Aus dem Ruder, an die Wand

Die Zeichen europäischer Flüchtlingspolitik stehen auf Verhärtung und Abschreckung

von Franz Schandl

Innerhalb nur weniger Wochen hat sich in Österreich eine Law and Order-Politik, wie sie in dieser Schärfe wohl kaum jemand prognostiziert hätte, durchgesetzt. Eine „Wirklichkeitskultur“ (ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner) hat binnen kürzester Frist die Willkommenskultur abgelöst. „Wir brauchen einen nationalen Schulterschluss“, sagt Kanzler Werner Faymann (SPÖ). Die hiesige Regierung hat sich entschlossen, diesen ultimativ zu zelebrieren. Man staunt nur so. Die letzten Vorbehalte sind gefallen. Die viel beschworene zivile Gesellschaft hingegen wirkt wie paralysiert.

Vor allem Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP), Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) und der neue Verteidigungsminister, der ehemalige burgenländische Polizeidirektor Hans Peter Doskozil (SPÖ), agieren wie ein Frontkomitee zur Abwehr der „Ausländerflut“. Die Sprache hat es in sich. „Hart“ ist zum Lieblingsadjektiv aufgestiegen. Von „harten Maßnahmen“ bis zum „harten Druchgreifen“ reicht die Palette einer Politik, die „hart bleiben will“ und auch permanent Härtefälle produziert. Natürlich gelte es eine „Festung zu bauen“. Es ist wie der Rap einer Schlägerbande.

Im Wettbewerb der Restriktionen, in der Konkurrenz der Zurückweisungen und Obergrenzen, da ist man nun gut aufgestellt. Applaus von fast allen Seiten ist der Bundesregierung sicher. Politik und Medien sind sich hierzulande weitgehend einig, dass Kurs und Linie stimmen. Gegenstimmen gibt es kaum. Gewonnen hat vorerst ein Patriotismus, der zwischen Herzlosigkeit und Hinterfotzigkeit, Borniertheit und Peinlichkeit sein rot-weiß-rotes Lager aufgeschlagen hat.

Sozialdemokraten und Konservative haben sich glückselig auf der Linie der FPÖ eingefunden. Ab und zu wird Heinz-Christian Strache rechts überholt. Aber das wird diesen bloß stärken. Die Tage als der Wiener Bürgermeister Häupl Flagge zeigte oder Kanzler Faymann den Kompagnon von Angela Merkel machte, das alles scheint wie weggeblasen. Das gesamte Spektrum rückt nach rechts, selbst die Grünen liefern sich eine schiefe Debatte, wo einmal mehr ein sattsamer Realismus dem hehren Idealismus obsiegen wird.

Flüchtlings-Stopp

Mit der Westbalkan-Konferenz Mitte letzter Woche in Wien versuchte man vor allem hinsichtlich Brüssel und Athen vollendete Tatsachen zu schaffen. „Wiener Gipfel: Pakt stoppt Flüchtlinge“, schreibt der Boulevard. Die Balkanroute soll verunmöglicht oder zumindest erschwert werden. Die Zeit des Durchwinkens ist somit zu Ende. Doch damit stopft man bestenfalls Löcher, die anderswo bald wieder aufreißen werden. Vorerst allerdings feiert man den Rückgang der Asylwerber als Erfolg.

War man bis gestern noch bereit, Griechenland zu entlasten, so sind jetzt immer schrillere Töne gegen das Mittelmeerland zu vernehmen. So pfiff der junge Außenminister auf alle diplomatischen Gepflogenheiten als er weder Griechenland noch Italien nach Wien einlud, was zu gröberen Verstimmungen führte, ja sogar den Abzug der griechischen Botschafterin aus Wien zur Konsequenz hatte. Hellas soll gefälligst einen gesamteuropäischen Grenzwächter spielen. Dass die nicht gewillt sind, subalterne Drecksarbeit für die Herrschaften in den Zentren zu leisten oder jene nur sehr widerwillig erfüllen, wird ihnen übel genommen. Die Griechen seien nicht gesprächsbereit, heißt es.

Indes wollen die Griechen nichts anderes als einen beträchtlichen Teil der nach Europa (nicht nach Griechenland!) flüchtenden Menschen an die reicheren Länder weiterreichen. Dies ihnen zu verdenken, zeigt die geballte Ignoranz der begüterten Geschwister, ihrer Medien, aber auch ihrer Bevölkerungen. Griechenland, das (geographisch) auf dem Weg liegt, soll sich also in den Weg stellen. Doch was heißt aufhalten? Boote bei der Überfahrt rammen? Menschen nicht mehr zu verpflegen? Illegale Grenzübertritte mit Gefängnis zu bestrafen? Die türkische Küste beschießen? In Wien ist gut gackern. Vorläufig hat das freilich zur Folge, dass Tausende Schutzsuchende in Griechenland unter erbärmlichen Bedingungen festsitzen und nicht weiterkönnen. Eskalationen werden sich häufen. Aber Hellas, so unisono die österreichische Regierung, braucht Druck, nicht Unterstützung.

Das mehr duldende als aktive Durchwinken mag ja etwas ratlos gewesen sein, aber es akzeptierte zumindest die Lage und die Anliegen der Flüchtlinge, akzeptierte zumindest den Grundsatz, dass es mehr darum gehe, Menschen als Grenzen zu schützen. Man wusste nicht, was zu tun ist und war aber (wenn auch mit ökonomischen Hintergedanken ausgestattet) freizügig. Damit ist es nun vorbei. Empathie war gestern. Antipathie ist heute. Wenn Faymann an Tsipras hemdsärmelig appelliert: „Hör auf, Flüchtlinge durchzuwinken“, so müsste er seinem Amtskollegen erstens eine Alternative nennen und zweitens dürfte er nicht verschweigen, dass Österreich selbst Meister im Durchwinken gewesen ist. Nein zum Reinwinken, ja zum Rauswinken, war hier stets das geheime Motto.

Österreich versucht jedenfalls anderen EU-Staaten seine Politik aufzuzwingen. Da sind Faymann udn Kurz nicht die Ersten und wohl auch nicht die Letzten. Dass ein solches Vorgehen letztlich das gesamteuropäische Projekt an die Wand fährt, wird wahrscheinlicher. Inkompetenz zeigt sich schon darin, dass es überhaupt so weit kommen konnte. Nicht nur das Flüchtlingsdesaster demonstriert elementare Schwächen Europas. Vor Monaten drohte ein Grexit, inzwischen droht ein Brexit, und gegenwärtig kollabiert die Flüchtlingspolitik. Es ist Krisenverwaltung ohne Perspektive. EU-Europa ist handlungsunfähig, den großen Herausforderungen der Zeit nicht gewachsen, daher blüht allenorts ein schräger Nationalismus auf. Selbst die Reisefreiheit fällt dem zum Opfer.

Der jüngste Abfall Österreichs offenbart, dass Europa nicht bloß gefordert, sondern restlos überfordert ist. Sich suggerieren, kleinere Einheiten wie Nationalstaaten könnten diese Causa befriedigend lösen, ist als Anmaßung getarnter Unsinn. Aber es ist nicht nur der Wille, der versagt oder die böse Absicht, die sich durchsetzt, es sollte auch klarer werden, dass die staatlichen und rechtlichen Instrumentarien nicht für solche Elementarereignisse konstruiert sind. Sich aber auf Stimmungen und Meinungsumfragen zurückzuziehen, ist fahrlässig und inakzeptabel. Wenn Kanzler Faymann argumentiert, dass er Rückhalt in der Bevölkerung spüre, dann spricht das weder für diese noch für ihn.

Globalisiert man ungeniert wirtschaftliche und militärische Interessen, so betreibt man, was das humane Potenzial betrifft, eine Abschottungspolitik. Frei sind Waren und Waffen, unfrei der Mensch. Eine zentrale Frage hätte zu sein, was denn mit den Menschen auf der Flucht jetzt geschehen soll? Wie es ihnen geht. Ob sie genug zu essen kriegen. Ob sie frieren. Ob die medizinische Versorgung hinreicht. Ob sie ein Dach über dem Kopf haben. Kurzum: Wie wir ihnen helfen können. Stattdessen geht es immer wieder um die vemeintlichen Kosten (und weniger um die aus der Migration entstehenden Gewinne) und um die letztlich völkischen Vorurteile eingebildeter Eingeborener. Diese werden hofiert wie aktiviert. Sollen jene doch bleiben, wo sie sind. Was gehen uns die an? Willkommen im Zeitalter der europäischen Dilemmata.

Gescheiterte Weltinnenpolitik

Das kopflose Agieren im Nahen Osten oder Nordafrika rächt sich bitter. Der ideelle Zündstoff und die reellen Waffen wurden und werden zum Großteil von westlichen Staaten, von Medien und Konzernen geliefert, gelegentliche Interventionen und regelmäßige Bombardements mitinbegriffen. Es ist die gescheiterte Weltinnenpolitik einer Globalisierung, die nun als Flüchtlingsstrom nach Europa zurückkehrt. Auch wenn man der Türkei Milliarden überweist, damit die Flüchtlinge dort zurückgehalten werden, weiß niemand, ob dieses Kalkül aufgehen kann. Denn die Rechnung wird ganz ohne die Betroffenen gemacht, sie erscheinen hier als Manövriermasse, die einfach zu gängeln ist. Wer sagt, dass sie sich gefallen lassen, worauf Erdoğan und Merkel sich gegebenenfalls einigen? Warum sollten sie?

Die anstehenden Probleme werden nicht in ihrer Komplexität gesichtet, sondern als unliebsame Phänomene autoritären Lösungen zugeführt. Das begreift zwar nichts, findet aber Zuspruch. Indes verzögert es lediglich Entwicklungen, in mancher Hinsicht werden Schwierigkeiten dadurch multipliziert bzw. erst geschaffen. Die Dimension der Geschehnisse wird nur ansatzweise erkannt. Dass hier die Konvention selbst gesprengt werden könnte, bleibt außen vor. Erschwert man also noch einmal die Bedingungen für Flucht und Asyl, führt dies einerseits in humanitäre Katastrophen, andererseits lässt es die Preise für Fluchthilfe in die Höhe schnellen. Flüchtlinge und Schlepper sind jedenfalls am Zug, Routen und Kriterien werden sich ändern, das Spiel wird brutaler. Aus ist es keinesfalls.

Alles läuft aus dem Ruder: die Flüchtlingsboote, die Europäische Kommission, die Nationalstaaten, die Menschenrechte und, was wohl am Gefährlichsten ist, der sich als Volk verstehende Mob in diversen europäischen Ländern. Die Berechenbarkeit der Akteure nimmt ab. Vieles gerät durcheinander, kippt ins Maßlose oder entpuppt sich als das Schamlose. Man hat das Gefühl, alles läuft an die Wand, niemand habe mehr Lösungen parat. Sitzungen und Gipfel, die absolut nichts bringen, häufen sich. Das Drohpotenzial, das man gegenüber Griechenland in der Schuldenfrage noch einmal auffahren konnte, wird sich gegenüber den Völkerwanderungen als hilflos erweisen, aber es wird die Opferzahl erhöhen.

Die EU-Institutionen sind in diesem Realszenario mehr Kommentator als Akteur. Aber Rat- und Tatenlosigkeit sind noch allemal besser als diese in Gang gesetzte patriotische Kraftmeierei, die primär böses Blut macht, deren Affekte Effekte zeitigen, die nur noch jenseits sind. Es herrscht eine aufgeregte Performance einer politischen und medialen Wutkultur. Seriöse Beurteilungen und Folgeabschätzungen halten sich in engen Grenzen. Wir gegen die, heißt die barbarische Botschaft, und die versteht der letzte Trottel. Die Betrachtung wird kurzsichtig und die Handlung wird grobschlächtig. Falsche Politik gerät in den Malstrom ihres stetigen Komparativs: „Es wallet und siedet und brauset und zischt.“ (Schiller)

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