Verfassungsfeinde

Falsch abgestimmt, aber richtig entschieden

von Franz Schandl

Eine Verfassung drückt aus, in welcher Verfassung bei Verfassung der Verfassung sich ein Staat oder Staatenbündnis dünkt. Freie Fahrt für den freien Markt, das wollte diese Verfassung unter Garantie stellen. Wer gegen den Markt ist, ist ein Verfassungsfeind. So deutlich wie in diesem Dokument ist das wohl in keinem anderen niedergeschrieben. Sowohl das deutsche Grundgesetz als auch die österreichische Bundesverfassung halten sich diesbezüglich ziemlich bedeckt. Es wäre in den Jahren ihrer Entstehung auch nicht möglich gewesen diesem Prinzip so uneingeschränkt zu huldigen wie heute. Traurig genug, dass immer noch 46 Prozent der Franzosen das neoliberale Verfassungsmachwerk befürworteten. Und doch ist erfreulich, dass die Mehrheit es ablehnte und damit zum Ausdruck brachte, dass vielen Leuten ihre Anliegen näher sind als die Segnungen des Marktes. Dem schrankenlosen Treiben ist ein entschiedenes „Non! “ entgegengeschleudert worden.

Der Arroganz der Macht wurde von der Ohnmacht ein ordentlicher Hieb versetzt. Man sollte sich aber deswegen nicht einbilden, dass der neoliberale Showdown damit schon zu Ende ginge. Eher wird eine unselige Debatte darüber ausbrechen, ob man eine Bevölkerung in solch heiklen Fragen überhaupt abstimmen lassen darf. „Das ist Populismus“, wird es heißen und gegen Populismus habe man zu sein. Dem Volk sei nicht zu trauen (was in gewisser Weise stimmt), daher habe man sich der klugen Herrschaft auszuliefern – ein Ansatz, der allerdings des Unsinns und der Selbstdemütigung Höhepunkt darstellt. Die Absicht der etablierten Kampagnen ist die Desavouierung des Widerstands – nichts anderes. Die Diffamierung von Oppositionellen als Sozialromantiker, ja als Nationalisten oder Querfrontler u. v. m. führt zu Verunsicherungen, vor allem im deutschsprachigen Raum. Sicher, man darf mit Le Pen nicht gemeinsame Sache machen. Aber nur weil ein Faschist gegen die EU-Verfassung ist, hat man noch lange nicht dafür zu sein. Wer so argumentiert, hat sein Großhirn bereits dem liberalen Vollwaschgang unterzogen.

Der Widerstand mag vielfach diffus und unausgegoren sein, ja in manchen Punkten ziemlich daneben liegen. So ist etwa die Beschwörung nationalstaatlicher Autonomie die reine Illusion. Aber selbst in diesem Ensemble ist die Opposition ernster zu nehmen als die liberale Bande der europäischen Parteien und Parlamente, von den Medien ganz zu schweigen. Freilich müssen sich die Wähler auch die Frage gefallen lassen, warum sie auf ihre Volksvertreter immer wieder reinfallen oder sich so bereitwillig besenden und magazinieren lassen. Den Markt zu wollen, dessen Auswirkungen aber nicht, das ist, bei aller Freundlichkeit, ein beschränkter Standpunkt. Die regressiven Tendenzen sind zu benennen, zu kritisieren und zu überwinden, ebenso ist aber die Bewegung vor äußerer Denunziation zu schützen. Dieser Widerstand mag auch wieder verunglücken, aber er ist im Gegensatz zur blanken Affirmation von Chirac über Schröder bis hin zur den durchgeweichten Eurofanatikern der Ex-Linken eine Chance.

Der Glaube an Konkurrenz und Markt ist hingegen die globale Sackgasse. Gegen einen irre gewordenen Markt noch mehr Konkurrenz zu fordern und zu predigen, ist nur die Fortsetzung des kollektiven Wahns, der als Normalität erscheint. „Wollt Ihr den totalen Markt? „, fragt das Kapital und dekretiert sogleich die Antwort. Wer das Vergesellschaftungsniveau und soziale Solidaritäten erhalten und ausbauen will, kann nicht für die Marktwirtschaft sein, auch nicht für die so genannte soziale. Das Kapitalverhältnis ist ein marodierendes System, das immer stärker zum Kannibalismus tendiert. Ihm sind keine Zähne zu ziehen, es ist abzuschaffen. Genau das ist der Gedanke, der zu etablieren ist. Der Kapitalismus ist kein Schicksal. Aber sobald man die Regeln des freien Marktes, der Konkurrenz und der Verwertung befürwortet, wird er zu einem solchen. Nichts soll eine Ware sein, G-W-G‘, das wollen wir nicht!

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