Sieg und Niederlage nach 50 Jahren

Ein Gespräch mit Prof. Dr. Stipe Suvar

Stipe Suvar war ein hochrangiger Akteur des jugoslawischen Selbstverwaltungs-Sozialismus. 1972 wurde er in das ZK des BdK Kroatiens kooptiert, im selben Jahr wurde er kroatischer Kulturminister und blieb es bis 1982. Von 1982 bis 1986 war er Mitglied des Vorstands des ZK des BdK Kroatiens, ab 1986 Mitglied des ZK des BdK Jugoslawiens, bis 1989 Mitglied des Vorstands des ZK des BdKJ und bis zu seiner Ablösung durch Stipe Mesic Mitglied des kollektiven Führungsorgans Jugoslawiens. Seine ganze berufliche Laufbahn hindurch arbeitete er als Soziologieprofessor an der Philosophischen Fakultät in Zagreb und tut dies auch noch heute. Stipe Suvar ist Vorsitzender der vor zwei Jahren gegründeten Sozialistischen Arbeiterpartei Kroatiens. Sie hat ihren Sitz in einer engen Zagreber Altbauwohnung. Mirko Messner war vor Ort und hat Suvars Antworten auf einige Fragen betreffend den Zerfall Jugoslawiens aufgezeichnet.

Wie charakterisieren Sie die wesentlichen inneren Umstände des jugoslawischen Zerfalls?

Die desintegrativen Prozesse beginnen bereits zu Lebzeiten Josip Broz Titos. Auch im Alter war er ein unangefochtener, großer Staatschef; das Ansehen, das er genoß, enthielt zwar Elemente des Persönlichkeitskults, doch war er kein rücksichtsloser Autokrat oder Diktator, sondern bemühte sich um demokratische Absprachen. Hinter seiner Person allerdings verbarg sich ein aufgeblasener bürokratischer Apparat, der von der Selbstverwaltung in keiner Weise entmachtet werden konnte. Und dieser jugoslawische bürokratische Apparat desintegrierte sich in nationale, monolithische Einheiten.

War es nicht gerade die Selbstverwaltung, die diesen bürokratischen Apparat schuf?

Keineswegs. Die Selbstverwaltung hatte das Ziel, eine Bürokratisierung der Gesellschaft zu verhindern. Dieses Ziel wurde nicht erreicht; das heißt, das jugoslawische Experiment mißlang, weil der Hauptteil des gesellschaftlich geschaffenen Mehrwerts vom Staat angeeignet wurde anstatt von den Produzenten bzw. Selbstverwaltern.

Aber zurück zu den nationalen bürokratischen Monolithen: sie setzten sich im Bund der Kommunisten durch und übernahmen dort die Führung. Als die Krise der Selbstverwaltung so weit gediehen war, daß die Zustände unerträglich wurden, tauchten die Konzepte für den Übergang zur kapitalistischen Regelung der ökonomischen Beziehungen auf; Markovi“c engagierte sich besonders für deren Umsetzung. Wesentlich dabei war, daß der IWF bzw. die Weltbank bereits seit den achtziger Jahren ihren Druck auf Jugoslawien dramatisch verstärkt hatten. Jugoslawien hatte große Kredite aufgenommen, um den Geld- bzw. Kapitalmangel zu lindern, und konnte sie nicht bedienen. Die Kredite waren zu teuer gewesen in der Relation zur inneren Akkumulation und zur Stellung am Weltmarkt. Der IWF verfuhr mit Jugoslawien zwar nicht anders als mit anderen Staaten, aber die jugoslawische Ökonomie wurde von den ungeheuer teuren Kreditrückzahlungen ökonomisch erwürgt.

Also, indem sich die nationalen Monolithe den Bund der Kommunisten unterordneten, stellte sich der serbische Teil die Aufgabe, Jugoslawien umzudefinieren. Die These tauchte auf, daß die Serben in diesem Jugoslawien, das im Zweiten Weltkrieg geboren wurde und dessen Symbol Tito gewesen war, nicht gleichberechtigt wären. Die Rede war von einer antiserbischen Koalition aller anderen Jugoslawen; davon, daß Serbien keine gleichberechtigte Republik wäre, da es zwei staatsähnliche autonome Gebiete enthalte — das Kosovo und die Vojvodina; daß also Serbien dreigeteilt wäre. Im Kosovo kam es schließlich zur Explosion, als der albanische auf den traditionellen serbischen Nationalismus traf. Zur selben Zeit nahm der Nationalismus in allen jugoslawischen Republiken zu, der serbische schließlich begann orthodoxe Mythen zu mobilisieren. Die Reliquien des Fürsten Lazar gingen auf Reise, nicht nur durch Serbien, sondern auch durch Bosnien. Die Führungen in der Vojvodina, im Kosovo und in Crna Gora wurden ausgewechselt, und Serbien hatte plötzlich einen absoluten nationalen Führer. Makedonien hielt voller Sorge den Atem an, fürchtete vor allem die Desintegration durch die Albaner in seiner Region; Bosnien und die Herzegowina, damals noch eine multinationale Einheit, rührten sich nicht; Kroatien leistete diffusen Widerstand, in den sich immer mehr nationalistische Elemente mischten, und Slowenien beschloß, sich von Jugoslawien abzuspalten. Ich bin überzeugt davon, daß die slowenische Parteidelegation den 14. Kongreß des BdKJ mit einem einzigen Ziel beschickt hatte, nämlich, ihn demonstrativ wieder zu verlassen.

Mit einem Wort: das Wesen der inneren Desintegration Jugoslawiens bestand im Aufeinanderprallen der nationalen bürokratischen Monolithe, die sich den Bund der Kommunisten einverleibten; indem sie zunächst einmal diesen desintegrierten, spalteten sie die einzige führende politische Kraft des Staates, denn dieser BdKJ war nicht nur die einzige Partei in Jugoslawien, sondern auch dessen politisch kohäsiver Faktor. Der serbische Nationalismus gab anschließend das Tempo vor, der kroatische und der slowenische warteten quasi hinter dem Vorhang auf ihren Auftritt, und den hatten sie dann auch. Ich bin übrigens fest überzeugt davon, daß sich die serbische und die slowenische Führung über den Austritt Sloweniens aus Jugoslawien abgesprochen hatten und darüber, daß Kroatien nur dann sich abspalten dürfte, wenn die überwiegend serbisch besiedelten Teile Kroatiens in Jugoslawien verbleiben würden. Nun, darauf folgten die kriegerischen Auseinandersetzungen in Kroatien — der Krieg in Slowenien war im Unterschied dazu eine inszenierte Farce —, Bosnien, der "Bauch Jugoslawiens", konnte ohne Jugoslawien nicht bestehen und versank in einem Krieg mit wechselnden Koalitionen und Feindschaften, und kein Mensch kann heute sagen, wie lange es als Protektorat xistieren wird.

Und die äußeren Umstände?

Der Westen war tief beeindruckt vom Fall der Berliner Mauer, von der Auflösung der Sowjetunion und vom Krach des osteuropäischen Sozialismus. Und vor allem damit beschäftigte sich seine Politik. Gorbatschow war eine Art politisches Mannequin, das vom Westen als "großer Gorbi" gehandelt wurde, als großer Reformator, der allerdings im Land selbst keine wesentlichen Änderungen durchsetzen konnte. Darum setzte der Westen schließlich auf Jelzin. Am 8. Dezember 1991 traf sich dieser mit den Präsidenten der Ukraine und Weißrußlands, um die Auflösung der Sowjetunion zu beschließen. Am 25. Dezember trat Gorbatschow ab, bestellte einen Militärputsch und begab sich in sein Feriendomizil am Schwarzen Meer. Jelzin hüpfte allerdings selbst auf den Panzer, und Gorbatschow mußte gehen. Sofort nach der Auflösung der Sowjetunion, am 15. Januar 1992, anerkannte der Westen die Selbständigkeit Sloweniens und Kroatiens. Er hatte keinen Bedarf mehr nach einer selbständigen Existenz des föderalen Staates Jugoslawien, des Tampon-Staates zwischen den Blöcken, die eifersüchtig darüber wachten, daß er sich nicht dem jeweils anderen zu sehr an den Hals werfe.

Die westliche Politik nahm an, daß mehrere kleine Staaten anstelle Jugoslawiens leichter zu handhaben wären, aber offensichtlich kennt sie die Südslawen zu wenig; sie rechnete wahrscheinlich nicht damit, daß sie übereinander herfallen und sich gegenseitig niedermachen würden.

Da gab es neben anderen auch ein gewichtiges ideologisches Argument für die westliche Unterstützung der Zerfallserscheinungen in Jugoslawien. Wenn der Sozialismus schon so gründlich und spektakulär zusammenbrach, dann durfte er dort, wo er meiner Meinung nach lange Zeit am attraktivsten war, nicht bestehen bleiben.

Die USA überließen den Europäern die Initiative, bis sie das Bedürfnis verspürten, Rußland noch mehr einzuengen und ihre Hegemonie in Europa zu bewahren, das heißt, nicht nur Westeuropa, sondern — nach dem Zerfall des Warschauer Pakts — ganz Europa mittels Atlantikpakt stärker in die eigene Strategie einzubinden. Darum kam es auch zum Überfall auf Jugoslawien, zur Besetzung des Kosovo, zur De-facto-Besetzung Albaniens und Makedoniens; in Bosnien hatten sie sich schon früher festgesetzt, während Kroatien und Slowenien noch immer und schwer darauf warten, daß ihre Servilität gegenüber dem NATO-Pakt belohnt wird. Der Atlantikpakt ist als übriggebliebener Dinosaurier, als Instrument der amerikanischen Außenpolitik, bereits bis an die Grenzen Chinas gestoßen.

Wie beurteilen Sie die Perspektiven der Linken auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien?

Eine Neuauflage der kommunistischen Bewegung in dieser Region ist in der Form, wie sie als Partei und Ideologie, als Politik zwischen der Oktoberrevolution und dem Fall der Berliner Mauer entwickelt wurde, nicht denkbar. Das bedeutet nicht, daß die Ziele, für die sich die Kommunisten in Theorie und Praxis trotz aller Deformationen eingesetzt haben, nicht aktuell wären. In Europa und weltweit dauert die Auseinandersetzung an um die Erfüllung der wichtigsten Parolen der Linken, wie sie in der französischen Revolution geboren wurden — Freiheit, Gleichheit, Solidarität. Und das gilt für alle Länder und für die gesamte Menschheit. Die Linke in Europa und weltweit muß nach meiner Meinung neue Strategien und Taktiken entwickeln, ihre Programme und Visionen reformieren. Auf alten Formeln beharren hat nicht viel Sinn.

Hier bei uns spielen jetzt alle auf dem Klavier der Sozialdemokratie. Aber sie haben keine Ahnung davon, was Sozialdemokratie ist, und sie sehen nicht, daß sich auch die Sozialdemokratie im Westen in einer fürchterlichen Krise befindet. Sie spielt die Rolle einer konstruktiven kapitalistischen Kraft, die engagiert ist für die Konsolidierung und Reform des Systems. Sie baute mit am Wohlfahrtsstaat. Der Kapitalismus in seiner Globalisierung hat nun das gegenteilige Ziel: den Wohlfahrtsstaat zu vernichten — und damit den wichtigsten Politikansatz der Sozialdemokratie. Und weiter: die Sozialdemokratie hat ihren bösen Bruder verloren, den kommunistischen, mit dem sie sich konfrontieren mußte und von dem sie insofern auch existierte. Jetzt steht sie da, die Sozialdemokratie im Westen. Sowohl ihre alten Formeln als auch die des sowjetisch inspirierten Kommunismus werden durch die Realitäten ausgehebelt. Die Linke ist deshalb derzeit zwar in Defensive, aber die neue Weltordnung ist nicht das Ende der Geschichte, sondern der Beginn einer großen Unordnung in der Welt. Der gegenwärtige Imperialismus wird sich bemühen, noch lokale Kriege zu provozieren, die Waffenproduktion anzukurbeln, und die derzeit rund 200 Staaten in der UNO auf 500 kleinere zu parzellieren, damit fünf, sechs Kommandanten übrigblieben. Aber das wird nicht so bruchlos gehen. In den nächsten zwei Jahrzehnten werden die USA ihre Rolle als alleiniger Weltpolizist verlieren. Die Mehrheit der Weltbevölkerung will Amerika schon heute nicht als Weltpolizisten haben, aber sie ist desintegriert und zersplittert — bis sich wieder kohäsive Kräfte bilden werden.

Die Linke in unserer Region kann sich nicht entwickeln, wenn sie auf sich selbst gestellt bleibt. Sie kann nur ein Reflex der Linken in Europa und in der Welt sein. Wir haben derzeit wenig Möglichkeiten, allein aus der Versenkung zu kommen, wir sind zurückgeworfen auf die Provinz, auf die Bananenrepublik. Die meisten von jenen, die sich hier — oder in Serbien — Sozialdemokraten oder Linke nennen, sind nationalistisch orientiert, benutzen nationalistische Parolen. Im integrationistischen Teil Europas verliert der Nationalismus relativ an Boden, aber in unserer Region hat sich die Linke in den Nationalismus verbissen.

Wo sehen sie demnach den Ansatz für linke Politik vor Ort?

Die Linke hier vor Ort muß vor allem über eines nachdenken: die Transition der Gesellschaft, für die sich alles ringsherum abstrampelt und der sie — die Linke — auch selbst applaudiert, ist eine Rückkehr in den Kapitalismus, allerdings in die Peripherie des Kapitalismus, wo wir als Markt mit billiger Arbeitskraft und zum Absatz von sonst nicht absetzbaren Waren zur Verfügung stehen. Wenn die Linke das einmal begriffen hat und in der Lage ist, ein Programm des Widerstands dagegen zu formulieren, gibt es vielleicht wieder Entwicklungsmöglichkeiten. Widerstand bedeutet, gesellschaftliche Kräfte zu sammeln, damit diese Situation nicht zu einem Dauerzustand wird. Im Moment ist die Linke allerdings in die Fama von der Transition verliebt und übersieht, daß sie — die Transition — den schlimmsten und wildesten, provinziellsten Kapitalismus gebiert, der als Werkzeug des entwickelten Kapitalismus fungiert, indem er ihm eine Peripherie oder Halb-Peripherie bereitstellt im Sinne des ungleichen Warenaustausches [Tausches zu ungleichen Bedingungen? ].

Derzeit hat die Linke noch keine neue Vision, keine neuen Programme, die Mehrheit der Bevölkerung sitzt noch immer nationalen Phrasen auf, jedes Wort aus dem Begriffsfeld des Sozialismus stößt auf breite Ablehnung, geduldet werden nur jene Linke, die linkes Theater aufführen. Unsere Partei ist zum Beispiel die einzige von 83 Parteien in Kroatien, die sich entschieden hat, den Sozialismus des 21. Jahrhunderts als Zielvorstellung ins Parteiprogramm aufzunehmen, und wir werden angesehen wie Verrückte oder wie die Hexen im Mittelalter. Noch, aber die gesellschaftliche Krise schreitet voran — in Kroatien, in Slowenien, in Serbien. Ich gebe den aus dem Konkurs Jugoslawiens entstandenen Regierungen noch zwei, drei Jahre; sie werden dann gegen eher sozialdemokratisch orientierte ausgetauscht, aber es wird sich erweisen, daß auch diese als Akteure des westlichen Konzepts der entwickelten kapitalistischen Zentren agieren, und daraus wird eine neue Linke Kraft beziehen müssen.

Hat der Jugoslawismus als progressive integrationistische Idee ausgedient?

Ich bin nicht für ein neues Jugoslawien um jeden Preis. Ein nichtsozialistisches Jugoslawien interessiert mich nicht. Es ist mir egal, ob es in dieser Region einen oder mehrere Staaten gibt, sechs oder siebzehn, so wie seinerzeit siebzehn Armeen gegen die Tito-Armee kämpften: Deutsche, Italiener, Ungarn, Albaner, Bulgaren, vier Sorten Tschetniks und Ustaschas, Domobranzen, muslimanische Milizen, Balisten usw. Meinetwegen kann sich jede Gemeinde als Staat deklarieren, aber sie soll uns Reise-, Versammlungs-, Informationsfreiheit und was es sonst noch an bürgerlichen Freiheiten gibt, garantieren. De facto gibt es ja heute auf dem Territorium der ehemaligen Sozialistischen föderativen Republik Jugoslawien 23 Staaten oder staatliche Gebilde. Makedonien ist formal ein einheitlicher Staat. Die Albaner im Nordteil sind allerdings bereits ein Staat im Staate. Das heutige Jugoslawien besteht aus Crna Gora und dem Kosovo, aus der Vojvodina, und aus Serbien. Im ehemaligen Bosnien gibt es die Föderation BiH und die Serbische Republik. Und dann gibt es in der Föderation zehn Kantone mit eigenen Regierungen, mit jeweils zehn bis zwanzig Ministern und einem Innenministerium, so daß wir von insgesamt dreizehn Staaten auf bosnischem Territorium sprechen können: vom Gesamtstaat, den zwei Entitäten, und den zehn Kantonen, wobei die Kroaten für die drei, in denen sie die Mehrheit bilden, eine dritte Entität fordern.

Wie konnte das in einem Staat mit einer derartigen progressiven Widerstandstradition passieren?

Die Kräfte, die im Zweiten Weltkrieg besiegt wurden, erhielten durch die Degeneration des Bunds der Kommunisten die Möglichkeit, fünfzig Jahre später ihren Sieg zu feiern.

    Das Gespräch mit Stipe Suvar führte Mirko Messner, Mitglied des Bundesvorstands der KPÖ.

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