Markttümpeln für die Zivilgesellschaft

Österreich hat einen neuen Botschafter in London, wir haben eine alte Buchbesprechung über Emil Brix

von Franz Schandl

Gibt es sie nun, oder gibt es sie nicht, the civil society in Austria? Immer wieder promenieren durch die Gesellschaftswissenschaft Wörter, die die Terminologie derselben für einige Zeit bestimmen. Eines davon ist die hochgepriesene Civil Society, die der Herausgeber dieses Sammelbands wohl nicht ganz zu Unrecht als „eine Zivilgesellschaft westlichen Typs“ beschreibt, die für ihn auch die „weltweit erstrebenswerte Norm“ darstellt. „Selbst Johannes Paul II. ließ sich in den Castelgandolfo-Gesprächen von 1989 über den Begriff ausführlich informieren“, schreibt einer der Autoren. Da muß also was dran sein. Weihwasser auf jeden Fall.

Die zentrale Botschaft deklariert sich bereits auf der dritten Seite: „In historischer Perspektive hat der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukujama recht, wenn er von einem spektakulären Sieg des Liberalismus spricht.“ Zivile Gesellschaft ist eigentlich nichts anderes als der gängige Modebegriff für bürgerliche Demokratie. Es ist absolut nicht auszumachen, was er sonst oder mehr bedeuten könnte.

Womit schon einiges über die Orientierung des Bandes ausgesagt ist. Der Historiker Ernst Hanisch etwa schreibt völlig hanebüchen: „Als historisches Resümee kann man festhalten: der Kapitalismus – mehrfach totgesagt – hat in diesem 20. Jahrhundert eine enorme Elastizität bewiesen. Er hat den Faschismus und den Kommunismus überlebt.“ Über den Charakter des „real existierenden Sozialismus“ kann man durchaus streiten, daß aber akkurat der Faschismus kein Kapitalismus gewesen sein soll, ist doch ein starkes Stück postmoderner Entsorgung jedweden begrifflichen Anspruchs.

Worum es geht, ist die Eliminierung des Ziels und somit der Perspektive überhaupt: „Inhaltlich bestimmte Ziele, sei es von der Politik, der Verwaltung – geschweige denn von der Wissenschaft und Philosophie her – vorzugeben, ist aus mindestens zwei Gründen inakzeptabel. Zum einen können wir angesichts der beschleunigten Änderungsdynamik kaum zuverlässige Prognosen erstellen; zum anderen gebietet es die Achtung vor der Autonomie der BürgerInnen, keine Vorgriffe zu exerzieren. Das Ziel kann nur sein, maximale Offenheit für Erneuerungen bei gleichzeitiger Wahrung demokratischer Verfahren anzustreben.“

Obwohl die Änderungsdynamik als objektives Gesetz daherkommt, wird die Autonomie des bürgerlichen Individuums als feststehendes Prinzip verhandelt. Frei nach Hegel ist die bürgerliche Freiheit wohl die Einsicht in diese Notwendigkeiten. Propagiert wird die Kapitulation des Bewußtseins vor dem Dasein. Wahrlich, wer maximal offen ist, ist minimal dicht.

Die Pluralität steckt in einem engen Korsett, dessen Hinterfragung ein Tabu ist. So ist nicht nur kein Ziel mehr erlaubt, nein, sogar die Existenz grundlegender Alternativen zur herrschenden Begrifflichkeit wird vollständig negiert. Daß man Demokratie, Zivilgesellschaft, Rechtsstaat vielleicht auch gar nicht anbeten könnte, darauf verschwenden die Beiträge keine Zeile. Daß die „Sehnsucht nach einer Zivilgesellschaft“ vielleicht eine Sucht sein könnte (und somit letztere eine Droge), darauf scheinen sie gar nicht zu kommen, obwohl es doch das eigene Vokabular nahelegt.

Eine marktwirtschaftliche Legende ist die, die da unentwegt behauptet, daß die zivile Gesellschaft ziviler als der Staat wäre. Dem ist mitnichten so. Die freiheitliche Assoziation in der bürgerlichen Gesellschaft spiegelt allzuoft nichts anderes als die Despotie des Marktes wider. Daher galt es auch vielfach – wenngleich das nur tendenziell möglich gewesen ist – von dieser Freiheit befreit zu werden, hin zur sozialen Sicherheit, zu geschlechtlicher Gleichberechtigung, Mieterschutz, Konsumentenschutz etc. Alles verwirklicht über die Zwangsgesetze des Staates.

Der Staat ist nicht der Gegensatz zur Gesellschaft, sondern deren notwendiger Zusatz. Er kann nicht bloß als Repressionsmaschine oder ideologischer Apparat aufgefaßt werden, sondern wohl auch als der Zivilisierungsknüppel des bürgerlichen Gemeinwesens. Eben damit nicht alle zivilen Gemeinheiten wirklich werden, bedarf es des Staates, um die Gesellschaft vor sich selbst zu schützen. Im Sozial- und Rechtsstaat kommt das sehr deutlich zum Ausdruck. Nicht zufällig war er für alle sozialen Bewegungen der Appellationsort, mit dessen Hilfe sie ihre Ziele durchsetzen wollten und teilweise auch konnten. Nichts verdunkelt die Kategorie der zivilen Gesellschaft so sehr wie diesen Umstand.

Wenn Urs Altermatt in seinem dürren empirischen Definitionsversuch Parteien, Kirchen, Interessensgruppen, Firmen als zivile Gesellschaft zusammenfaßt, dann sind für die erstgenannten der Referenzpunkt eindeutig der Staat. Sie sind in ihrem Aufbau auch ähnlich gegliedert. Die Firma hat hingegen ihrem Bezugspunkt im Profit, d.h. in der Verwertung über den Markt. Außerdem, was soll an der Katholischen Kirche oder der SPÖ ziviler sein als am österreichischen Staat? Vom kapitalistischen Betrieb nun mal ganz zu schweigen, wo doch gerade dort nach dem Verkauf der Ware Arbeitskraft auch die hehren bürgerlichen Freiheitsrechte suspendiert sind.

Gewiß, die Linke muß sich vorm Staatstümeln hüten, der postmoderne Angriff hat hier auch durchaus Richtiges angesprochen. Immer stärker zu Tage tritt jedoch dessen offen reaktionäre Schlagseite. Rücknahme des Staates meint sodann vorrangig nichts anderes als Abbau sozialer Leistungen und öffentlicher Planstellen. Was das im Kapitalismus heißt, sollte unschwer zu erkennen sein: Arbeitslosigkeit und soziales Elend. Schlimmer als das Staatstümeln ist gegenwärtig das Markttümpeln.

Viel gespreizter Nonsens findet sich in dem Band. Da wird wahrlich kein Kalauer ausgelassen, etwa, daß „die Bürger wieder die republikanischen Tugenden des Gemeinsinns entwickeln können“, oder „die Zivilgesellschaft als notwendige Bedingung einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung eine Solidargemeinschaft schaffen“ soll. „Die Zivilgesellschaft wird dann durch das Gewebe von freien zwischenmenschlichen Vereinigungen und durch staatsbürgerliche Gesinnung zusammengehalten.“

Soviel Gesinnung versetzt uns in Rührung. Aber vergessen wir nicht, da geht es unbeirrt und tapfer gegen Konsenssucht, Lagerdenken und Untertanenmentalität, kurzum: „Österreich ist immer noch keine Bürgergesellschaft“, jammert der Herausgeber Emil Brix. – Nun denn, nichts Schlimmeres sollte uns passieren.

Emil Brix (Hg.): Civil Society in Österreich. Passagen Verlag, Wien 1998.

aus: Junge Welt, 7. Oktober 1998.

image_print