Fetisch Religion (1998/99)

Zur fundamentalen Kritik des scheinbar Unüberwindbaren

von Franz Schandl

»Wer sich scheut, endlich zu sein, scheut sich zu existieren.« — Ludwig Feuerbach

Wider jedwede Ontologisierung des Himmels geht es in der Folge um eine Historisierung des gesellschaftlichen Formprinzips der Religion als ein bestimmender Fetisch der zweiten Natur, der jedoch unter den Bedingungen von Warenwirtschaft und Geld stets an Bedeutung verlieren muß.

Gottesbeweis und Afterdienst

Vor der Aufklärung gestaltete sich die Kritik an abendländischer Kirche und Religion innerhalb des Glaubens (Wyclif, Hus, Luther, Zwingli, Calvin, Müntzer). Doch diese reformatorischen Bewegungen wurden nach dem Dreißigjährigen Krieg schwächer und schwächer. Die Kirche wurde zusehends weniger von internen Spaltungen und Abspaltungen bedroht, sondern von außen: Kapital, Politik, Aufklärung machten ihr das Leben immer schwerer, entzogen ihr eine Zugriffsmöglichkeit nach der anderen. Unter der Soutane ist sie nackt.gemein

Es war »die luftige, neumodische Welt, welche alles zu Geld macht, weil sie viel Geld braucht«, schrieb Jeremias Gotthelf vor über 150 Jahren. Der Schweizer Pfaffe schrieb in seinem Roman mit dem bezeichnenden Titel »Geld und Geist« eine durchaus beeindruckende Prosa über die Zersetzung des Glaubens in Zeiten des sich durchsetzenden Warenverkehrs. In sorgsamer Betulichkeit wurden die neuen Untugenden angeklagt. Allein, es sollte nichts nutzen. Eine Schicht nach der anderen wurde zu jenem Geld hin emanzipiert oder von jenem unterworfen. Was in der Konkretion dasselbe gewesen ist. Der neue allgemeine Götze war das Geld, und Gott sah schlecht aus gegen ihn. Während an ersteren alle glauben, weil eben danach handeln mußten, wurde es erstmals möglich, sich des letzteren zu entledigen.

Produktionsstätten und Markt führten die Menschen zueinander, rissen sie aus der ständischen Trägheit, befreiten sie von der Scholle, ließen sie die Welt als Möglichkeit und Prozeß erblicken. Daß die Frau zumindest ein Mensch ist und die Erde rund, setzte sich auch in den dumpfesten Ganglien durch. Zwangsweise. Momente positiver Dialektik des Kapitals und seines Wertfetischs gegenüber der Religion und ihrem Gottfetisch ließen sich zuhauf finden und benennen. Der alten Welt ist in Summe absolut nicht nachzutrauern, wenngleich im Detail auch Positives verschüttet werden mußte.

Der himmlischen Personalisierung folgte die irdische Versachlichung der Welt durch die Ware. Doch der alte Fetisch war mehr als zählebig, er lebte in der neuen Form und ihren Bewegungen weiter, obwohl er nur noch einen schwachen Abglanz alter Absolutheit darstellte. Mit der Zeit wurde es sogar vorstellbar, nicht an einen Gott glauben zu müssen, ja man wurde nicht nur nicht verbrannt, sondern sogar toleriert. »Cuius regio, eius religio« erscheint in Zeiten der Meinungs- und Glaubensfreiheit wie eine dunkle Groteske längst vergangener Tage. Derweil, das ist keine vierhundert Jahre her.

Religion erfährt im Kapitalismus eine Wandlung hin vom allgemeinen Mittler des Geschehens zu einem bloß besonderen Surrogat. Die bürgerliche Religion verstehen wir als einen transzendierten Fortbestand des alten Überfetischs als Sonderfetisch, der der neuen Wertform aber ganz entschieden unterworfen ist, so sehr er auch als deren Korrektur und Linderung auftritt. Der Bedeutungswandel von der allgemeinen Bedingung gesellschaftlicher Kommunikation zur besonderen Form der Sublimation kann hier aber nicht weiter reflektiert werden.

Die beginnende Religionskritik war sich ihrer weitgehend unbewußt. Baruch de Spinoza etwa behauptete noch allen Ernstes, daß es überhaupt unmöglich sei, die Existenz Gottes zu bezweifeln. Doch diese Feststellung widerlegt sich von selbst. Wenn Spinoza davon spricht, daß das Nichtsein Gottes unmöglich denkbar wäre, hätte er es gar nicht aussprechen können. Denn was nicht denkbar ist, ist auch nicht sagbar. So hat Spinoza mit der kategorischen Zurückweisung dieser unstellbaren Frage, sie doch vorerst selbst stellen müssen. Die dezidierte Verneinung macht diese Ketzerei nicht verzeihbarer. Eine Tür zur Aufklärung wird hier aufgestoßen, der gehuldigte Fetisch gerade durch Begründung und Beweis der Affirmation hinterfragt. Kein Wunder, daß die Kirche auf ihn nicht gut zu sprechen gewesen ist. Zuviel Nachfragerei, zuviel Denken geht in solcherlei Glaubensbekenntnis ein.

Schon der vorkritische Ansatz Kants, Gott beweisen zu wollen, verdeutlicht die Krise des Glaubens. Denn Gott ist vorausgesetzt, ewige Bedingung: Gott ist in der christlichen Dogmatik das undiskutierbare Apriori. Noch einmal: Wer beweisen will, zweifelt, ob er will oder nicht, auch wenn er diese Zweifel ganz selbstverständlich ausräumt. Spinoza, Kant oder auch Hegel wurden so zu Religionskritikern wider Willen.

Nicht nur, wer sich von Gott ein Abbild macht, sündigt, sondern auch jener, der das Unbegreifbare in Begriffe fassen will. Der Versuch, Gott und die Vernunft der Aufklärung zusammenzubringen, ist die nichterkannte Vorstufe seiner Verflüchtigung.

Ein Grundproblem Kants war: Er dachte die Welt ohne Gott, ohne freilich die Welt ohne Gott denken zu können: »Religion ist (subjektiv betrachtet) das Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttliche Gebote«, schreibt er; oder: »Ich nehme erstlich folgenden Satz, als einen keines Beweises benötigten Grundsatz an: alles, was außer dem guten Lebenswandel, der Mensch noch tun zu können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden, ist bloßer Religionswahn und Afterdienst Gottes.«

Wozu dann aber noch Gott? wäre die nächste Frage gewesen, und die Kirche merkte sehr wohl, daß hier einer – ohne es freilich subjektiv zu wollen – ihre Prinzipien untergrub. Wer für die Freiheit der Andacht und gegen den Tugendwahn eintrat, der war selbstredend gefährlich. Was auf den vorkritischen Kant zutrifft, trifft also noch mehr auf den Meister der »Kritiken« zu. »Schon der Titel »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« (1793) setzt einen polemischen Anspruch und steht in Fortsetzung der drei Kritiken, alle Gebiete des Wissens und auch des Glaubens der Vernunft, der höchsten menschlichen Instanz zu unterwerfen,« schreibt ein Biograph Kants. Gott war ihm viel, doch die Vernunft war ihm alles.

Auf diese Subordination des Glaubens antwortete die protestantische Kirche mit dem Einschreiten der preußischen Zensurbehörde. Sogar an ein Publikationsverbot wurde gedacht. Auf »Seiner Kösniglichen Majestät Allergnädigsten Spezialbefehl« teilte man dem hochangesehenen siebzigjährigen Philosophen unverblümt wie unverschämt mit, daß »widrigenfalls Ihr Euch bei fortgesetzter Renitenz unfehlbar unangenehmer Verfügungen zu gewärtigen habt«.

Das gemeine Extrem

Für Hegel war Gott Erschaffer und Bezugspunkt der Totalität. In seiner wegweisenden »Phänomenologie des Geistes« (1806) heißt es: »Von allem, was ist, lag die Bedeutung in dem Lichtfaden, durch den es an den Himmel geknüpft war; an ihm, statt in dieser Gegenwart zu verweilen, glitt der Blick über sie hinaus, zum göttlichen Wesen, zu einer, wenn man so sagen kann, jenseitigen Gegenwart hinauf.« »Das Wesen des Gottes aber ist die Einheit des allgemeinen Daseins der Natur und des selbstbewußten Geistes, der in seiner Wirklichkeit jenem gegenüberstehend erscheint.«

Doch dort, wo Hegel die Götter (Plural!!!) als »das freie Extrem der Allgemeinheit« bezeichnet, ist deren menschliche Gemachtheit kaum zu überlesen. Die Götter als zu Ende gedachter menschlicher Extremismus, besser könnte man den Himmel nicht diskreditieren. Wo immer sich die europäische Aufklärung über Gott hermachte, blieb jener nicht ohne Schrammen. Sobald Gott nicht mehr bloß erfahren und geglaubt, sondern gedacht und erkannt werden sollte, wurde es für ihn brenzlig.

»Die wahrhafte Kritik der Kategorien und der Vernunft ist gerade dies, das Erkennen über diesen Unterschied zu verständigen und dasselbe abzuhalten, die Bestimmungen und Verhältnisse des Endlichen auf Gott anzuwenden.« Doch blättern wir in der »Logik« einige Seiten zurück, schon fängt Hegel Gott in seinem System ein, wenn er behauptet, »daß es nirgend im Himmel und auf Erden etwas gebe, was nicht beides, Sein und Nichts, in sich enthielte«.

Damit ist aber Gott dem Irdischen gleichgesetzt, nur mehr unterscheidbar im spezifischen Ensemble von Sein und Nichtsein, nicht mehr wesensmäßig anders. Faktisch demontiert Hegel hier seinen Gott. Folgesätze wie »Gott ist und Gott ist nicht« bzw. »Gott ist Werden und Vergehen« sind mit dem obligaten Gottesglauben, der, um bestehen zu können, immer intransigent sein muß, unvereinbar. Hegels Denken ist hier weiter als seine Überzeugung. Dieser Widerspruch zwischen Bekennen und Erkennen zieht sich übrigens durch das ganze Werk Hegels.

Vor den Schlüssen der Dialektik rettet sich Hegel gewöhnlich in die Metaphysik. Am Rande seiner eigenen Philosophie erzittert er, dort, wo sie vor lauter Konsequenzmacherei überzuborden droht, flüchtet er in ein kategorisches Muß. »Substanzen aber müssen wir haben, denn wir haben sie angenommen; es soll uns nicht alles verschwinden, sondern etwas übrigbleiben; denn wir haben ein solches Beharrliches, das wir Substanz nannten, vorausgesetzt; dies Etwas muß also einfach sein.«

Der Materialist Ludwig Feuerbach war es dann, der die klassische Religionskritik verkehrte und somit vollendete. Er spitzte Hegels »freies Extrem« in seinem Hauptwerk »Das Wesen des Christentums« (1841) noch zu: »Die Religion ist die Entzweiung des Menschen mit sich selbst: er setzt sich Gott als ein ihm entgegengesetztes Wesen gegenüber. Gott ist nicht, was der Mensch ist – der Mensch nicht, was Gott ist. Gott ist das unendliche, der Mensch das endliche Wesen; Gott vollkommen, der Mensch unvollkommen; Gott ewig, der Mensch zeitlich; Gott allmächtig, der Mensch ohnmächtig; Gott heilig, der Mensch sündhaft. Gott und Mensch sind Extreme.«

Doch diesen falschen Dualismus enttarnt Feuerbach. Gott wird eindeutig und durchgehend als menschengeschaffen erkannt, als das vom Menschen freigesetzte absolute Extrem: »Das Bewußtsein Gottes ist das Selbstbewußtsein des Menschen, die Erkenntnis Gottes die Selbsterkenntnis des Menschen. Aus seinem Gott erkennst du den Menschen, und wiederum aus dem Menschen seinen Gott; beides ist eins. Was dem Menschen Gott ist, das ist sein Geist, seine Seele, und was des Menschen Geist, seine Seele, sein Herz, das ist sein Gott; Gott ist das offenbare Innere, das ausgesprochene Selbst des Menschen.« Kurzum: »die Religion ist das erste und zwar indirekte Selbstbewußtsein des Menschen.«

Im Prozeß der Vergesellschaftung, der auch stets einer der Vergeistigung gewesen ist, sah der Mensch überall Geister und erschuf sie nach seinem Abbilde. Besonders bei den griechischen Göttern ist das augenfällig. Zeus vögelte noch in der Gegend herum, illustrierte dabei nichts anderes als den Traum des privilegierten freien Mannes der griechischen Polis. Daß ihre Götter unfehlbar sind, wäre den Griechen nie eingefallen, jene strotzten geradezu vor konkreter Weltlichkeit. Die Abstraktionsleistung hin zur Allmächtigkeit war der jüdisch-christlichen Tradition überlassen, wenn auch nicht vorbehalten.

Gott ist die Abstoßung des Menschen von ihm selbst zu ihm hin. Mangels eigener Attraktion verliert er sich in der Repulsion. Seine endliche Nichtigkeit übersetzt er durch Transzendierung in unendliche Wichtigkeit. »Die Religion ist eben die Anerkennung des Menschen auf einem Umweg. Durch einen Mittler.« (Marx) Es ist der allgemeine materielle und dadurch auch ideelle Mangel, der den Menschen zu fetischistischen Formen der Kommunikation zwingt: sei es der Tausch oder die Politik, das Recht oder die Religion. Immer herrscht hier eine indirekte Bezüglichkeit. Solange der Mensch Knecht seiner Verhältnisse ist, sind diese Formen unbedingt notwendig, ja bis zu einem gewissen Grad immer auch emanzipatorisch zu deuten. Nichtsdestotrotz sind sie – ganz anders als sie den Menschen in ihrer zeitlichen, örtlichen und geistigen Beschränktheit erscheinen – eherne Gesetzlichkeiten des Menschseins.

Fetisch meint, daß die Menschen sich nicht selbst sind, sondern eines Konstruktes bedürfen, um sinnvoll miteinander in Beziehung treten zu können. Die Anerkennung des Menschen erfolgt nicht direkt, sondern durch objektiv aufoktroyierte wie subjektiv realisierte Formen. Der Fetisch ist Folge der Dialektik materiellen Mangels und geistiger Hilflosigkeit. Er kann somit nicht einfach weggezaubert werden. Der Fetisch ist ein Surrogat. Er erscheint deshalb ontologisch, weil er bisher noch nicht entschieden durchbrochen werden konnte. Ein fetischfreier Bezug bedeutet hingegen die direkte Anerkennung des Du, des Anderen, eben nicht als gesellschaftliche Rolle oder Charaktermaske.

Religion ist das Eingeständnis, Erschienen als Serie in “Junge Welt”, 28.12.1998 – 2.1.1999daß der Mensch nicht zu sich finden kann, sich außer sich setzen muß, um sich anzuerkennen. Sie ist die verinnerlichte Kritik, der jedoch die äußere Seite fehlt. Sie ist das stete Zu-Kurz-Kommen. Beten statt Denken ist angesagt, Erflehen statt Fordern. Leiden erschlägt die Aktivität, Demut das Aufbegehren. Armut und Elend werden in einem Jammern und Klagen zugedeckt, zur karitativen Frage, eben nicht als soziales Problem behandelt. Oben und Unten werden als selbstverständlich angesehen, was heißt: gottgegeben und gottgewollt. Glauben meint das, was Erkenntnis erstickt, Kirche das, was Kritik erdrückt.

Opium des Volkes

Für den jungen Marx war die Kritik der Religion mit Feuerbach »im wesentlichen beendigt«. Zusammenfassend schreibt er in seiner Jugendschrift »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« (1843): »Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewußtsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer Point-d’honneur, ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistige Aroma die Religion ist. Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Prostestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.«

Marx schlußfolgert: »Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusion bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.« »Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist (…).«

Im »Kapital« notiert er dann: »Der religiöse Widerschein der wirklichen Welt kann überhaupt nur verschwinden, sobald die Verhältnisse des praktischen Werkeltagslebens den Menschen tagtäglich durchsichtig vernünftige Beziehungen zueinander und zur Natur darstellen. Die Gestalt des gesellschaftlichen Lebensprozesses, streift nur ihren mystischen Nebelschleier ab, sobald sie als Produkt frei vergesellschafteter Menschen unter deren bewußter planmäßiger Kontrolle steht. Dazu ist jedoch eine materielle Grundlage der Gesellschaft erheischt oder eine Reihe materieller Existenzbedingungen, welche selbst wieder das naturwüchsige Produkt einer langen und qualvollen Entwicklungsgeschichte sind.«

Volkstümlich zusammengefaßt wurde diese Sicht von August Bebel in seinem 1874 erschienenen Buch »Christentum und Sozialismus«. Eine seiner bekanntesten Formulierungen ist wohl jene: »Christentum und Sozialismus stehen sich gegenüber wie Feuer und Wasser. Der sogenannte gute Kern im Christentum, den sie, aber ich nicht, darin finden, ist nicht christlich, sondern allgemein menschlich, und was das Christentum eigentlich bildet, der Lehren- und Dogmenkram, ist der Menschheit feindlich.«

Lenin behandelte das Problem in seiner Schrift »Sozialismus und Religion« aus dem Revolutionsjahr 1905. Einerseits war für ihn klar: »Wir fordern, daß die Religion dem Staat gegenüber Privatsache sei, können sie aber keineswegs unserer eigenen Partei gegenüber als Privatsache betrachten«. Andererseits legte er aber Wert auf eine bestimmte Untergewichtung des Antiklerikalismus, denn »die wissenschaftliche Weltanschauung werden wir immer propagieren, und die Inkonsequenz irgendwelcher >Christen< müssen wir bekämpfen, das bedeutet aber durchaus nicht, daß man die religiöse Frage an die erste Stelle rücken soll, die ihr keineswegs zukommt, daß man eine Zersplitterung der Kräfte des wirklich revolutionären, des ökonomischen und politischen Kampfes um drittrangige Meinungen oder Hirngespinste willen zulassen soll, die rasch jede politische Bedeutung verlieren und durch den ganzen Gang der ökonomischen Entwicklung bald in die Rumpelkammer geworfen werden.« Der antireligiöse Kampf war so mit Bestimmtheit, aber keineswegs missionarisch zu führen. Von besonderer Wichtigkeit war die Frage dazumals auch gewesen, weil die erste russische Revolution eine stark populistisch-religiöse Schlagseite hatte, an ihrer Spitze stand in den ersten Tagen der Pope Gapon, der sich übrigens später als zaristischer Spitzel entpuppte und von einem sozialrevolutionären Kommando hingerichtet wurde. Vergessen werden darf auch nicht, daß es selbst in der bolschewistischen Partei in den Jahren der anschließenden Reaktion religiöse Stimmungen gab, etwa das Gottbildnertum, das Religion und Sozialismus zu versöhnen versuchte, bzw. in letzterem eine erstere sah. Lunatscharski, dessen Hauptexponent, nannte die Sozialdemokratie »eine große religiöse Macht«, der es um die »Schaffung einer Religion der Arbeit« geht. Die Marxsche Theorie huldigte jedenfalls keinem primitiven oder rigorosem Atheismus, Motto: Nur kein Opium! Ihre Kritik ist keine bloße Negation, sondern betont die historische, aber somit auch zeitlich begrenzte Notwendigkeit religiösen Bewußtseins. Der Kommunismus war ihr weder Religion noch Antireligion, sondern jenseits der Religion. Sie propagierte keinen Sozialismus, der einer Kirche glich. Genau das passierte aber durch die Regression des Sozialismus von der Theorie zur Ideologie. Man lese etwa nur die Schriften des nicht zu unterschätzenden Arbeiteragitators Joseph Dietzgen. Dessen Werk strotzt nur so vor religiöser Sprache und religiösem Gleichnis. In seinem Buch »Über den Glauben der >Ungläubigen<« (1880) wird ihm der Sozialismus (ähnlich wie später Lunatscharski) zum »Evangelium der Gegenwart«: »Bewußte, planmäßige Organisation der sozialen Arbeit nennt sich der ersehnte Heiland der neueren Zeit.« Ja, Dietzgen wird noch deutlicher: »Das Bewußtsein, einem höheren Regiment untertan zu sein, teilen wir mit der Religion aller Götter und Zeiten, wir teilen es mit dem Götzendienst und mit dem Gottesdienst. Das Grundelement und Wesen, worin aller Glaube lebt und webt, erkennen wir demütiglich. Nur ist unsere Art, unsere Form ein wenig verschieden. (…) Wenn diese demütige Erkenntnis Religion ist, dann haben wir allerdings, ich behaupte es mit Wärme, eine warme Religion.« Es ist schon interessant, in welcher Traditionslinie sich hier plötzlich der Sozialismus wiederfindet. Er wurde zum Glaubensbekenntnis, zur Religion des Industriezeitalters. Vom Nichtreligiösen führte der Weg zum Andersreligiösen. Der sozialdemokratischen Praxis war Dietzgen näher als Marx. Die Kritik an Religion und Kirche ließ nach in dem Maße, indem die Sozialdemokratie sich selbst sakralisierte. Der gläubige Popanz, den die Arbeiterbewegung mit sich herumgeschleppt hat, braucht den Vergleich mit der Kirche nicht zu scheuen: Das Proletariat wurde zum auserwählten Volk, die Arbeit zum Heilland, die Partei zur Kirche, der Sozialismus zum Evangelium, die klassenlose Gesellschaft zum Paradies.

Reimmunisierung des Glaubens

Es waren die österreichischen Sozialdemokraten der Zwischenkriegszeit, die ganz bewußt entscheidende Schritte Richtung Religion vorexerzierten. An ihnen läßt sich die Abwendung vom klassischen Standpunkt sehr plastisch zeigen. Oder wie Wilhelm Ellenbogen es beim Linzer Programmparteitag der SDAP 1926 ausdrückte: »Wir sind mit Marx, und das war sein Grundgedanke, dagegen – daß die Religion mißbraucht wird als Opium für das Volk.«

Die Austromarxisten fielen in ihrer Religionsbetrachtung nicht nur hinter Marx zurück, sondern teilweise auch hinter Kant. Möglicherweise sogar am konsequentesten in der europäischen Arbeiterbewegung betrieben sie die Reontologisierung und somit Reimmunisierung der Religion. Denn wenn diese – wie sie unisono von rechts bis links unterstellten – eine Existenzbedingung der Menschheit darstellt, dann ist deren fundamentale Kritik sinnlos, nutzlos und zwecklos.

Für Otto Bauer, der jahrelang der führende Kopf der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) gewesen ist, war klar: »Als Partei dürfen wir keinen Glauben, auch nicht die Ungläubigkeit vertreten, jedes Bekenntnis muß uns heilig sein.« Religion wird anthropologisiert: »Die ursprüngliche Wurzel der Religion ist die Furcht der Menschen vor unverstandenen, unbeherrschten Naturgewalten: vor der Krankheit, vor dem Tode, vor dem Geheimnis des nächtlichen Urwaldes, vor Blitz und Donnerschlag.« Für ihn sind »Kirche und Religion nicht identisch«.

Am weitesten ging in dieser Frage ausgerechnet Max Adler vom linken Parteiflügel. (Anfang der dreißiger Jahre sollte er übrigens der deutschen SAP von Seydewitz und Rosenfeld aufs engste verbunden sein). Für ihn war Religion eine eherne Konstante. Gott ist schlichtweg im Menschsein angelegt. »Nun sehen wir, daß dieser Begriff auch in dem bis jetzt behandelten bloß theoretischen Sinne durchaus dem apriorischen Charakter unseres Bewußtseins entstammt und zwar seiner Erkenntnisseite nämlich dem Bereich der vor aller Erfahrung bestehenden (…).« Die Menschen wollen die Seele nach ihrem Tod nicht »im Nichts der absoluten Vernichtung sehen«. »Historisch ist aller Religion charakteristisch die Beziehung auf irgend eine hö‹here Ordnung der Welt, die über der erkannten empirischen Ordnung steht und dieser als ihr eigentlicher Sinn und Wert entgegentritt, auf welcher sich daher der religiöse Mensch ausgerichtet sieht als sein wahres Heil und unvergängliches Interesse. Ob diese Ordnung als eine göttliche gedacht wird oder nicht, ist nicht wesentlich.«

Auffällig an dieser Betrachtungsweise ist, daß stets von konkreten Menschen und spezifischen Denkformen auf die Menschen und ihre allgemeinen Bewußtseinsformen geschlossen wird. Adler abstrahiert vom Konkreten, ohne dessen Zusammenhang in seiner Analyse zu berücksichtigen. Sein Mensch ist so. Der gesunde Menschenverstand kommt hier in idealistischem Kleid zu seinem obligaten Recht. Auch wenn der hier mehrfach zitierte Artikel »über den kritischen Begriff der Religion« (1915) heißt, Religionskritik ist etwas anderes.

Der Sinn des Lebens liegt für Adler stets in einer übergeordneten Sache (Gott, Sozialismus etc.), d. h. er liegt außerhalb des Lebens selbst. Der Fetischismus wird hier zur anthropologischen Konstante des Menschseins schlechthin aufgebauscht. Sobald wir nach dem Sinn des Lebens suchen, »sobald wir nur anfangen, uns aus dem Banne eines gedankenlosen Dahinlebens oder eines gedankenabschneidenden Positivismus zu erheben,« landen wir automatisch bei der Religion.

Adler singt geradezu ein Hohelied auf die Religion und ihre soziale Kraft. Sie ist ihm Imperativ menschlicher Existenz: »Gott und Unsterblichkeit sind nicht so sehr notwendige Denk- als notwendige Willensresultate. (…) Die Ideen von Gott und Unsterblichkeit besagen also nicht, daß es etwas derartiges gibt, sondern nur, daß wir als Wesen (…) nicht anders können, als beider Existenz zu wollen.« Die Religion sei dazu da, »das individuelle Dasein zu erwärmen und lebensfähig zu machen«.

Adler und Bauer erklären die Religion ungleich Marx aus allgemein menschlichen Bedingungen, nicht aus besonderen historischen Verhältnissen. Sie differenzieren kaum, entdecken keine qualitativen Brüche, sondern generalisieren und positivieren Religion zur existentiellen Prämisse des Daseins schlechthin. Sie ist somit nicht mehr eine bestimmte Form fetischistischer Kommunikation, sie ist den Menschen wesenstypischer geistiger oder geistlicher Inhalt.

So gesehen ist natürlich nicht nur eine Rücksichtnahme auf religiöse Gefühle notwendig oder ein Kompromiß mit religiösen Anschauungen sinnvoll, nein: so gesehen gilt es, die Religion direkt zu unterstützen. Die kritische Sicht des Glaubens verwandelt sich in eine positive. Daß dieser Weg konsequent beschritten wurde, zeigen auch die programmatischen Dokumente von SPÖ oder SPD nach 1945. So heißt es im »Wiener Programm« der österreichischen Sozialdemokraten aus dem Jahre 1958: »Sozialismus und Christentum als Religion der Nächstenliebe sind miteinander durchaus vereinbar.«

Man hatte also nicht nur Frieden geschlossen, man war zum Bündnis übergegangen. Im Gegensatz etwa zur DDR wurde die laufende Entchristianisierung in der Bundesrepublik oder in Österreich nicht zuletzt durch die Sozialdemokratie subjektiv gebremst. Sie blieb somit hinter ihren historischen Möglichkeiten zurück.

Allerletzte Sekten

Der Zerfall der abendländischen Kirchen und Religionen ist weit fortgeschritten. Er ist nicht mehr umkehrbar. Das, was Kirche in Vorzeiten großgemacht hat, wurde in der Zwischenzeit durch die Herrschaft des Geldes ziemlich niedergemacht. Von einem Basisprinzip der Gesellschaft ist die Religion zu einer bloßen Sinnstiftungsvariante unter vielen abgestiegen. Austauschbar wie alles, was unter die Herrschaft des Werts gerät. Nachdem das Geld Gott endgültig abgelöst hat, ist es für ihn schwierig geworden, zu bestehen. Darin liegt der eigentliche Grund der Krise der Kirche.

Der Mythos, ein ganz besonderer Verein zu sein, der ist längst dahin. Heute konkurrieren auch die Großkirchen am Markt der Warensortimente und Glückssurrogate als beliebige Markenartikel unter vielen. Der Traditionalismus ist die zähe Kraft, der viele Menschen dort verharren läßt, wenngleich sich die meisten um nichts mehr kümmern, was von dort kommt. Nur bei Taufe, Heirat und Tod soll halt ein Priester da sein, weil es sich so gehört.

Was kann die Kirche also tun? – Eine weitere Demokratisierung ist mehr als problematisch, untergräbt sie doch den Glauben durch die jeweilige Stimmung. Wenn der ehemalige Herausgeber des österreichischen Wochenmagazins »profil« Hubertus Czernin fragt: »Wird der Klerus jetzt endlich begreifen, daß die Grundsätze der demokratischen Gesellschaft auch innerhalb der Kirche gelten müssen?« dann ist das eine ausgesprochen dumme Frage.

Kirche ist Autorität und Hierarchie, nicht Demokratie. Ihre historische Kraft liegt nicht in der Mitbestimmung, sondern im Gehorsam. Es sind also gerade die Reformer, die das Fundament in frommer Bewußtlosigkeit unterminieren, da haben die Reaktionäre schon recht.

Eine geschwisterliche Kirche ist ein Widerspruch in sich. Wenn die Kirche sich also diesen modernen Strömungen gänzlich ausliefert, dann führt das nicht, wie die internen Kritiker meinen, zu einer neuen Renaissance, sondern beschleunigt das Erodieren ihrer Restbestände. Wozu denn dann überhaupt? ist die sich sofort aufdrängende Frage. Man kann Gott nicht durch Göttin ersetzen, abwählen, rotieren lassen etc. Nicht einmal mit dem Papst geht das, soll dieser nicht Petrus II. heißen. Die demokratische Kirche ist ein hölzernes Eisen. Langfristig gesehen ist die Säkularisierung der Tod der Kirche. Dito freilich auch die Nichtsäkularisierung. Was natürlich ein Dilemma ist.

Erschienen als Serie in “Junge Welt”, 28.12.1998 – 2.1.1999

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