungen auf ein alternatives Regierungsprogramm. Der krisenbedingt erzwungene Anstieg der staatlichen Interventionen ist entgegen mancher Darstellung kein Indikator vorhandener Spielräume für regulierende und umverteilende Maßnahmen, ebenso wenig sind die in Panik geschnürten Rettungspakete Beweis für eine grundsätzliche Gestaltungsmacht der Politik, sie verdeutlichen lediglich deren Ohnmacht.

Es ist dem Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs zweifellos Positiveres abzugewinnen, als mittels staatlich subventionierter Verschrottung die Überkapazitäten der Autoindustrie zu mindern. Mehr Geld für „Sinnvolles“, die Umlenkung monetärer Mittel dahin, wo sie fehlen – wer würde nicht zustimmen?

Perspektive lässt sich damit allerdings keine verbinden. Im Gegenteil: Insoweit der dringend notwendige Abschied von der fossilen Ressourcenbasis in den keynesianischen Ideen eng an Kapitalwachstum gebunden wird, torpediert er sich selbst. Es gilt ja weite Bereiche der Produktion schlicht stillzulegen – netto kommt da kein Wachstum mehr heraus. Und wo sollen die investiven Mittel für den Öko-Umbau herkommen, wenn das Wachstum des Gesamtkapitals aus ökonomischen und absehbar auch aus ökologischen Gründen zum Erliegen kommt? Davon abgesehen ist es schon rein technisch nicht möglich, das herrschende, an kapitalistische Produktionslevel gebundene Konsumvolumen umstandslos und von heute auf morgen mit erneuerbarer Energie zu speisen.

Und schließlich: Sollen wir etwa keine thermische Sanierung vornehmen oder Energiekooperativen aufbauen, nur weil das Kapital uns nicht das Geld dafür zur Verfügung stellt? Das wäre angesichts des Klimawandels und Peak Oil wahnwitzig. Angesichts der bestehenden Illusionen über einen kapitalistischen Ausweg aus der Krise freilich erscheint die Art, das Problem so zu stellen, wie der reinste Wahnwitz. Das Maß der Realität liegt dabei jedoch nicht beim Kapital und seinen keynesianischen Anhänger_innen – ob die sich von der fixen Idee, es müsse mit dem Kapitalismus doch noch irgendetwas halbwegs Erträgliches anzustellen sein, aus Verzweiflung, Ohnmacht, Phantasielosigkeit, Opportunismus oder anderen Gründen nicht lösen wollen, ist in dem Zusammenhang letztlich bedeutungslos. Die Realität ist, dass es keine Alternative gibt zu einer Alternative, die aus Warenproduktion und Staat herausführt.

Das „gute Leben“ als Abfallprodukt gelingender gesamtgesellschaftlicher Wertverwertung, es war und ist so nicht zu haben. Holen wir raus, was noch zu holen ist, aber vergeuden wir keine Zeit mit dem Versuch, den Karren wieder flott zu kriegen, der zieht uns nur mit in den Sumpf. Die Abhängigkeit vom Kapital (und damit von der Lohnarbeit) muss Schritt für Schritt reduziert, Auskommen und Einkommen müssen entkoppelt werden. Nicht die Nachfrage gilt es zu stimulieren, den Aufbau von Alternativen gilt es zu fördern. Nicht „Beschäftigung“ ist gefragt, sondern freie Verfügung über die eigene Zeit. Nicht das Festklammern an Geld und Tausch, sondern der zunehmend freie Zugang zu Gütern und Leistungen ist Zukunftsprogramm.

Das gute Leben für alle, es wäre längst zu haben. Der Umweg über die kapitalistische Verwertung allerdings führt dran vorbei und mit Fortschreiten der Krise immer weiter davon fort.

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