… was es heißt, in einer bombardierten Stadt zu leben

von Rüdiger Göbel

Mehrere Wochen verbrachte der Berliner Journalist Rüdiger Göbel für die Tageszeitung „Junge Welt“ unter dem NATO-Bombenhagel in Jugoslawien. Wie die Menschen unter der militärischen Aggression der stärksten Supermacht der Welt gelitten haben, wie sie trotz allem versucht haben, ein möglichst "normales" Leben zu führen und wie eine Delegation deutscher Friedensaktivist/inn/en in Belgrad aufgenommen wurde, darüber berichtet der Autor.

"Wofür das Ganze? " fragt Bosko Gajic entsetzt, als er vom Abstimmungsergebnis in der Skupstina, dem serbischen Parlament, hört. 136 Abgeordnete stimmen am 3. Juni, nach 71 Tagen Luftkrieg der NATO, in einer Sondersitzung dem vom EU-Unterhändler Martti Ahtisaari und dem russischen Jugoslawien-Beauftragten Viktor Tschernomyrdin in Belgrad vorgelegten "Friedensplan" zu. "Es ist eine Kapitulation", so der 43jährige Belgrader. Rasch kennt er die wesentlichen Punkte des Abkommens aus den internationalen Medien — via Satellit im Appartement seines Vaters im Stadtzentrum, wo es zur Zeit stundenweise Strom gibt. In seiner Hochhauswohnung in Neu-Belgrad, auf der anderen Save-Seite gelegen, fehlt seit Tagen die Elektrizität. Auch die Wasserversorgung ist dort zusammengebrochen. Ab der zweiten Maihälfte ging die NATO daran, in Jugoslawien gezielt Strom- und Wasserwerke zu zerstören, um die Bevölkerung zu demoralisieren.

"Unsere gesamte Industrie ist zerstört worden, die wichtigsten Brücken und großen Straßen sind zusammengeschossen und nicht mehr passierbar, über eineinhalbtausend tote Zivilisten, mehrere tausend wurden durch die Angriffe verletzt. Und nun rücken Okkupationstruppen in unser Land ein. " Mit seiner Meinung ist Bosko in der jugoslawischen Hauptstadt nicht allein. Er kann nicht glauben, daß sich die "internationale Präsenz mit substantieller NATO-Beteiligung", wie die bewaffneten Sicherungstruppen für das Kosovo noch schwammig verklausuliert genannt werden, auf die südserbische Provinz beschränken wird. Sind die Truppen erst einmal im Land, wird eine schriftliche Vereinbarung schnell zur Makulatur. Jugoslawien scheint verloren und in die Zeit langer Besatzung zurückzufallen. Und "Sicherheit" gab es für die Serben unter Okkupanten nie. Ein Freund, erzählt Bosko, hat noch am gleichen Tag seine Sachen gepackt. Der Serbe lebt in Pec, einem Städtchen im Westen des Kosovo an der albanischen Grenze. Mit dem Einrücken der westlichen Kosovo-Truppen (KFOR) am zweiten Juniwochenende in die südserbische Provinz schließen sich zehntausende Serben dem Exodus an. Ihr Vertrauen in die medienwirksam einmarschierenden NATO-Einheiten geht gegen Null, zumal sich die jugoslawischen Soldaten und serbischen Polizisten vertragsgemäß aus dem Kosovo zurückziehen.

Vojislav Seselj und seine Serbischen Radikalen sind die einzigen Abgeordneten im Parlament, die den sogenannten Friedensplan ablehnen. 74 Nein-Stimmen stellten sich dem Ansinnen von Staatspräsident Slobodan Milosevic entgegen, mit der allmächtigen Kriegsallianz des Westens zu einem hohen Preis ein Ende der Bombardements zu vereinbaren. Für den Fall, daß ein NATO-Soldat jugoslawisches Gebiet betritt, will Seselj nicht nur die Regierung verlassen, ein Abgeordneter droht mit dem Auszug der Partei aus der Skupstina. Tatsächlich verlassen die 15 Radikalen-Minister am 14. Juni, zwei Tage nach dem Einmarsch der ersten NATO-Einheiten in das Kosovo die serbische Regierung.

Ein führendes Mitglied der serbischen Erneuerungsbewegung Vuk Draskovi“cs meint hingegen, man habe gar keine andere Wahl gehabt, als den Plan von Ahtisaari und Tschernomyrdin anzunehmen. Kriegsmüdigkeit macht sich nach den mehr als 70 Bombennächten und -tagen breit, die Angriffe auf zentrale Versorgungseinrichtungen rühren am Nerv der Bevölkerung.

So ist es für Nebojsa Popadic in Kragujevac das Wichtigste, daß die Bombardements nun ein Ende finden, auch wenn in der Stadt achtzig Kilometer südlich von Belgrad auch am Tag nach dem Vertragsschluß wieder die Luftalarmsirenen heulen. In der Oppositionsstadt Kragujevac wird die Vereinbarung als Sieg gefeiert, obwohl niemand über alle Details Bescheid weiß, so der 19jährige Schüler — vielleicht aber auch, weil sie niemand kennt. Das Wichtigste neben dem Ende des Bombenterrors sei, daß Kosovo bei Jugoslawien verbleibt — im Abkommen von Rambouillet war nach drei Jahren ein Referendum über den zukünftigen Status der südserbischen Provinz mit der Option auf Sezession vorgesehen. Freilich, zunächst einmal muß er mit seinen Freunden den Vertragstext genau studieren. Dann kann man ja weitersehen, meint er kriegsmüde.

Auch Zoran Jeremic, Politischer Direktor im Außenministerium Jugoslawiens, will angesichts des absehbaren Kriegsendes nicht in Kapitulationsstimmung verfallen. Das Wichtigste für die Bevölkerung ist sicher, daß die Aggression der NATO gestoppt wurde. "Wir haben die größte Militärmaschinerie, die die Geschichte kennt und die gegen uns angewandt wurde, moralisch besiegt. Wir haben unser Land gegen die Aggression verteidigt und vor allem vor den Zerstückelungsplänen bewahrt", gibt sich Jeremic siegessicher. Bis Kriegsbeginn war er Jugoslawiens Botschafter in Bonn. Als die ersten NATO-Bomben fielen, wurden die Beziehungen zu den Aggressorstaaten abgebrochen, das diplomatische Korps nach Belgrad zurückbeordert. "Rambouillet war ein Diktat und hat gegen die Prinzipien der territorialen Integrität und Souveränität verstoßen. " Die gut 50.000 NATO-Soldaten, die ab Mitte Juni das Kosovo besetzen, verletzten nach Meinung des Spitzendiplomaten diese Völkerrechtsnormen nicht. "Unter der Ägide der UNO ist das nicht möglich. " Vielleicht ist es einfach nur Zweckoptimismus.

Kriegsalltag in Belgrad

Bosko ist nervös. Draußen waren gerade zwei, drei Detonationen zu hören, gut fünfzehn Minuten vor ein Uhr in der Nacht. Dumpfes Abwehrfeuer am Stadtrand setzt ein. Kurz darauf folgen schwere Einschläge, wahrscheinlich wieder im Zentrum Belgrads. Dennoch, sie sind weiter weg als das Gebäude von RTS. Erst wenige Tage vorher hatte die Wohnung mächtig gebebt in der Takovska-Straße. Sie liegt nur zweihundert Meter neben dem Trümmerhaufen des staatlichen Fernsehens. Diesmal nur ein lauter, gewaltiger Knall, und das gleich mehrere Male hintereinander. Wieder folgen die dumpfen Schläge der Luftverteidigung.

Vielleicht eine der Brücken? Ein Anruf bei Freunden bringt zunächst keine konkrete Information. Warten also auf die ersten Nachrichten. Unser Freund John Bosnich war keine zwanzig Minuten vorher mit dem roten Renault losgefahren. Er mußte über eine der Brücken. Dabei hatte Bosko ihn noch gewarnt, gefragt, ob er das nächtliche Treffen auf der anderen Flußseite nicht auf den nächsten Morgen verschieben könne.

Nein, das gehe nicht. Es wird schon nichts passieren. Die wenigsten können sich vorstellen, daß die NATO wirklich die Brücken in der Zwei-Millionen-Metropole bombardieren würde — obwohl die Allianz genau dies in den vergangenen Wochen in Novi Sad systematisch getan und jede Verbindungslinie über die mächtige Donau in der nordserbischen Universitätsstadt unterbrochen hat. Die Kriegszielstrategen in Brüssel kümmerte es nicht, daß sich Verkehr auf ihnen befand, als sie die Piloten zum Angriff losschickten. Was also soll es die Militärplaner scheren, daß in Belgrad seit Wochen zehntausende Menschen stehen, die Brücken mit ihrem Leben zu schützen. Nacht für Nacht. Niemand in der jugoslawischen Hauptstadt konnte sich auch vorstellen, daß die NATO wirklich das Fernsehgebäude im Stadtzentrum mit ihren Fernlenkwaffen beschießen würde, bei laufender Sendung. Echtzeitkrieg im serbischen TV, der Bildschirm war plötzlich grau.

Das Leben in Belgrad hat sich verändert, seit hier nach mehr als fünfzig Jahren das erste Mal wieder die Luftalarmsirenen heulen. Doch die Reaktionen auf die Warnung gleichen fast schon purer Ignoranz. Die halbe Stadt ist bei schönen Sonnentagen auf den Beinen. In der Kneza Mihaila, der Fußgängerzone in der Belgrader Altstadt, flanieren tausende. Alt und jung, verliebte Pärchen, Eltern mit ihren Kindern. Dazwischen auch mal ein Soldat in seiner olivgrünen Tarnuniform. Ein gutes Geschäft bei diesem Wetter für die unzähligen Eisverkäufer, die ihre kleinen Truhen in der belebten Straße aufgebaut haben.

Das amerikanische Kulturzentrum ist verwüstet, die Scheiben längst eingeschlagen. Anti-NATO-Parolen und Verwünschungen für den US-Präsidenten zieren die Wände. Ein Ehepaar in den Vierzigern steht davor, betrachtet die angeklebten Plakate, lacht. Bill Clinton im Cowboydress reibt sich seinen riesigen, erigierten Schwanz, im Hintergrund ein Panzer: "Neue Weltordnung". Das deutsche Goethe-Institut und die französische Kulturniederlassung machen keinen besseren Eindruck in der Straße. Auch sie erhielten nach dem 24. März ungebetenen Besuch. Doch wen kümmert das heute noch.

Interessanter sind da schon die Kleinhändler. Heiligenbildchen, Postkarten von Belgrad in Friedenszeiten, schwarz-kopierte Musikkassetten, noch orginalverpackte CDs, Bücher, gebraucht wie neu, Kreuzworträtselheftchen, bunte Schnürsenkel, Ringe und Armreifen — was auf einem Tapeziertisch oder kleinen Bauchladen Platz findet, wird auf der Flaniermeile feilgeboten. Die Regenschirme gehen schlecht an diesem Tag. Renner sind immer noch die "Target"-Anstecker. Der weltbekannt gewordene Antikriegsbutton aus Belgrad ist für ein paar Dinar mittlerweile wahrscheinlich in der 273. Variante zu haben. Findige Geschäftsleute haben Aufkleber, T-Shirt und Stirnband mit den schwarzen Kreisen auf weißem Grund nachgereicht. Selbst als zusammenfaltbare Pappmütze gibt es das Protestzeichen zu kaufen.

Lange Schlangen jeweils vor dem Kiosk, der gerade mal wieder Zigaretten zu verkaufen hat. Diese sind rar geworden, seit die Tabakfabriken des Landes zum militärisch wichtigen Angriffsziel erklärt und bombardiert worden sind. Die Preise für das Päckchen werden stabil gehalten, sechs bis zehn Dinar, je nach Umtauschkurs so um eine Mark. Wem das stundenlange Warten zu lange dauert, kann sie stangenweise auch anderweitig besorgen, für das dreifache Geld.

Hinten auf dem Kalemegdan, der alten Festungsanlage oberhalb von Save und Donau, sitzen die Rentner auf den Parkbänken, ziehen in aller Ruhe, Zug um Zug, die Figuren ihres Schachspiels, wie sie das schon im vergangenen Frühjahr getan haben, als lange nicht an Krieg im kleinen Balkanland zu denken war. Auf der anderen Flußseite mahnen die 26 Stockwerke des ausgebrannten Usce-Hochhauses indes daran, daß sich die Zeiten geändert haben. Die Serben sind wieder einmal zum Paria der Weltvölkergemeinschaft geworden — zumindest der führenden NATO-Staaten.

Doch die äußere Aggression schweißt zusammen, mobilisiert die Selbstverteidigungskräfte im Land. "Wir sind bereit für den Krieg. Soll die NATO doch ihre Bodentruppen schikken, dann haben wir wenigstens die Möglichkeit, zu kämpfen. Und wir werden siegen, denn wir verteidigen unsere Heimat", erklärte mir Freund Bosko, kaum daß ich in Belgrad angekommen war. Klar, ruhig und bestimmt werde ich es des öfteren noch von anderen hören. Der ansonsten findige Geschäftsmann ist eigentlich auf der Suche nach einer Frau fürs Leben, will endlich eine Familie gründen. Doch wie soll er die finden. Am Abend sitzt er zu Hause, schickt e-mails in alle Welt, debattiert mit Freunden und Wildfremden am Computer über Sinn und Unsinn, Propaganda und Wahrheit dieses Krieges. Das Nachtleben in der Stadt ist mit den ersten Angriffen praktisch zum Erliegen gekommen. Die Straßen sind abends fast leer, wohin auch gehen, wenn die Sirenen wieder geheult haben und das Warten auf die Detonationen beginnt.

"Jeder hat doch eigentlich Zukunftspläne, Träume, sein kleines Paradies im Kopf. Jetzt lebe ich von Stunde zu Stunde, kann nicht einmal die nächsten Tage planen. Während der besten Jahre meines Lebens sitze ich zu Hause und draußen heulen die Luftalarmsirenen", so eine vielleicht 30jährige Belgraderin. Ihr Cousin wollte ursprünglich im Sommer heiraten. Die ganze Familie habe sich gefreut, zusammenzukommen, sich wiederzusehen. "Jetzt hat er die Hochzeit abgesagt. Wie das wichtige Fest organisieren. Niemand könnte kommen, könnte Geschenke mitbringen, sich richtig freuen und ausgelassen feiern. Wie soll man in diesen Zeiten heiraten, eine Familie gründen? "

Keine Gedanken daran natürlich bei den Jüngeren in der Stadt. Seit fünf Wochen sind die Schulen geschlossen. Wie auch unterrichten, wie sich auf den Lehrstoff konzentrieren, wenn mittlerweile auch am Tage vor Luftangriffen gewarnt werden muß. Im "Industrija" gleich gegenüber dem Studentenpark hämmern dumpfe Bässe den Krieg aus dem Kopf. 120 beats per minute lassen vergessen, daß in der Stadt gerade wieder die Sirenen warnen. Man würde das Heulen aber ohnehin nicht hören. Der dunkle Discokeller könnte in jeder Stadt in Deutschland stehen, die Kids sind dieselben wie die in Berlin, Hamburg oder Köln, tanzen genauso ausgelassen zum ohrenbetäubenden Technosound. Einzig, die Luft ist nicht so verraucht, es wird nicht so viel getrunken. Die wenigsten haben das Geld für ein Bier oder ein Päckchen Zigaretten. Dennoch ist es übervoll, jeden Nachmittag. Der Eintritt ist frei. Organisiert wird die Tanzparty von den Clubbesitzern. Es geht hier nicht um den großen Reibach. Sie wollen den Jugendlichen eine Möglichkeit geben, die aufgestaute Anspannung wieder loswerden zu können. Der nächtliche Bombenterror soll das Leben nicht bestimmen. Und wer weiß schließlich, wie lange das alles noch dauert.

Auch die Theater der Stadt sind sehr gut besucht. Bis zu dreimal am Tag spielen die Häuser ihr Programm, seit die NATO Jugoslawien attackiert. Auf dem Trg Republike wird derweil eher leichte Unterhaltungsmusik geboten. Seit Kriegsbeginn findet auf dem Platz der Republik täglich ab zwölf Uhr ein Protestkonzert statt. Mit wechselndem Programm natürlich, für jeden mal etwas. Ein paar jugoslawische Fahnen winken in den blauen Nachmittagshimmel, die Zuhörer lassen sich die Sonne ins Gesicht scheinen und singen mit. Ein bißchen Abschalten von den düsteren Nachrichten, von der Angst um die Kinder, vom großen Fragezeichen der Zukunft. Einmal hatten auch die Kleinen der Stadt ihren großen Auftritt hier. Von der Miniplaybackshow über den Jazztanz bis hin zu professionellen Foxtrott- und Tangodarbietungen gaben sie ihr Bestes. "Für die Kinder in der ganzen Welt", wie ein Mädchen lachend ins Mikro des Fernsehens piepste. Mama und Papa, Oma und Opa standen derweil stolz im Regen und freuten sich. Über allem groß im Hintergrund auf einer Wechselwerbetafel: "Stop the Bombs! One World — One Target! " Doch ein Ende des Terrors aus der Luft ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht abzusehen.

Als der Krieg begann, lag in Teilen des Landes noch Schnee auf den Berggipfeln. Mittlerweile ist es heiß geworden, die Sonne brennt auf der Haut. "Man kann den Sommer schon richtig spüren", so Tanja Djurovic. "Die Straßen sind voller Menschen, und auf allen Gesichtern ist ein Lachen. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich Belgrad so voller Leben gesehen habe. Auch wenn es sicherlich nicht der beste Sommer ist, den diese Stadt in dieser Hälfte des Jahrhunderts erlebt, ist es doch einfach wunderbar", meint sie, vermutlich auch, um sich Mut zu machen. Der Spaziergang durch die bevölkerte Fußgängerzone, ein kleines Eis am Kalemegdan, eine einzige Freude in diesen Kriegswochen.

Das Ganze ändert sich am Abend, wenn die Sonne untergeht und der Zwei-Millionen-Metropole eine von mittlerweile über 70 Bombennächten bevorsteht. Angespannte Ruhe herrscht in den Wohnungen, die nach den wiederholten Angriffen auf die Stromversorgung nur noch von Kerzen erhellt werden. "Man wartet darauf, daß etwas Schreckliches passiert. Es ist das Gefühl einer permanenten und sehr realen Gefahr", beschreibt die 23jährige Studentin den plötzlichen Gefühlsumschwung und ihre Angst. Draußen in den Straßen ist totale Finsternis. Seit Wochen gibt es keinen Strom mehr für die Straßenbeleuchtung, nun fehlen auch die Lichtschimmer aus den Wohnungen, die den Nachhauseweg immerhin erahnen ließen.

"Perfektes Jamie Shea-Wetter", meint Tanja. Oben, im dunklen Nichts, ein überwältigendes millionenfaches Sternenfunkeln. Ein Satellit zieht seine Runden. "Vielleicht sind auch wieder NATO-Flugzeuge, Tomahawks, die Luftverteidigung und was sonst noch die Nächte am Belgrader Himmel ausmacht, zu sehen", merkt sie zynisch an.

Die Bombardements beginnen den Alltag der Menschen vollkommen zu bestimmen. Lange hatten sie sich dagegen gewehrt. Doch nun gibt es nur noch stundenweise Strom in Belgrad. Batterien für Taschenlampen und das Transistorradio sind begehrte Mangelware, Gaskocher sind ausverkauft oder nicht bezahlbar. Ein Drittel des Monatseinkommens wird bisweilen von dem verlangt, der noch einen findet. So bleibt allzuoft die Küche kalt, Sandwiches helfen über den Hunger. Doch die Bäckereien haben Probleme, beim anhaltenden Strommangel genügend Brot zu backen.

Ergreifende Szenen in Belgrad

Entwarnung. Die Luftalarmsirenen heulten gerade ihren langen gleichbleibenden Ton in die Straßen der Zwei-Millionen-Metropole Belgrad, als zwei ältliche Busse von Subotica-Trans eine deutsche Friedensdelegation in die Hauptstadt Jugoslawiens fuhren. Unsicherheit bei den Kriegsgebietreisenden, der älteste 82, die jüngste 16 Jahre alt, was das Warnsignal denn zu bedeuten hat.

Kunterbunt zusammengewürfelt ist die Gruppe: "Mütter gegen den Krieg", die eigentlichen Initiatorinnen der Friedensfahrt, Vertreter des Studentenparlaments der Berliner Humboldtuniversität, eine Handwerksvereinigung, Völkerrechtler, laut Eigenbezeichnung radikale Linke, Basisaktivisten der Friedensbewegung wie Parteimitglieder unterschiedlichster Couleur. Einige, die noch nach der Ankündigung in der Tageszeitung „Junge Welt“ zu der Delegation stießen. "Welten prallen hier eigentlich aufeinander", so einer der Teilnehmer.

Einheit im Ziel. Was in Deutschland auf kaum einer Demonstration vorstellbar ist, hier war es möglich. Wessis und Ossis, jugendliche Punks, die Mitvierzigerin im Kostüm wie Politprofis im Rentenalter führte bei allen Differenzen für mehrere Tage eine einfache, aber klare Parole zusammen: "Schluß mit der Bombardierung Jugoslawiens! " Aus Dresden, Hannover, Leipzig, Berlin, Erfurt, Köln, Erlangen und wer weiß woher fuhren sie die mehreren tausend Kilometer nach Belgrad.

Die NATO-Stäbe in Brüssel hatten sich im Vorfeld geweigert, dem "Friedenskonvoi nach Belgrad" eine Garantieerklärung zu geben, nicht bombardiert zu werden. Dennoch war die am Ende 112-köpfige Gruppe am 22. April in Dresden aufgebrochen, ein Zeichen der Solidarität zu den Angegriffenen zu bringen. Ungewiß, ob sie überhaupt eine Einreiseerlaubnis nach Jugoslawien erhalten würden, waren sie nach Budapest gefahren. Vor der deutschen Botschaft in der ungarischen Hauptstadt hatten sie noch eine kurze Antikriegsdemonstration abgehalten, danach Empfang in der nur 500 Meter daneben liegenden Vertretung Jugoslawiens und Warten auf die Visa. Zwei Stunden später waren die notwendigen Stempel im Paß, selbst bei den mitgefahrenen Journalistinnen der antiserbischen Presse.

Weiterfahrt bis zur Grenze, wo die Busse gewechselt werden müssen, und Übernachtung in Subotica. Ein paar Stunden Erholung von den bisherigen Strapazen der Reise, bevor es weitergeht in die jugoslawische Hauptstadt.

Begrüßung und Gespräch im Gebäude des Roten Kreuzes im Zentrum der Belgrader Altstadt. Vorneweg Ilona Rothe, Begründerin der Initiative "Mütter gegen den Krieg". Die Erfurterin will ihren Sohn "wiederhaben", der als Bundeswehrsoldat in Mazedonien stationiert ist. Und zwar lebend. "Ich sah im Fernsehen ein Interview mit einer serbischen Mutter, deren Sohn zur Armee mußte. Und ich wußte, sie hat die gleichen Gefühle wie ich", so ihre Motivation für die Fahrt. Sie rührten aber ebenso die albanischen Flüchtlingskinder, die auch in großer Gefahr seien. "Ich sehe keinen Sinn in dem Krieg. Wir leben in einer aufgeklärten Zeit, wir sind mündige Menschen. Und was tun wir? Wir schlagen uns gegenseitig tot. Das ist die tiefste Barbarei, die ich mir vorstellen kann. "

Nachdem sie mit Gleichgesinnten einen "Aufruf für unsere Söhne" verfaßt hatte, sind in ihrem kleinen, improvisierten Büro auf vier Telefonen binnen kurzem tausende von Anrufen aus ganz Europa gekommen. "Von morgens um sieben bis abends um zehn. " Dazu noch stapelweise Briefe. Mittlerweile können sie sich auf etwa 6000 Frauen und Mütter in ganz Europa stützen.

Verständnis für die Mutter aus Deutschland, die um ihren Sohn bangt. Doch Bratislava Morina, Vorsitzende der Frauenvereinigung Jugoslawiens, betont im überfüllten Konferenzraum den Unterschied zwischen Aggression und Verteidigung: "Sagen Sie Ihrer Regierung, daß sie die Bombardierung beenden muß. " Jugoslawien ist ein souveränes Land und Slobodan Milosevic der vom Volk gewählte Präsident. "Wir haben keinen anderen Staat als diesen. Wir stehen daher zusammen, dieses Land zu verteidigen, notfalls bis zum letzten Sohn", so Morina weiter.

Es tue ihr leid, daß Bomben auf Jugoslawien fallen würden, entgegnet Roth. Ebenso tue ihr aber auch leid, daß die Armee so hart gegen die Albaner und die UÇK, die "Kosovo-Befreiungsarmee", vorgehe. "Die jugoslawische Armee verfolgt Terroristen, wie dies jedes andere Land in der Welt tut. Denken Sie hingegen daran, welch große Unterstützung ihre Regierung für die UÇK geleistet hat", stellt Morina klar. "Wir tun alles, damit die Flüchtlinge wieder zurückkehren können. " Die NATO hingegen habe bei Djakovica einen Flüchtlingskonvoi bombardiert. Man müsse sehen: Albaner, Serben, Moslems, Türken, sie alle seien in diesem Krieg gleich Opfer und nicht nur in der südserbischen Provinz, erklärt Morina, die auch Vorsitzende im Flüchtlingskommissariat ist.

"Eine Million Albaner wurden von den Serben aus dem Kosovo vertrieben", fährt ein jugendlicher Delegationsteilnehmer dazwischen. Lothar Heubl, Mitorganisator der Friedensfahrt, versucht die Wogen etwas zu glätten. Alle sind gekommen, sich einen Eindruck von der Situation zu verschaffen und jeder einzelne steht mit seinem Leben dafür ein. Applaus bei den Anwesenden, Deutschen wie Serben. Die NATO-Staaten sollen nur noch in ihren eigenen Ländern Militärstützpunkte haben und nicht mehr außerhalb. "Wir wünschen uns Frieden, und zwar jetzt. " Erneuter Applaus auf allen Seiten für den politerfahrenen Friedensaktivisten aus Dresden.

"Die weiße Taube als Symbol des Friedens ist hier herzlich willkommen", so Mira Dragas vom jugoslawischen Gesundheitsministerium. Die Zeit drängt, es bleiben wenig Worte. "Frauen können sehr viel tun gegen den Krieg. Sie sind die einzigen, die Leben schenken", meint Radmila Cvetkovic, Generalsekretärin des Serbischen Roten Kreuzes. Ihnen allen gemeinsam ist der Wille zum Frieden. Es ist aber sehr schwer, die Sirenen zu hören und die Bomben abzuwarten, versucht sie die vergangenen Wochen zu beschreiben. Zustimmendes Nicken bei den Älteren im Raum. Bevor die Gruppe zum weniger förmlichen Termin gebracht wird, ruft Cvetkovic die für diese Kriegstage ungewöhnliche deutsch-serbische Begegnung auf, sich als Zeichen des Friedens die Hände zu reichen.

Die Busse mit ihren Friedensplakaten und Friedenstauben an den Fenstern fallen während der Fahrt durch die Stadt auf. Die Menschen am Straßenrand winken, freuen sich über die offensichtliche Solidaritätsbekundung. Vorbei am Trg Republike geht es zum Gebäude des RTS. Der staatliche Fernsehsender war eine Nacht zuvor bombardiert worden. Mehrere Journalisten, insgesamt sechzehn Mitarbeiter, sind bei dem NATO-Angriff ums Leben gekommen, viele liegen verletzt im Krankenhaus. Nur zehn Leichen konnten geborgen werden. Die übrigen sechs, von den Bomben vermutlich vollkommen zerfetzt, gelten weiter als "vermißt".

Es ist das erste Mal seit Beginn der Luftangriffe, daß auf dem Platz der Republik die Lautsprecherboxen schweigen und die riesige Bühne leer bleibt. Das tägliche Protestkonzert gegen den NATO-Terror wurde für diesen Tag abgesagt. Belgrad trauert um die getöteten RTS-Mitarbeiter. Zehntausende zieht es im Verlauf des Tages zum Tasmajdan. Um Bäume gruppiert, neben den Beeten im Park, überall brennen dünne Kerzen, sind Blumen niedergelegt, verharren Menschen, für einen Augenblick wenigstens, in stillem Erinnern an die Ermordeten. Im Hintergrund der Antennenturm und die aufgerissene Hausfront des zerschossenen Staatsfernsehens.

Neben der prächtigen Sankt-Markus-Kirche im Tasmajdan steht die Delegation aus Deutschland, weiß nicht so recht wohin. Die jüngeren Teilnehmer hätten sich am liebsten der lautstarken Demonstration der griechischen Kommunisten angeschlossen. Zu lange hatte es aber gedauert, bis alle aus den Bussen ausgestiegen und die eigenen Transparente entrollt waren: "Fuck the NATO" und "Euer Krieg kotzt uns an" halten einige Bunthaarige aus Berlin auf Bettlaken gemalt, ein schlichtes "Friedenskonvoi" die eher Gesetzteren. Mit bei den Demonstranten ist Sonja Wallenborn. Sie war während der viertägigen amerikanisch-britischen Angriffe im vergangenen Dezember in Bagdad. "Ich wollte die Irakisierung Jugoslawiens, die Zerstörung des Landes mit eigenen Augen sehen. "

Die Gruppe fällt auf, positiv, bei den umstehenden und hinzukommenden Belgradern, bei jung wie alt. Reichlich Journalisten, Kamerateams und Fotografen sorgen für zusätzliche Aufmerksamkeit. "Ich bin so froh, daß sie gekommen sind, um die Wahrheit zu erfahren", so Djurdjvka Midzic. Spontan schließt sie Uta Borrmann aus Magdeburg in die Arme, ein kleiner Zwergpudel eingequetscht dazwischen. "Ich kann das deutsche Fernsehen nicht mehr sehen", so die Belgraderin, "sagen sie einfach nur die Wahrheit, wenn Sie wieder zurückgekommen sind. " Die beiden kannten sich bis dahin nicht.

Die Zeit reicht kaum, um mit all den Interessierten zu sprechen. Zu erklären, warum man selbst den weiten Weg nach Jugoslawien gekommen ist. Zu fragen, was es heißt, in einer bombardierten Stadt zu leben. Die Offenheit und Herzlichkeit ist ehrlich und gegenseitig. Das wohl überwältigendste für alle.

Enttäuschung dann bei denjenigen, die noch einen Tag oder zwei länger bleiben wollten. Nach einer Fahrt durch die Stadt, vorbei an den zerbombten Ministerien und einem kurzen Stopp vor der Brandruine des Usce-Hochhauses auf der anderen Save-Seite, heißt es beim späten Mittagessen, die gesamte Gruppe müsse noch am selben Tag nach Budapest zurückfahren. Die zuständigen jugoslawischen Behörden könnten angesichts der neuen NATO-Drohungen die Sicherheit der Gäste nicht garantieren und bäten daher alle, bis zum Abend das Land wieder zu verlassen.

Am Morgen hatte man noch vereinbart, daß ein Teil der Delegation noch einen Tag bleiben könnte, einzelne vielleicht sogar länger. Ilona Rothe muß eigens Zoran Jeremic, der als hochrangiger Vertreter des Außenministeriums für die Betreuung der Gruppe zuständig ist, hereinbitten, die Situation darzulegen. Er stellt klar, daß es keine Bitte, vielmehr eine Aufforderung sei. Man möge berücksichtigen, daß sich das Land im Krieg befinde.

Unverständnis bei den jugendlichen Mitreisenden, Enttäuschung bei einigen älteren Friedensaktivisten, die am Abend eigentlich an der Demonstration zum Schutz der Save-Brücken teilnehmen wollten. Lange sei zu Hause mit Freunden und der Familie besprochen worden, sich dem "menschlichen Schutzschild" in Belgrad anzuschließen. Nun das. Lange Gesichter auch bei den Kolleginnen von „taz“ und „Spiegel-TV“. Sie hatten gehofft, über den Schlupfwinkel der Friedensfahrt eventuell sogar länger in Jugoslawien bleiben zu können.

"Wir sind dankbar für die Gastfreundschaft und den Empfang, dafür, daß wir überhaupt einreisen durften in der Kriegssituation", rückt Ilona Rothe die Verhältnisse zurecht.

"Der Besuch der Friedensgruppe war wichtig. Gerade weil sie aus Deutschland kam, dem Land, das gegen uns Krieg führt. Es wurde deutlich, daß nicht alle Deutschen den Krieg gegen Jugoslawien unterstützen, daß es einen Unterschied zwischen der Regierung und der einfachen Bevölkerung gibt", erklärt mir Tanja Djurovic, die zwei Tage zuvor ihren 23. Geburtstag feierte. Diese Erfahrung und die zwischenmenschlichen Begegnungen in den wenigen Stunden des Delegationsbesuches seien von enormer Bedeutung, so die Serbin.

Noch während sich die Friedensdelegation aus Deutschland auf der Rückreise durchs Kriegsgebiet befindet, kündigt NATO-Sprecher Jamie Shea an, die Allianz werde ihre Angriffe gegen Jugoslawien intensivieren und "flexibler gestalten": Mehr Kampfflugzeuge werden mehr Ziele stärker und häufiger denn je bombardieren, rund um die Uhr, 24 Stunden, Tag und Nacht. In Nis, im Südwesten Serbiens, haben zu diesem Zeitpunkt bereits NATO-Jets das Elektrizitäts- und Wasserwerk bombardiert. Transmitterstationen von RTS folgen. Der improvisierte Sendebetrieb ist erneut unterbrochen.

Es war der 31. Tag des NATO-Krieges gegen Jugoslawien, der zweite des Geburtagsgipfels der Allianz in Washington, der erste aber für Belgrad, an dem die Luftalarmsirenen am Morgen, am Nachmittag und auch am Abend vor möglichen Bombenattacken warnten, als die Friedensaktivisten aus Deutschland ihre Kurzvisite im Kriegsgebiet wieder beendeten.

Der selbsternannte Weltgendarm, wohl eher waffenstarrender Wegelagerer, hatte unterdessen in der US-Hauptstadt für das neue Jahrtausend die Option globaler Gewaltinterventionen festgeschrieben. 40 Tage später sah sich die jugoslawische Führung gezwungen, der Stationierung internationaler Truppen im Kosovo und dem Abzug ihrer eigenen Einheiten aus dem "Herzen Serbiens" zuzustimmen. Weder gab es für das kleine Balkanland die erhoffte militärische Unterstützung aus Rußland noch aus China, dessen Botschaft in Belgrad am 8. Mai mit vier Raketen zertrümmert wurde. Eine tatsächliche Spaltung innerhalb der NATO war insbesondere nach der Rückendeckung für den Kriegskurs von Bundesaußenminister Joseph Fischer auf dem Bielefelder Sonderparteitag der ehemals pazifistischen Grünen in Deutschland nicht absehbar.

Während man in Brüssel, Washington und den anderen NATO-Kapitalen angesichts des jugoslawischen Truppenabzugs aus den Stellungen im Kosovo in Siegerlaune verfällt und von einer "Kapitulation Belgrads" spricht, will in dem kleinen Balkanland niemand etwas von einer Niederlage wissen. Die feiernden Menschen in den Straßen des Landes denken überhaupt nicht daran, das Ende der mörderischen NATO-Bombardements und die damit einhergehende Vereinbarung ihres Parlaments als Kapitulation zu sehen. Die aus dem Kosovo abziehenden Soldaten werden als Helden gefeiert, die Serben wurden nicht in die Knie gebombt, wie dies so mancher Stratege der westlichen Kriegsallianz wohl hoffte. Alle haben sie der weltgrößten Militärmaschinerie zweieinhalb Monate widerstanden. Sie trotzten dem tödlichen Terror aus der Luft, und sie haben daher allen Grund, diesen Sieg des Lebens über den Tod zu feiern. Der Preis, den sie für ihren Widerstand gegen die neue Weltherrschaftsmacht zahlen müssen, ist freilich hoch. Sie jubeln auf den Trümmern eines zerstörten Landes, das Kosovo haben sie verloren. Nicht alle können daher in die Freudenfeiern über das Kriegsende einstimmen.

    Rüdiger Göbel, geboren 1968 in Heidelberg, arbeitet seit mehreren Jahren bei der Berliner Tageszeitung „Junge Welt“. Als mutmaßlich einziger deutschsprachiger Journalist verbrachte er die Wochen des Bombenkrieges in Jugoslawien.

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