Dissidenz

Streifzüge 49/2010

von Andreas Exner

Dissidenz ist die conditio autonomer Aktivität. Sie beginnt in den Familien, fährt fort in den Schulen, an den Universitäten, in den Ausbildungsgängen, den Arbeitsämtern, den Parteien, Gewerkschaften und NGOs, in den Medienbetrieben, an den Arbeitsplätzen, vor den TV-Geräten und den Facebooks, schlicht in allen Funktionen, die eine funktionierende Gesellschaft den Individuen zuweist, dieses System von zu Geld und Staat, Arbeit und Freizeit, Mann und Frau geronnenen Beziehungen.

Dissidenz ist ein Haarriss im System, der ein Individuum und seine Rolle zu entzweien beginnt. Sie ist ein Exodus, der noch nicht die Koffer packt. Die Absicht ist für die Dissidenz wesentlich. Sie ist, anders als Ressentiment oder Resignation, durch bewusste Konfiguration von bewusstloser Reaktion abgehoben. Sie ist Anerkenntnis momentaner Schwäche, ohne zu folgern, dies hätte so zu bleiben. Sie ist strategisches Abwägen oder auch nur taktisches Kalkül: sich weder verschleißen zu lassen oder zu verschleißen noch aber sich innerlich gefangen zu geben vom eisernen Gehäuse der Konformität. Bereit zu sein zum Sprung, aber ihn nicht vor der Zeit zu tun. Eine Gefangene hängt von den Wärtern ab. Ein Grund, sie zu lieben ist das nicht.

Dissidenz ist unvermutete Bewegung der Subversion, insgeheime Vorbereitung von Rebellion. Dissidenz steht auf verlorenem Posten – was sie nicht hindert, sich zu entfalten. „Sich mit wenigen zu bewegen stellt nicht nur keine Grenze dar“, heißt es in einem anonymen Text, sondern, „es bedeutet auch, die soziale Veränderung auf eine andere Weise zu denken. Die Libertären sind die Einzigen, die sich eine Dimension des kollektiven Lebens vorstellen, das nicht der Existenz von Machtzentren untergeordnet ist. Die wirkliche, föderalistische Hypothese ist eben die Idee, die Abmachungen unter den freien Vereinigungen von Individuen ermöglicht. Die Affinitätsbeziehungen sind eine Art und Weise, die Vereinigung nicht mehr auf der Basis von Ideologien und quantitativem Anhang zu verstehen, sondern im Gegenteil, auszugehen von der gegenseitigen Erkenntnis, dem Vertrauen und dem Teilen von Leidenschaften in einem Projekt.“ Sich mit wenigen zu bewegen, von einzelnen, verlorenen Posten aus zu kommunizieren, unentwegt auf der Suche nach Verbündeten, Komplizinnen – so untergräbt Dissidenz das Gefüge der Macht, ohne eine Gegen-Macht zu schaffen, unterhöhlt, ohne selbst Gebäude zu errichten.

Dissidenz entsteht, wo der stumme Zwang der sozialen Form sich an den Leidenschaften und der Spontaneität eines Menschen als Leiden an der Gesellschaft oder als temporäre Erfahrung der Befreiung bricht. Die Dissidenz wird bewusst als Stimme des Gewissens, leise oder als offener Konflikt, nicht im Sinn eines Über-Ich, sondern als ein innerlich Gewusstes. Sie kann sich in nagendem Zweifel äußern, als antwortlose Frage ins Bewusstsein drängen oder drastisch spontan als Reflex der Abscheu.

Dissidenz ist zweigesichtig. Von offener Rebellion und Flucht durch Beharrung unterschieden, trägt sie die Gefahr der Resignation und des Zynismus in sich, verkörpert jedoch eine Position der Stärke. Ihre Trägheit besteht darin, den zugewiesenen Platz beizubehalten, ohne sich mehr mit der zugemuteten Rolle zu identifizieren. Sie hält den Schein aufrecht, nicht als Fassade, sondern als Deckung, die man beizeiten abstreifen will.

Die Dissidenz ist klug, sie zieht keine Konsequenz aus dem gebrochenen Loyalitätsversprechen, sondern lässt den Rollenvertrag formaliter bestehen, ohne seine Konditionen weiter ernst zu nehmen. Anders als der Hörige, der aus dem Dienst tritt, wenn er sich nicht mehr würdig fühlt, weil nur die Dienstbarkeit ihn würdigt, bestraft die Dissidente sich nicht für das Ausbleiben der Folgebereitschaft oder für den Verlust der Illusion. Sie beweist Autonomie, indem sie den Verbleib im Kostüm der strategischen Entscheidung überlässt. Sie spielt mit der Rolle anstatt sie zu spielen. Sie mag per Zufall eine Fahne halten – und lässt sie im nächsten Moment fallen. Dissidenz ist der rücksichtslose Opportunismus notorisch inopportuner Opposition, die sich gegen alles richtet, was die Unfreiheit der bestehenden Verhältnisse ausmacht, jedoch ohne in einer undurchführbaren Selbstaufgabe zu enden, solange die Zeit nicht reif ist: gegen die Vertretung der Interessen, die Parteien, den Staat, die NGOs, Arbeit, Ware, Geld, Markt, Kapital, Recht und Patriarchat und alle Momente, die einer und einem selbst dies alles als akzeptabel erscheinen lassen. „Das soziale Bewusstsein ist eine Stimme in unserem Inneren, die wiederholt: ,die anderen akzeptieren es‘. Die wirkliche Kraft der Ausgebeuteten richtet sich somit gegen sich selbst.“

Dissidenz ist mehr als individuelle Lebenssituation. Im selben Maße, wie die einst privilegierten Orte von Macht und Gegen-Macht sich in ein Netz von Knoten der Macht und des Widerstands auflösen, wird sie zu einer allgemeinen Bestimmung einer bestimmten Periode der gesellschaftlichen Opposition.

Dissidenz kann Opposition in Überwinterung oder im Prozess ihrer Bildung sein. Sie gedeiht auf dem Boden der ungezähmten Leidenschaft und resultiert aus Abklärung, Enttäuschung und nüchterner Einschätzung der Lage, wenn es um die Sichtung der Perspektiven geht. Sie charakterisiert eine Situation der Sortierung von Möglichkeiten. Dissidenz ist ein Prozess der Deidentifikation. Indem die Dissidente sich selbst mehr Gehör zu schenken beginnt als den Botschaften der Apparate und des Marktes, verliert sie an Identität und gewinnt Autonomie. Die Dissidenz kann zur systemischen Dissonanz anwachsen, wenn sie aus ihrer Vereinzelung heraustritt, Menschen in den Formierten erkennt und offen ausspricht: „Der Kaiser ist nackt.“

„Zu sagen, wir seien die einzigen Rebellen in einem Meer aus Unterwerfung, ist im Grunde genommen beruhigend, denn es beendet das Spiel schon im Voraus. Wir sagen bloß, dass wir nicht wissen, wer unsere Komplizen sind, und dass es eines sozialen Sturmes bedarf, um diese aufzuspüren.“ Die Vorbereitung eines sozialen Sturmes ist die Entfesselung von Individuen. Wo eine Rebellion auf sich warten lässt, macht die Dissidenz den Anfang. Auf dass jene komme, und zwar rasch.

Die Zitate stammen aus: „Das Geheimnis liegt darin, zu beginnen“ (www.streifzuege.org/2010/das-geheimnis-liegt-darin-zu-beginnen)

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