Solidarische Ökonomien statt „Gemeinwohl-Ökonomie“

von Andreas Exner

Ursprünglich auf www.social-innovation.org veröffentlicht

Mit Worten lässt sich vieles anstellen. „Gemeinwohl“ wollen alle und „Gemeinwohl-Ökonomie“ klingt nach einem handfesten Konzept, mehrheitsfähig, pragmatisch, gut. Das Gegenteil ist richtig. Die „Gemeinwohl-Ökonomie“ ist momentan reine Utopie – der Traum einer kleinen Gruppe von Unternehmen: elitär, leistungsorientiert und im Grunde nicht mehr als ein Promotion-Gag. Bis dato jedenfalls. Wie auch immer: Eine Alternative zu Krise, Ungleichheit und schlechtem Leben gibt es. Sie liegt in der globalen Vielfalt solidarischer Ökonomien.

Soziale Bewegungen sind unter anderem Lernbewegungen. Viele, die sich gegen Krise und Ungleichheit engagieren sind gerade erst dabei eine „andere Welt“ zu entdecken. Von der neoliberalen „There is no alternative“-Ideologie geprägt, glauben sie, dass es nur eine einzige Alternative gibt. Manche halten die „Gemeinwohl-Ökonomie“ von Attac-Österreich bzw. Christian Felber dafür. Weit gefehlt: Es gibt viele Alternativen, und sie alle tun etwas, was die Gemeinwohl-Ökonomie nicht tut: Sie überwinden den Kapitalismus, Hier-und-Jetzt.

Solidarische Ökonomie: eine globale Massenbewegung

Solidarische Ökonomie ist eine globale Massenbewegung, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten an vielen Orten der Welt zugleich entstanden ist. Sie findet sich unter verschiedenen Bezeichnungen und existiert in einer unglaublichen Vielfalt. Nicht alle Menschen, die Solidarische Ökonomie praktizieren, nennen sie auch so. Nicht alle Menschen in solchen Projekten wissen auch voneinander. Der Name „Solidarische Ökonomie“ ist inzwischen für diese bunte Palette an alternativen Wirtschaftsweisen jedoch am bekanntesten geworden. Ein breites Geflecht von Bewegungen, Projekten, Verbänden, Gewerkschaften und NGOs bemüht sich um die Vernetzung.

In Österreich ist die Gruppe, die den erfolgreichen Solidarökonomie-Kongress 2009 geplant hat, ein wichtiger Knotenpunkt dieses Geflechts. Den nächsten Kongress wird es 2012 in Wien geben. Viele verschiedene Initiativen stehen zusammen mit Gewerkschaften im Follow Up der Tagung „Wirtschaftsdemokratie und Solidarische Ökonomie“ in kontinuierlichem Austausch. Die „Kritische und Solidarische Universität“ (KriSU) entwickelt Bausteine für eine Solidarische Ökonomie des Wissens. Sie entstand im Zuge der Uniproteste 2009 und betreibt die partizipative Online-Plattform solidarischer Lebensweisen: „Vivir Bien“. Das Bild unten zeigt einen Ausschnitt aus der Kartierung Solidarischer Ökonomie in Wien. Erwerbslose, Gewerkschafterinnen, Studierende und Leute wie Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, der Träger des Großen Ehrenzeichens für Verdienste um die Republik Österreich Paul Singer oder Jean Ziegler, der ehemalige UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung zählen zu den Unterstützerinnen und Unterstützern der KriSU.

Solidarische Ökonomie hat vier Merkmale: (1) Kooperation, (2) Selbstverwaltung, (3) ökonomische Funktion, (4) Solidarität mit der Gesellschaft.

Das heißt: (1) die wirtschaftenden Menschen kooperieren in einem Projekt oder Betrieb gleichberechtigt, (2) sie verwalten ihre Maschinen, Gebäude und Rohstoffe (Produktionsmittel) selbst, (3) sie erzielen gemeinsam einen Lebensunterhalt (in Form von Geldeinkommen oder Naturalleistungen), (4) sie verhalten sich zur Gesellschaft solidarisch. Das ist die Definition des Leitbilds Solidarischer Ökonomie in Brasilien, woran sich die solidarökonomischen Bewegungen weltweit überwiegend orientieren.

 

Solidarische Ökonomie in Lateinamerika

Ein Zentrum Solidarischer Ökonomie befindet sich in Lateinamerika. In Brasilien gibt es ein eigenes Staatssekretariat für Solidarische Ökonomie, das Solidarische Ökonomie fördert und in einer Datenbank erfasst. 2006 hatte das Staatssekretariat unter Leitung des Ökonomen Paul Singer 14.954 solidarökonomische Zusammenhänge auf rund 40% des Landesgebiets erfasst. Die Karte links zeigt den Kartierungsstand 2007, je dunkler die Farbe, desto mehr Solidarökonomie. 52% der Landesfläche waren kartiert. In diesem Jahr waren knapp 22.000 solidarökonomische Zusammenhänge (Betriebe, kooperative Gruppen) erfasst, mit rund 1,6 Millionen Beteiligten. Die einkommensschaffende Funktion erstreckt sich aufgrund von verwandtschaftlichen Netzwerken in eine weit größere Bevölkerungsgruppe hinein.

Solidarische Ökonomie ist in Brasilien ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Sie wird von kritischen Gewerkschaften, Kirchen und Universitäten in eigenen Inkubatoren, die gleichberechtigte Beratung und Projektbegleitung anbieten, aktiv gefördert und entwickelt. Unternehmerinnen oder Unternehmer gibt es in der solidarischen Ökonomie nicht. Alle sind ihre eigene Chefin oder ihr eigener Chef. Die Leute sind nicht lohnabhängig, sondern arbeiten eigenständig im Kollektiv – ohne dass sie andere Menschen kommandieren (wie das Unternehmer tun, deren Lohnabhängige weisungsgebunden sind).

Ein weiterer, riesiger Bereich Solidarischer Ökonomie in Brasilien besteht aus der Landlosenbewegung MST und ihren Siedlungen. Sie rechnen sich aus politischen Gründen nicht zur Solidarischen Ökonomie. Inhaltlich betrachtet handelt es sich dabei jedoch um kooperative, solidarisch auf die Gesellschaft orientierte Projekte, die sich bemühen, gleichberechtigte Beziehungen zwischen den Mitgliedern zu leben. Über mehr als zwei Jahrzehnte hat die Landlosenbewegung rund 2.500 Landbesetzungen organisiert, mit etwa 370.000 Familien, die heute als Resultat der Besetzungen 7,5 Millionen Hektar Land erfolgreich besiedeln. Diese Familien richten Schulen ein, organisieren Kredite für die landwirtschaftliche Produktion und die Kooperativen und kämpfen für den Zugang zu Gesundheitseinrichtungen. Zur Zeit gibt es ungefähr 900 Siedlungen des MST mit ca. 150.000 landlosen Familien in Brasilien.

In Argentinien ist die Solidarische Ökonomie ebenfalls gut entwickelt. Friederike Habermann hat ihre Stärken und Schwächen im Buch „Aus der Not eine andere Welt“ mit vielen Interviews von Beteiligten beschrieben. Die Solidarische Ökonomie hat in Argentinien nach der Wirtschaftskrise von 2000/2001 eskalierende Gewalt und Chaos, vielleicht sogar einen Bürgerkrieg verhindert. In Stadtteilversammlungen begannen die Menschen ihr Leben selbst zu organisieren. In Kooperativen traf man Entscheidungen auf gleicher Augenhöhe. Bankrotte Betriebe wurden besetzt und aus der Hand der Unternehmer in die Kontrolle der Belegschaften überführt. Die Solidarische Ökonomie steht in Argentinien in enger Verbindung mit der Arbeitslosenbewegung, die politischen Druck macht.

In Venezuela findet ein spannender Prozess der Umgestaltung von Wirtschaft und Politik hin zu einer Solidarischen Ökonomie im großen Stil statt. So fördert die Regierung von Hugo Chavez die Selbstverwaltung von Betrieben: Arbeiterinnen und Arbeiter sollen ohne Management selbst ihre Entscheidungen treffen, auf gleicher Augenhöhe. Die Regierung unterstützt auch die Rückverlagerung staatlicher Funktionen in die Gesellschaft. Sie übertrug den Gemeinden weitreichende Kompetenzen der Selbstorganisation und es entstand eine Reihe sozialer Einrichtungen, die sich solidarökonomisch selbst organisieren. Einen zentralen Plan gibt es dafür nicht. Unternehmer werden entmachtet und die Menschen versuchen stattdessen gleichberechtigt zu kooperieren.

Auch in Bolivien gibt es solche Ansätze, die aus einer breiten sozialen Basis erwachsen sind, die unter anderem den gegenwärtigen Präsidenten Evo Morales gegen alle neoliberalen Konkurrenten durchsetzen konnte. Ein weiteres Beispiel auf dem lateinamerikanischen Festland ist die Selbstregierung der Zapatistas im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas. Sie haben im Verlauf mehrerer Jahre ein eindrucksvolles System der basisdemokratischen, politischen Selbstverwaltung und solidarischen Ökonomie entwickelt. Die Zapatistas setzten wichtige „Leitsterne“ (Christian Felber) der globalisierungskritischen Bewegung, so etwa die Slogans „Eine andere Welt ist möglich“, „Fragend schreiten wir voran“ und „Wir wollen eine Welt, in der viele Welten Platz haben“. Ihr Aufstand 1994 war der Startschuss jener globalisierungskritischen Internationale, aus der Attac erwuchs.

In Kuba hat die Solidarische Ökonomie der Kooperativen (Genossenschaften), der Gemeinschaftsgärten und der solidarischen Netzwerke von Freunden und Familien eine Hungerkatastrophe nach dem „künstlichen Peak Oil“ von 1989, dem Zusammenbruch der UdSSR, verhindert. Entscheidend für den Erfolg war die dezentrale solidarökonomische Selbstorganisation.

Sie folgte keinem zentralen Plan, sondern entwickelte sich aus sich selbst heraus. Es entstand eine solidarische, urbane Landwirtschaft, die Hunderttausende zu versorgen begann (siehe Bild oben).

Der Film „The Power of Community“ berichtet über diese Erfolgsgeschichte Solidarischer Ökonomie:

ACHTUNG: All diese Beispiele für Solidarische Ökonomien sind eben das, Beispiele. Sie sind keine Modelle. Das heißt: sie illustrieren, dass Solidarische Ökonomien in großem Maßstab existieren (wenngleich nach wie vor überall auf der Welt der Kapitalismus dominiert), und welche Vorteile sie haben, was sie ermöglichen. Zudem bedeutet ein positives, tragfähiges Beispiel nicht, dass auch sein Kontext positiv und tragfähig ist. Alle Beispiele Solidarischer Ökonomie existieren in einer (Welt)Gesellschaft, in der Kapitalismus herrscht und die auf fossilen Energien beruht – auch die Solidarische Ökonomie in Kuba. Eine kritische Einschätzung ist dazu übrigens im Artikel „Kuba: ein Vorbild für die Zeit nach Peak Oil?“ nachzulesen.

Solidarische Ökonomie in Europa und andernorts

Auch in Europa gibt es eine Fülle von Beispielen Solidarischer Ökonomie. Das bekannteste ist Mondragón, eine komplexe Kooperative im spanischen Baskenland, die seit den 1950er Jahren existiert. Sie besteht aus 256 Firmen, die unter anderem in Hochtechnologie und Handel aktiv sind und in weltweiten Niederlassungen mehr als 85.000 Personen beschäftigt. Insbesondere in Italien hat der Genossenschaftssektor, der dort ebenfalls relativ gut dem Idealtypus Solidarischer Ökonomie entspricht, eine große regionale wirtschaftliche Bedeutung. So werden in der Emilia Romagna etwa 40% des BIP im Genossenschaftssektor produziert. In Nordhessen wurden mehr als 250 solidarökonomische Zusammenhänge erfasst, Das Ergebnis ist in einer interaktiven Karte dargestellt.

Die partizipative Online-Plattform „Vivir Bien“ zeigt eine große Zahl solidarökonomischer Projekte in Europa mit einem Schwerpunkt in Österreich, mit 89 „Ressourcen für solidarische Lebensweisen“ allein in Wien. („Vivir Bien“ wird kontinuierlich weiterentwickelt.)

Energiegenossenschaften sind eine länderweise relativ weit verbreitete Form partizipativer Energieversorgung – so etwa in Dänemark (wo Energiegenossenschaften den Ausbau der erneuerbaren Energie bestimmten), in England oder Deutschland. In den letzten Jahren gibt es in manchen Regionen einen neuen Aufwärtstrend bei Energiegenossenschaften. Sie sind nicht auf erneuerbare Energien beschränkt, haben dort jedoch einen Schwerpunkt.

Ein eindrucksvolles Beispiel Solidarischer Ökonomie war (und ist zum Teil nach wie vor) die österreichische Sozialversicherung. Sie verwaltet das zweitgrößte Budget nach dem Staatshaushalt. Im Jahr 2000 etwa betrug das Ausgabenvolumen 33,5 Mrd. EUR, während die Ausgaben des Bundes 56,8 Mrd. EUR umfassten. Als Rückfluss in den gesellschaftlichen Konsum stellten diese Ausgaben 16% des BIP (2000). Die Sozialversicherung folgt dem Solidarprinzip (Umlageverfahren). Sie agiert ausschließlich im konkreten Gesundheitsinteresse ihrer Mitglieder (das heißt ohne Gewinnabsicht). Entsprechend niedrig ist der Verwaltungsaufwand, der etwa bei der WGKK lediglich 3% des Budgets einnimmt. Zwar ist das historisch ursprünglich leitende Prinzip der Selbstverwaltung seit der 58. Novelle des ASVG (2001) stark parteipolitisch überprägt und instrumentalisiert, doch ist die Sozialversicherung im Kern weiterhin eine selbstverwaltete Körperschaft und damit ein Ansatzpunkt für die Weiterentwicklung Solidarischer Ökonomien in Österreich.

Agrargemeinschaften sind in Österreich (aber auch in anderen Ländern) weit verbreitet und hierzulande eine flächenmäßig höchst bedeutsame Form kollektiver Landbewirtschaftung. Sie verfügen vor allem über Almen und Wald. In Tirol etwa verfügen Agrargemeinschaften über eine Fläche von 2.100 km². Man kann sie zum Teil zur Solidarischen Ökonomie zählen, sofern die Bewirtschaftung intern relativ gleichberechtigt-partizipativ erfolgt und es Elemente solidarisch-kooperativer Beziehungen zur Gesellschaft gibt. Der Sektor insgesamt hat ein großes Entwicklungspotenzial, auch wenn er momentan nur zum Teil einer Solidarischen Ökonomie entspricht.

Solidarische Landwirtschaft, auf Englisch „Community Supported Agriculture“ (CSA), ist ein weltweit sehr bedeutendes und rasch wachsendes Beispiel Solidarischer Ökonomie. In Japan zum Beispiel sind rund ein Viertel aller Haushalte an CSA beteiligt. Auch in Frankreich expandiert die solidarische Landwirtschaft rasch. Dabei finanziert eine Gemeinschaft die landwirtschaftliche Produktion einer Saison und plant ihren Bedarf vorab. Unterstützung durch Arbeitsleistungen bei Erntespitzen ist möglich. Die Verteilung der Produkte erfolgt meist als „Gemüsekisterl“, per Selbstabholung oder in Selbsternte.

Gemeinschaftsgärten sind eine weitere bedeutende Form Solidarischer Ökonomie. Es handelt sich dabei um landwirtschaftliche Flächen, die entweder kollektiv bewirtschaftet werden oder (auch) mehrere Einzelparzellen mit einem gemeinsamen Pool an Werkzeugen, engem Wissensaustausch und nachbarschaftlicher Hilfe aufweisen. Gemeinschaftsgärten sind ein wichtiger Teil städtischer Landwirtschaft. Sie erhalten insbesondere im angelsächsischen Raum großen Zulauf. Das technische Produktionspotenzial von Gemeinschaftsgärten (und städtischer Landwirtschaft insgesamt) ist erheblich (aber  erst in Anfängen untersucht). Gemeinschaftsgärten werden inzwischen in vielen US-Städten, aber auch in Europa, zum Beispiel in London, kommunal gefördert. Sie sind ein wesentliches Element, um dem sozialen Zerfall der niedergehenden Industriezentren entgegen zu wirken. Eines der bekanntesten Beispiele dafür ist Detroit.

Ein wichtiger Bereich Solidarischer Ökonomie ist das Wohnen. Ein Praxis-Leitstern ist dafür das Mietshäusersyndikat in Deutschland. Das Syndikat besteht aus einem Zusammenschluss von 51 Hausprojekten und 22 Projektinitiativen. Es umfasst eine große und wachsende Zahl an Mitgliedern. Altprojekte geben dabei ihr Know-How an Neugründungen kollektiver Wohnprojekte weiter. Darüberhinaus helfen Altprojekte bei der Finanzierung, indem Überschüsse nicht in die Verbesserung des Wohnstandards oder Mietsenkungen investiert, sondern an Neuprojekte weiter gegeben werden. Auch in Österreich gibt es kollektive Wohnformen mit unterschiedlichen Graden solidarischer Kooperation, so etwa die Sargfabrik, die Ökosiedlung Gänserndorf oder B.R.O.T.

Noch weitergehende Kooperationsbeziehungen entwickeln Wohn-Arbeit-Verbünde. So verwirklichen die Kooperativen der Longo Mai-Gruppe kollektives Leben, Wohnen und Arbeiten. Sie pflegen darüberhinaus auch eine übergreifende Kooperation und solidarische Beziehungen zur Gesellschaft insgesamt. Longo Mai entspricht dem Idealtypus Solidarischer Ökonomie. (Dies bedeutet nicht, dass solidarökonomische Wohn-Arbeit-Verbünde so aussehen müssen wie Longo Mai.) Was die wirtschaftliche Dimension und Komplexität angeht sind die Kibbutzim der 1960er Jahre das geschichtlich bisher eindrücklichste Beispiel. Die Arbeitsteilung in den einzelnen Kibbutz-Siedlungen sowie zwischen ihnen erfolgte kooperativ, das heißt unter Ausschluss von Kommandohierarchien und ohne Marktbeziehungen. Kooperation ist das Gegenteil von Tausch.

ACHTUNG: Auch diese Beispiele für Solidarische Ökonomien sind eben das, Beispiele. Sie sind keine Modelle. Das heißt: Sie illustrieren, dass Solidarische Ökonomien in großem Maßstab existieren (wenngleich nach wie vor überall auf der Welt der Kapitalismus dominiert), und welche Vorteile sie haben, was sie ermöglichen. Ein positives, tragfähiges Beispiel bedeutet zudem nicht, dass auch sein Kontext positiv und tragfähig ist. Alle Beispiele Solidarischer Ökonomie existieren in einer (Welt)Gesellschaft, in der Kapitalismus herrscht und die auf fossilen Energien beruht. Mondragon produziert für den Weltmarkt und nur ein Drittel der Belegschaft besteht derzeit aus Genossinnen und Genossen (Mondragon möchte jedoch den Anteil der Mitglieder in den nächsten Jahren nach Eigenaussage rasch erhöhen). Dass Mondragon ein Beispiel Solidarischer Ökonomie ist, heißt nicht, dass Mondragon auch ein Ansatzpunkt für die Weiterentwicklung Solidarischer Ökonomie sein wird, ja, überhaupt sein kann. Die Kibbutzim litten unter ihrer geografischen Isolation und ihrer sozialen Abschottung (gegenüber dem kapitalistischen Umfeld). Auch sie produzierten unter anderem für den Weltmarkt. Zudem schlich sich in den Kibbutzim – entgegen ihrer ursprünglich anti-patriarchalen Ausrichtung – eine geschlechtliche Arbeitsteilung ein. Bei Erntespitzen wurde vielfach das Prinzip, keine Lohnarbeit zuzulassen (das weitestgehend eingehalten wurde), durchbrochen. Die Art wie Longo Mai Solidarische Ökonomie konkret lebt, ist aufgrund der vielen Eigenheiten von Longo Mai nur für bestimmte Leute interessant. Nicht alle Leute wollen Gemüse anbauen, nicht alle interessieren sich für Landwirtschaft. Etc. etc. etc.

Transnationale Beispiele Solidarischer Ökonomie

Im Unterschied zur „Gemeinwohl-Ökonomie“, die bisher gänzlich auf den nationalen Rahmen fixiert ist, verbindet die Solidarische Ökonomie eine sinnvolle lokale mit einer globalen Orientierung. Naturgemäß finden sich die besten Beispiele transnationaler solidarischer Ökonomien im Bereich der Wissensproduktion. So enthält Wikipedia, die kostenlose und auf freiwilliger Kooperation beruhende Online-Enzyklopädie, derzeit 18 Millionen Artikel in verschiedenen Sprachen und wird von 365 Millionen Userinnen und Usern genutzt. Zur Solidarischen Ökonomie zählt Wikipedia, sofern man einen Beitrag zum Lebensunterhalt der Produzierenden nicht für ein notwendiges Kriterium ansieht. (Wäre Solidarische Ökonomie bereits die dominierende Wirtschaftsweise geworden, würde auch die Mitarbeit in Projekten wie Wikipedia für den eigenen Lebensunterhalt ausreichen.)

Freie Software bzw. open source Software entsprechen ebenfalls einer solidarökonomischen Produktionsweise.  Sie hat eine große Zahl an hochqualitativen Produkten (Firefox, Linux, MeeGo etc.) hervorgebracht. Ihre Prinzipien der Freiwilligkeit und des kostenlosen Zugangs werden inzwischen auch auf andere Bereiche der Produktion informationeller Güter (darunter Designs) angewandt, Beispiele dafür sind: open t-shirt designs (threadless.com), Ronen Kadushin (ronen-kadushin.com; open furniture designs), das Open Architecture Network (openarchitecturenetwork.com) und Arduino (arduino.cc) im Bereich von open electronic hardware designs. Auch die One Laptop per Child Initiative (laptop.org) verwendet ein offenes Design.

Weitere Beispiele transnationaler Solidarischer Ökonomie sind Solidaritätsprojekte wie etwa im Fall der Kaffeekette vom zapatistischen Chiapas nach Europa.

Auch für die transnationalen Beispiele Solidarischer Ökonomien gilt die oben bereits gemachte Anmerkung: Es handelt sich um Beispiele, nicht um Modelle oder gar um ein Modell. Der Kontext dieser Beispiele sind der Kapitalismus und die fossile Energieversorgung. Sie zeigen jedoch, dass Solidarische Ökonomien in großem Umfang existieren, und illustrieren das Potenzial für eine Überwindung des Kapitalismus und für die Energiewende (letztere ist technisch ohnehin kein Problem, sondern scheitert an der Wachstumsorientierung des Kapitalismus).

Gemeinwohl-Ökonomie: Unternehmer-Utopie und Promotion-Gag

Wie ist vor dem Hintergrund dieser Erfolgsstory die „Gemeinwohl-Ökonomie“ einzuschätzen, die bei Attac Österreich momentan als „das Wirtschaftsmodell der Zukunft“ (Christian Felber) gehandelt wird? Die „Gemeinwohl-Ökonomie“ ist eine Idee einiger Unternehmerinnen und Unternehmer, die sich bei Attac Österreich engagieren. Sie wollen Gewinne machen und zugleich das „Gemeinwohl“ fördern.

Christian Felber hat zu dieser Idee ein Buch geschrieben. Darin entwirf er das Konzept in vielen Details. Das „Gemeinwohl“, so Felber, soll in einer Reihe „demokratischer Konvente“ definiert und messbar gemacht werden. Die Messung, welchen Beitrag ein Unternehmen zum „Gemeinwohl“ leistet, soll in Form einer „Punktematrix“ erfolgen. Als Kriterien schlägt die Attac-Unternehmensgruppe „faire Preise“, die „Selbstorganisation der Arbeitszeit“, „Transparenz im Unternehmen“ und Ähnliches vor. Die „Gemeinwohl-Punkte“ sind an sich ökonomisch wertlos. Der Anreiz für die Unternehmen, sich an der Punktematrix zu orientieren, liegt in Förderungen, die der Staat daran koppeln soll. Zugleich wird davon ausgegangen, dass die Unternehmen, die viel für das „Gemeinwohl“ tun, mehr Waren verkaufen und daher mehr Gewinn machen.

Dieses Konzept ist für ein bestimmtes Milieu von Unternehmen potenziell attraktiv. Mit der „Punktematrix“ im Auge wollen vor allem relativ konkurrenzschwache, kleinere Unternehmen und prekarisierte Mikrounternehmerinnen oder -unternehmer auf begünstigte staatliche Förderungen hoffen. Darüberhinaus wäre ein gutes Image für sie von geschäftlichem Vorteil. Ganz ähnlich wie beim Konzept der „Corporate Social Responsibility“ (CSR), das in Österreich vor allem die Wirtschaftskammer propagiert, weltweit gesehen jedoch eher Konzerne anspricht.

Zusätzlich eröffnet die „Gemeinwohl-Ökonomie“ eine Reihe neuer Möglichkeiten der Kapitalanlage. Die komplizierte und nicht leicht durchschaubare Punktematrix erfordert eine Vielzahl an Beratungstätigkeiten, Consultingfunktionen und Auditmechanismen. Sie wäre in der Realität angesichts der unglaublichen Vielfalt an Produkten, Stakeholdern und Unternehmen noch viel komplizierter als sie bereits im Buch erscheint.

Die Punktematrix für den Beitrag der Unternehmen zum „Gemeinwohl“ lässt – wie jede komplizierte und entsprechend intransparente Regelung – eine Menge Schlupflöcher offen. Für fortwährende Aufträge zur Verbesserung der Matrix und Kontrolle der „Punkteperformance“ wäre gesorgt. Der Kontrollaufwand wäre auch deshalb erheblich, weil der Anreiz der Unternehmen, sich an die Punktematrix zu halten, nicht in der Punktematrix selber liegt, sondern vorrangig im Geld, das sie dafür aus staatlichen Töpfen erhalten sollen. Sie würden daher zuerst einmal (wie jetzt auch) danach trachten, Kosten zu minimieren und Einnahmen zu maximieren. Der „Missbrauch“ der Punktematrix und eine wachsende Bürokratie, diesen einzudämmen, ist in der „Gemeinwohl-Ökonomie“ aus strukturellen Gründen angelegt – entgegen ihrer Intention.

Die Attac-Felber-Symbiose

Nicht zuletzt erschließt sich für den Autor des Buchs zur „Gemeinwohl-Ökonomie“ eine stetige Einkommensquelle über Vorträge, neue Bücher und Publikationsaufträge. Ein völlig legitimes Interesse übrigens. Attac Österreich, das sowohl den Autor als auch das Konzept der „Gemeinwohl-Ökonomie“ als solches promotet, kompensiert damit die relative Einfallslosigkeit, unter der es in den letzten Jahren leidet.

Anders als Attac Deutschland, das mit der Solidarischen Postwachstumsökonomie ein zugkräftiges Projekt auf der Höhe der aktuellen Probleme etabliert hat, fehlen Attac Österreich eine weiterführende Vision und konkrete Handlungsalternativen. Man erledigt routiniert die traditionellen Geschäfte im Bereich der Finanzmarktkritik. Dagegen ist das Attac-Projekt „Wege aus der Krise“, das zuletzt frischen Wind hätte bringen sollen, nach kurzer Zeit wieder eingeschlafen. (Formell existiert es weiter.) Das bedingungslose Grundeinkommen wurde zwar mit überwältigender Mehrheit bei der Aktivistinnen- und Aktivistenversammlung als Forderung von Attac beschlossen, liegt jedoch ungenutzt in der konzeptionellen Schublade. Interessanterweise zeigt sich Christian Felber in „Gemeinwohl-Ökonomie“ gegenüber einem Grundeinkommen auffällig reserviert (seine frühere Position war strikte Ablehnung). Man mag spekulieren, dass dies auch den Vorstand von Attac Österreich im Umgang mit dieser Forderung der Attac-Basis beeinflusst.

Mittelfristig ist die enge Koppelung von Attac Österreich an die „Gemeinwohl-Ökonomie“, die ihrerseits sozusagen organisch mit Christian Felber verbunden ist, eine für die NGO potenziell tödliche Sackgasse. Schließlich ist die „Gemeinwohl-Ökonomie“ vor allem ein Marketingkonzept, das die Person Christian Felber für sich maßgeschneidert und – potenziell einkommensträchtiger als ein Migrantinnenprojekt – an dafür empfängliche Unternehmerinnen und Unternehmer gekoppelt hat. Es trägt weniger inhaltlich, sondern beruht wesentlich auf der Sehnsucht nach Erlösung, deren Erfüllung die Fangemeinde in seine Person projiziert.

Menschen setzen ihre Hoffnung in die „Gemeinwohl-Ökonomie“ und man hofft, daran zu verdienen. Als ein Marketingkonzept beansprucht die „Gemeinwohl-Ökonomie“ einen Alleinverkaufsanspruch und schneidet im Gegenzug eine autonome, kritische Weiterentwicklung von Attac ab.

Das dürften manche bei Attac ähnlich sehen. Denn bei der Attac-Sommerakademie, die dieses Wochenende in Graz stattfindet, gab es – wider Erwarten – keine Entscheidung der Aktivistinnen und Aktivisten, wie sich das Verhältnis von Felber bzw. der „Gemeinwohl-Ökonomie“ zu Attac nun konkret gestalten soll. Man scheut offenbar eine kritische Distanz zum Zugpferd. Von ihm hängt nämlich ein Teil der Einnahmen der Organisation ab. Die kann sich inzwischen sogar einen Geschäftsführer leisten und will den vermutlich nicht mehr missen. Gleichzeitig spüren manche offenbar, dass die „Gemeinwohl-Ökonomie“, sollte man sie in den Rang einer Attac-Forderung erheben und – im Unterschied zur Attac-Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen – auch aktiv promoten, nur noch tiefer in die symbiotische Beziehung zwischen Felber und Attac führt. Das Hauptaugenmerk müsste fortan auf einer Weiterentwicklung der „Gemeinwohl-Ökonomie“ liegen. Allein schon aus Gründen des NGO-Marketings. Konzeptionelle Offenheit und kritische Flexibilität wären dahin.

Solidarische Ökonomie im Hier-und-Jetzt statt „Gemeinwohl“-Utopie

Die „Gemeinwohl-Ökonomie“ verwirklicht kein Kriterium der Solidarischen Ökonomie. Zwar trägt sie zum Lebensunterhalt der Beteiligten bei – doch tut das jede Firma. Eine solidarische Beziehung zur Gesellschaft entwickelt die „Gemeinwohl-Ökonomie“ nicht. Solidarität bedeutet das Verlernen von Privilegien, wie Friederike Habermann argumentiert. Sie hat die Solidarische Ökonomie in Argentinien, Österreich und Deutschland untersucht und deren Mechanismen analysiert. Auf Basis ihrer Studien betont Habermann:

Es müssen Prozesse des Zuhörens gefunden werden, welche das ‚Verlernen von Privilegien‘ (…) bedeuten. Privilegien zu verlernen bedeutet aber nicht, sich an einen runden Tisch zu setzen und so zu tun, als seien die bestehenden Interessen der bestehenden Subjekte [ein anderes Wort dafür ist ‚Individuen‘, Anm. A.E.] in bestehenden Verhältnissen in win-win-Situationen aufzulösen. Es bedeutet auch nicht, zum Beispiel Indigene zu Konferenzen einzuladen, um ‚authentische‘ Stimmen zu hören, und danach weiterzumachen wie bisher. (S.62)

Die „Gemeinwohl-Ökonomie“ sieht die Aufhebung der Trennung zwischen Management und Lohnabhängigen nur für den Fall des Todes der Unternehmerin oder des Unternehmers vor – sofern diese das auch wünschen. Die Belegschaft hat darin keine Stimme, gegen die Unternehmerschaft soll sie sich nicht durchsetzen können. Während die Vorteile einer solchen (erst Jahre oder Jahrzehnte später zu vollziehenden) „Umwandlung“ eines „Gemeinwohl-Betriebs“ in eine Genossenschaft schon zu Lebzeiten für die Unternehmer*innen geschäftlich fühlbar werden, müssen die Lohnabhängigen bis zum Tod des Eigentümers warten.

Eine gleichberechtigte Integration aller Benachteiligten in die „Gemeinwohl-Ökonomie“ ist nicht einmal angedacht. Nachdem die „Gemeinwohl-Ökonomie“ sich stark national ausrichtet und große Hoffnungen in „demokratische Konvente“ in diesem Rahmen setzt, dürften allenfalls hiesige Migrantinnen, Prekarisierte, Geringverdiener und andere an den Rand gedrängte Gruppen teilnehmen. Dies jedoch offenbar nur in der Form von „Konferenzen“, wie im Zitat von Habermann und unter der Annahme einer „win-win-Situation“ zwischen Unternehmern und den „Anderen“.

Die „Gemeinwohl-Ökonomie“ verwirklichkeit keine Kooperation auf Augenhöhe: die einen sollen vielmehr weiterhin lohnabhängigen Menschen Weisungen erteilen und Anweisungen geben können, gestützt auf ihr Privileg, die Eigentümer der Maschinen, Gebäude und Rohstoffe zu sein; die anderen sollen abhängig bleiben vom Lohn, den die Unternehmerinnen und Unternehmer zahlen – oder aber selbst „Unternehmer“ werden. Felber vertritt an diesem Punkt bereits eine lupenreine neoliberale Ideologie, wonach alle Unternehmer sein können und sollen.

Ebensowenig verwirklicht die „Gemeinwohl-Ökonomie“ das zentrale Kriterium der Selbstverwaltung der im Betrieb tätigen. Stattdessen bleiben die Verwaltungsaufgaben das Monopol der Unternehmerin oder des Unternehmers.

Solidarität zur Gesellschaft äußert sich nicht nur in gleichberechtigten, sondern auch in kooperativen Beziehungen. Kooperation ist das Gegenteil von Marktbeziehungen, von Kauf und Verkauf. Selbst die Unternehmerinnen und Unternehmer kooperieren in der „Gemeinwohl-Ökonomie“ nicht. Sie sollen sich zwar gemeinsam über die „Punktematrix“ unterhalten, verkaufen einander aber nach wie vor ihre Waren, anstatt die Produktion gemeinsam zu planen und die Güter und Dienste nach dem Bedürfnisprinzip zu verteilen. Insbesondere in Krisen sollen sie laut Felber kooperieren. Das täten sie jedoch nur, träfen sie gemeinsame Entscheidungen, würden also weder einander verkaufen noch voneinander kaufen. Felber wünscht sich (in Krisenzeiten wie z.B. gegenwärtig) eine „kooperative Marktplanung“. Das kann nur eine gemeinsame Planung von Preisen bedeuten. (Das schlägt Felber nicht vor. Eine „kooperative Marktplanung“ müsste jedoch gerade darin bestehen.) Legte man allerdings Preise gemeinsam fest, so könnte man ebensogut konkret festlegen, wieviel man wovon produziert. Das wäre in der Tat einfacher und sinnvoller als ein kompliziertes politisches Preissystem.

Die Peer Economy von Christian Siefkes (die Siefkes übrigens nicht mehr vertritt) oder die Bedürfnisorientierte Versorgungswirtschaft von Alfred Fresin zeigen, wie das in der Praxis gehen könnte. Diese Konzepte illustrieren im Unterschied zur „Gemeinwohl-Ökonomie“ lediglich, dass eine andere, nicht-kapitalistische Wirtschaftsweise im Großen praktisch und schon heute denkbar ist. (Was Felber bestreitet.) Sie behaupten nicht, dass eine solche Wirtschaftsweise auch nach ihrem Modell funktionieren wird oder funktionieren muss. Auch gibt es keine Gruppe, die eine solche Wirtschaftsweise als fertiges Modell, als „das Wirtschaftsmodell der Zukunft“ (Christian Felber) implementieren will – im Unterschied zum Unternehmerprojekt „Gemeinwohl-Ökonomie“.

Die elitäre Ausrichtung der „Gemeinwohl-Ökonomie“ spiegelt sich auch darin wieder, dass das Konzept auf die Unternehmer und Unternehmerinnen als handelnde Personen fokussiert. Es ist ein Wunschtraum weißer, (mittel)europäischer, gut ausgebildeter, ehrgeiziger, leistungsorientierter und sozial flexibler Frauen und Männer. Migrantinnen, prekarisierte Lohnabhängige und „Elendsunternehmerinnen“, Putzfrauen, selbst die Kernbelegschaften normaler kapitalistischer Unternehmen spielen in ihr keine Rolle. Sie werden nicht als selbstständige Menschen mit Visionen, Kompetenzen, Leidenschaften, Kämpfen und Ideen ernst genommen.

Die „Gemeinwohl-Ökonomie“ formuliert an ihrer Stelle ein fertiges, abstraktes, kompliziertes und trockenes Konzept mit bürokratischem Charakter. Die Leute, die Felbers Veranstaltungen besuchen und seine Bücher kaufen, sind jene, die ihr Vertrauen noch nicht in sich selbst setzen, sondern sie den Unternehmern und Unternehmerinnen überantworten wollen, die es scheinbar besser wissen – allen voran jenem Selbstunternehmer, als der unser Autor seinen Lebensunterhalt bestreiten muss. Dass es die Unternehmer „besser wissen“, wird freilich seit den Anfängen des Kapitalismus behauptet. Das Gegenteil ist angesichts von Krise, Verarmung, der großen ökologischen Probleme und wachsender Ungleichheit offensichtlich wahr.

Der wichtigste Problempunkt der „Gemeinwohl-Ökonomie“ ist jedoch, dass sie bis auf absehbare Zeit eine Utopie bleiben wird, selbst wenn sie den raschen und umfangreichen Zulauf von Unternehmerinnen und Unternehmern erhalten sollte, den sie laut Ansicht Felbers benötigt, um sich als eine tragfähige Alternative zu erweisen. Sie kann zwar als eine Initiative von einzelnen Unternehmen starten. Doch ihre Versprechen löst sie bestenfalls dann ein, wenn sie (1) staatliche Förderungen für die „Gemeinwohl-Punkte“ erhält, (2) ein bedeutender Teil aller Umsätze der weltweiten Wirtschaft auf sie entfallen (Felber erhofft, dass in den nächsten Jahren „Tausende oder Zehntausende von Unternehmen dem Prozess beitreten und diesen mitgestalten“; das dürfte angesichts weltwirtschaftlicher Verflechtungen noch viel zu niedrig gegriffen sein).

Man kann sich anhand des Umfangs der (wachsenden) Weltwirtschaft und der Latte, die sich Felber legt, was die Neuzugänge an Unternehmen pro Jahr angeht, ausrechnen, dass die Verwirklichung der „Gemeinwohl-Ökonomie“ Jahrhunderte benötigen würde. Um ein Gefühl für die Realität zu bekommen: es gibt in den USA alleine vermutlich mehr als 24 Millionen Unternehmen. Global schätzt jemand die Zahl der Unternehmen auf einige hundert Millionen bis eine Milliarde. Wie auch immer. Es sind ziemlich viele.

Gänzlich anders ist die Solidarischen Ökonomie gelagert. Sie entstand aus vielfältigen, breiten sozialen Bewegungen und wird von ihnen kontinuierlich weiterentwickelt – theoretisch wie praktisch. Sie ist im Unterschied zur „Gemeinwohl-Ökonomie“ keine Utopie, sondern eine Realität im Hier-und-Jetzt. Die Erfahrungen in Argentinien und Venezuela zeigen, dass bei entsprechendem politischen Druck und einer breiten sozialen Bewegung, die sich von den Unternehmern und Unternehmerinnen distanziert anstatt sich an sie zu klammern, rasche Fortschritte in der Entwicklung einer Solidarischen Ökonomie gemacht werden können. Dies erfordert keineswegs Jahrzehnte, wie im Fall der „Gemeinwohl-Ökonomie“. Qualitative Sprünge sind binnen weniger Jahre möglich.

Um einem Missverständnis vorzubeugen: Es geht hier keineswegs um ein Bashing von Unternehmerinnen oder Unternehmern. Es geht hier um die Frage, ob man Menschen als „Unternehmer“ anspricht oder als Menschen. Sofern Menschen sich mit ihrer sozialen Zwangsrolle, „Unternehmer“ (oder „Lohnabhängige“) zu sein, identifizieren und das bejubeln, steht das einer Solidarischen Ökonomie entgegen. Sofern sie es als ein momentan zwangsläufiges Übel hinnehmen und einen Ausweg suchen, nicht. Friedrich Engels war bekanntlich Fabrikant.

Der Weg zu einer Alternative der Vielfalt – Schritte, die alle sofort machen können

Wer davon erfährt, dass es Alternativen zum Kapitalismus, zu seinen Krisen und der wachsenden Ungleichheit gibt, möchte natürlich wissen, wo sie und er hier und heute damit beginnen können. Es gibt dafür sehr viele Möglichkeiten. Die partizipative Online-Plattform „Vivir Bien“ zeigt eine Fülle an Projekten der solidarischen Ökonomie in Österreich. Diese Projekte sind zumeist offen für Mitarbeit und dankbar für jede Unterstützung. Auch die oben genannten Gruppen des Solidarökonomiekongresses oder die KriSU heißen Mithilfe willkommen. Die Plattform „Solidarisch G’sund – Für ein öffentliches Gesundheitswesen“ zielt auf eine solidarische Ökonomie im Gesundheitswesen. Sie ist für Mithilfe dankbar. Die Transition Town-Gruppen freuen sich ebenfalls über tatkräftige Verstärkung. Eine breite Vielfalt an solidarökonomischen Mitmach-Optionen bietet die Rubrik „Doing/Tun“ der Plattform „Demonetize.it!“ Es gibt noch viele weitere Möglichkeiten.

Der Vorteil solcher Möglichkeiten, im Hier-und-Jetzt mit den Alternativen zu beginnen: Man muss weder auf Unternehmer und Unternehmerinnen warten, die sich das komplizierte Punktesystem der „Gemeinwohl-Ökonomie“ zueigen machen wollen – noch muss man die vielen Jahrzehnte warten, bis es soweit sein könnte, dass „demokratische Konvente“ Staatseinnahmen (aus einer kapitalistischen Wirtschaft) umgelenkt und „Gemeinwohl-Matrizen“ definiert haben, sodass (1) auf Basis eines gemeinsames Verständnisses von „Gemeinwohl“ (2) ausreichende Subventionen für die „Gemeinwohl-Ökonomie“ abgezweigt werden können. (Diese müssten aus einer prosperierenden kapitalistischen Wirtschaft stammen, die entsprechend umfangreiche Steuereinnahmen generiert.)

Gründen wir Handwerks-Kooperativen! Steigen wir in der nächsten FoodCoop ein! Bilden wir Share and Care-Netzwerke! Vernetzen wir unsere Projekte und geben einander, was wir brauchen – ohne Verrechnung und Tausch! Überlegen wir, was wir produzieren wollen und produzieren es kooperativ! Unterstützen wir Kostnixläden! Lasst uns überlegen, wie wir Streiks organisieren, die zu Betriebsübernahmen führen! Organisieren wir Streiks in Betrieben! Verstecken wir Illegalisierte! Üben wir bedingungslose Solidarität! Lasst uns für ein Grundeinkommen agitieren! Lobbyieren wir für die Erleichterung von Betriebsübernahmen (etwa nach dem Vorbild des Marcora-Gesetzes in Italien)! Versuchen wir uns in Betriebsübernahmen! Lasst uns Ressourcen poolen ohne Tausch und Verrechnung!

Holen wir uns die Macht zurück, die wir der Regierung geben! Halten wir Ausschau nach praktischen Alternativen im Hier-und-Jetzt! Verbreiten wir ihre Erfolge! Betrachten wir ihre Defizite kritisch! Lasst uns Vorschläge diskutieren, wie es besser gehen könnte! Setzen wir sie in die Tat um! Machen wir uns vor allem selbst Gedanken, was wir im Leben wollen, was wir erträumen, was wir heute und jetzt tun können, damit ein gutes Leben für alle Wirklichkeit wird!

Die Solidarische Ökonomie ist die „andere Welt“, die bereits in der Gegenwart existiert. Im Unterschied zur „Gemeinwohl-Ökonomie“, „das Wirtschaftsmodell der Zukunft“ (Christian Felber), haben in ihr viele Welten Platz.

 


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