Die islamistische Scheinalternative

Am Beispiel Algeriens

Streifzüge 39/2007

von Bernhard Schmid

Die Gewalt, die mit den islamistischen Anschlägen vom 11. September 2001 zum Ausdruck kam, hat die Reste der Linken mächtig durcheinandergewirbelt. Während einige Stimmen sich den radikalen politischen Islam als „objektiv antiimperialistisch“ und als faktischen Platzhalter für frühere revolutionäre Aufbrüche in der „Dritten Welt“ zurechtschönen, flüchten sich andere seitdem unter die Fittiche der „westlichen Zivilisation“.

Moderne Massenbewegung

Ein wesentliches Motiv für letztere Haltung bildet die Vorstellung, der Aufstieg oder die Manifestation des politischen Islam widerspiegele eine Drohung mit dem Rückfall in eine Vormoderne, gegen welchen es den Kern des „Glücksversprechens“ der bürgerlichen Moderne – als Voraussetzung, um von da aus etwa sozialistische Utopien in einer ferneren Zukunft irgendwann entwickeln zu können – zu retten gelte. Die Erscheinung des politischen Islam, die mitten aus dem 20. Jahrhundert heraus entsprang, wird dabei aus der „Moderne“ herausdefiniert und als eine Art Wiederkehr eines historisch älteren Zustands, eines neuen Mittelalters interpretiert. Um die gesellschaftliche Natur dieser Bewegung zu charakterisieren schreibt etwa Joachim Rohloff kurz nach den Attentaten des 11. September in der Jungle World von „hirnlosen Werkzeugen islamischer Steinzeittheologen“. Seine Redakteurskollegin Heike Runge spricht von einer „antimodernen Botschaft“, von dem Vorhaben, „der Welt den Strom abzusperren“, und einer Bedrohung für „die Moderne und die Emanzipation“. Nun, für die Emanzipation ist die Ideologie des Islamismus mit Sicherheit tödlich. Aber gebrauchen die zitierten AutorInnen den Begriff der „Moderne“ nicht in einer ideologisch determinierten und verzerrten Weise? Die Verwendung des Begriffs erscheint ebenso falsch wie die Interpretation der ideologischen Phänomene, die er transportieren soll.

Christian Y. Schmidt seinerseits begrüßt in seinem ebendort erschienenen Beitrag „die globale Zerstörung ethnischer und religiöser Identität, die Vernichtung des (oft gewalttätigen) Idylls der Doofen und Zurückgebliebenen“, dessen quasi letzte Mohikaner die Islamisten seien. Hat diesem Autor – der die Argumentation im Nachhinein selbst relativiert, sobald er auf das globale Wirtschaftssystem zu sprechen kommt – schon mal jemand gesagt, dass die Zahl national, „rassisch“ oder konfessionell definierter Identitätsbewegungen in den letzten zwanzig Jahren sprunghaft zugenommen hat?

Karl Marx hatte sich noch von der Bourgeoisie und dem internationalen Handel erhofft, dass sie „alles Idyllische“ entzaubern und zerstören würden. Die damalige Ära aber ist definitiv vorüber, und es gibt heute keinen idyllischen Flecken mehr, der nicht den Regeln und – vor allem im Trikont – den Verheerungen des internationalen kapitalistischen Wirtschaftssystems unterliegen würde.

In Wirklichkeit geht es völlig in die Irre, wenn AutorInnen bewusst oder unbewusst eine Strömung wie den Islamismus mit der Antimoderne schlechthin verbinden. Dem widerspricht die Entstehung des politischen Islamismus selbst. Denn er bildet im Wesentlichen nicht eine Wiederkehr verschütteter Tradition, sondern eine moderne Massenbewegung, die gewisse mit dem europäischen Faschismus verwandte Züge aufweist, der sich ja auch nicht als die reine Wiederkehr des Mittelalters darstellte. Dennoch bestehen gewichtige Unterschiede zwischen beiden. Vor allem ist der Islamismus, jedenfalls in den meisten seiner Spielarten, nicht angetreten, um die Welt zu erobern, sondern um die aus seiner Sicht zerrüttete innere Ordnung der muslimischen Gesellschaften wieder herzustellen.

Frucht des Kolonialismus

Die wohl wesentliche Erfolgsgrundlage des Islamismus beruht auf dem Erlebnis der Form, in der die kapitalistische „Moderne“ in die entsprechenden Länder eingedrungen ist – mitsamt dem von ihr instrumentalisierten Diskurs des politischen Liberalismus, der Errungenschaften der Französischen Revolution, der Aufklärung. Nämlich in der Regel in Gestalt europäischer Großmächte, deren Repräsentanten diese Begriffe verwendeten und zugleich viele der Länder in ihrer Entwicklung zurückgeworfen haben. So kommen etwa die Kader des politischen Islamismus in Algerien oft von den natur- (und nicht geistes-)wissenschaftlichen Fakultäten, sodass ihnen moderne Technologie keineswegs fremd ist. Dass in diesen akademischen Bereichen die islamistische Strömung mehrheitsfähig ist, kommt daher, dass man in der Vorstellung lebt, dass, wenn der sogenannte Westen schon auf technischer und wirtschaftlicher Ebene dominiert, die muslimischen Länder des Südens wenigstens ihre eigene Interpretation der Welt behalten müssten.

Das kollektive Gedächtnis der Kolonisierung hat nämlich verhindert, dass sich in diesen Gesellschaften ein Prozess bis zum Ende vollzog, der im 19. und 20. Jahrhundert in vielen europäischen Ländern zum Abschluss kam. Dort sorgten die wissenschaftlichen Entdeckungen und die moderne Technik dafür, dass das alte Weltbild mit Gott als im menschlichen Leben präsentem Ausgangs- und Endpunkt nachhaltig erschüttert wurde. Noch im 17. Jahrhundert nahmen viele EuropäerInnen rätselhafte Krankheiten als „Strafe Gottes“ an, um wenigstens über irgendeine Erklärung und Handlungsanleitung zu verfügen, statt zu verzweifeln. Nachdem der Cholerabazillus und der Pockenvirus identifiziert worden waren, vertraute der moderne Europäer dann doch lieber der Medizin.

In einer Gesellschaft jedoch, die den Anbruch der europäischen Moderne in Form einer äußeren Aggression wahrgenommen hat, wurde dieser eigentlich in allen menschlichen Gemeinwesen zu erwartende Prozess dauerhaft blockiert. Kräfte und Sichtweisen, die sonst als reaktionär kritisiert worden wären, konnten sich dadurch legitimieren, dass sie sich als „Widerstand gegen die äußeren Aggressoren“ auswiesen.

Den Ausgangspunkt einer gründlicheren Analyse des islamistischen Phänomens kann ein Zitat gut umreißen, das eine der zentralen Ursachen dafür beschreibt, warum aktuell dem Islamismus in vielen Ländern von Teilen der Gesellschaft Legitimität zuerkannt wird. Ende der achtziger Jahre schrieben Cheryl Bernard und Zalmay Khalizad in ihrem Buch über „The Government of God. Iran’s Islamic Republic“ folgende Sätze, die die Situation postkolonialer Gesellschaften skizzieren und mit einigen Abwandlungen auf eine Reihe von Ländern übertragbar sind: „Pseudo-moderne Eliten … sitzen an den Schalthebeln der Macht und arrangieren sich mit den Großmächten und dem internationalen System. Daneben aber existieren die traditionellen Eliten fort und behalten bedeutende Teile ihres Einflusses, sowohl materiell als auch kulturell und ideell. Während sie unter anderen Umständen als die Großgrundbesitzer, die rückständigen Traditionalisten und die privilegierten Eliten, die sie tatsächlich sind, bekämpft würden, hat die Struktur der Nord-Süd-Beziehungen ihnen eine nationalistische und sogar revolutionäre Note verliehen. Heute streiten sie um die Restauration ihrer Macht und ihrer Privilegien, aber sie bedienen sich des Vokabulars der nationalen und kulturellen Befreiung und Selbstbehauptung und der entsprechenden Volksstimmung. “

Aufstieg des Islamismus in Algerien

Ziehen wir die algerische Situation als Untersuchungsbeispiel für die historischen Hintergründe eines (zeitweisen) Erfolgs des politischen Islams heran, so müssen hier spezifische Faktoren berücksichtigt werden. Die wichtigste Besonderheit in diesem nordafrikanischen Land besteht darin, dass hier die alteingesessenen Eliten nicht unangetastet blieben und den Modernisierungsschock einfach sozusagen „überwintern“ konnten. Tatsächlich hat in Algerien seit langem ein Austausch der gesellschaftlichen Eliten stattgefunden, der es verbietet, den dortigen Islamismus einfach als Wiederkehr alter, feudaler Eliten mit aufgefrischter Legitimation zu interpretieren. Denn Algerien wurde durch Frankreich, dessen koloniale Herrschaft verhältnismäßig lange andauerte – von 1830 bis 1962 -, als „Teil des Mutterlands“ (aufgeteilt in drei französische Départements) und Siedlungskolonie behandelt. Der größere Teil der alteingesessenen Eliten sah sich seines Landbesitzes zugunsten europäischer Bewirtschafter enteignet.

Der größte Teil der Bewohner wurde aus den vorherigen sozialen Rollen herausgerissen und in das umgeformt, was der linke algerische Historiker Mohammed Harbi – unter Anlehnung an einen Begriff aus dem antiken Rom – als „die Plebs“ bezeichnet hat. Also eine mehr oder minder verarmte und (sub-)proletarisierte „Masse“ von Menschen, die aber weder als Arbeiter noch als Bauern eine dauerhafte gesellschaftliche Stellung einnahmen, sondern als Hilfskräfte (vom zeitweise beschäftigten Landarbeiter oder Tagelöhner bis zur Hausdienerin) vom Kolonialsystem irgendwie durchgebracht wurden.

Damit kein Missverständnis aufkommt: Das Bewirtschaften der bäuerlichen Scholle und das „Verhaftet-Sein“ mit ihr ist beileibe kein idyllischer Zustand, dessen Bewahrung an sich erstrebenswert wäre. Tatsächlich ist das Heraustreten aus der Abhängigkeit vom Boden und seinen Erträgen, vom Wetter usw. ein „an sich“ progressives Moment in der Geschichte. Es kommt nur ganz darauf an, in welcher Form dieses Heraustreten aus bäuerlichen Lebensformen und Sozialverhältnissen sich vollzieht. Geschieht es unter den Bedingungen kolonialer Enteignung und Vertreibung sowie anschließender Umformung der solcherart vom Boden „Befreiten“ nicht in (lohnabhängige, aber durch ihre Konzentration in modernen Industrien zum Umsturz befähigte) Arbeiter, sondern in eine „Plebs“ ohne definierten Platz in der Gesellschaft, dann bietet das gewiss nicht die besten Voraussetzungen für die Entfaltung von Klassenkampf mit dem Ziel sozialer Emanzipation. Denn eine solche objektive Lage ist der Entwicklung einer Form von Klassenbewusstsein nicht besonders dienlich.

Zur gleichen Zeit funktionierte die Gesellschaftsordnung im französischen Algerien auf der Basis eines Apartheidsystems (mit drei Klassen von Staatsangehörigen), das mit religiösen Kategorien operierte. Dadurch wurde die Frage der Konfessionszugehörigkeit und nebenbei der Herkunft, zum zentralen gesellschaftlichen Identifikationskriterium erhoben, aus dem Rechtspositionen abgeleitet werden konnten. Hier findet sich bereits eine der Zutaten für den Diskurs, der später unter anderem den Erfolg des politischen Islamismus ausmachte – und in dem das Bekenntnis zum Islam einerseits und das Eintreten für die sozial Entrechteten andererseits als Quasi-Synonyme behandelt werden.

Dieses Element allein genügt aber noch nicht, um die Genese der islamistischen Massenbewegung zu verstehen, denn diese entstand keineswegs als spontane, direkte Reaktion auf den Kolonialismus. Im Gegenteil fanden sich die Protagonisten der konservativ-reaktionären religiösen Kreise während des Befreiungskrieges gegen Frankreich von 1954 bis 1962 (der nach offiziellen Angaben 30.000 Tote – darunter 27.000 Soldaten – auf französischer Seite und rund eine Million, mehrheitlich zivile Opfer, auf algerischer Seite kostete) durch den Lauf der Dinge auf die Seite gedrängt. Denn die Ulama, die Versammlung der (konservativen) muslimischen Geistlichen, fürchtete nichts so sehr wie eine weitere Erschütterung der herkömmlichen Sozialordnung, die ohnehin von außen durch den Druck des Kolonialismus angeknackst war, durch eine Mobilisierung der „Plebejer“, um mit Harbis Begriff zu sprechen. Sie setzte vielmehr auf Ruhe und Ordnung, wozu die „Erziehung“ hinzukommen müsse. Innerhalb der algerischen Nationalbewegung gab es zwar Kräfte, die vor allem für „den Islam“ kämpften, in der Regel verstanden sie darunter aber weitaus eher eine Selbstidentifikation des am schlechtesten gestellten Teils der algerischen Bevölkerung als die Idee eines Gottesstaates. Man traf in den Reihen des FLN (Front de libération nationale) auf reaktionäre Protagonisten, die beispielsweise der Bevölkerung den Zwang auferlegten, weder Alkohol noch Tabak zu konsumieren. Zugleich aber kamen mit dem FLN auch die Teilnahme der Frauen am bewaffneten Kampf und das schlicht unislamistische Ringen um ein materiell besseres Leben in dieser Welt. Einige Kämpfer definierten sich vorrangig als Muslime, andere als Atheisten oder jedenfalls Sozialisten.

In den frühen Jahren nach der Unabhängigkeit (1962) war Algerien meilenweit von der Vorstellung eines Religionsstaats entfernt, auch wenn vom Islam durchaus viel die Rede war – doch eher im Sinne einer vagen, kulturellen Selbstbeschreibung in Abgenzung vom kolonialen Erbe. Im Laufe der Jahre und parallel zur Mutation der Nationalen Befreiungsbewegung FLN zur zunehmend konservativen und auf reinen Machterhalt ausgerichteten Staatspartei änderten sich die Inhalte, mit denen die Begriffe gefüllt wurden.

Anfänglich eher eine bloße Hülle, die sehr materielle Vorstellungen von einer neuen Sozialordnung umgab, wandelten sich die Bezüge auf den Islam und das Arabertum, je mehr die greifbaren sozialen Versprechungen der neuen Staatsmacht an „ihre“ Bevölkerung abnahmen, immer stärker zum eigentlichen Inhalt des Diskurses. Und die neue Opposition, wie sie ab den achtziger Jahren hervortrat, suchte die herrschende Oligarchie auf diesem Gebiet noch zu übertrumpfen. Es trifft freilich auch zu, dass der Austausch einer ursprünglich links vom Regime stehenden Opposition durch den Islamismus (der sich anfangs an konservativen Widerständen etwa gegen die Agrarreform von 1972 kristallisiert hatte) als stärkste Gegenmacht wohlwollend durch Teile des Regimes begleitet wurde.

Um die zwar illegale, aber (auch aus Rücksicht auf die verbündete UdSSR) tolerierte algerische KP, die Anfang der siebziger Jahre noch stark war, und andere linke Strömungen aus den Universitäten zu verdrängen, ließen die Behörden islamistischen Gruppen ab Ende des Jahrzehnts quasi freien Lauf und verstärkten zugleich selbst die Islamisierung des offiziellen Diskurses. So hat das 1984 vom FLN verabschiedete Familiengesetz – der „Code de la famille“ – stark islamisch geprägte Normen ins algerische Zivilrecht eingeführt und der Frau mindere Rechtspositionen zugewiesen. (Im Gegensatz zu Staaten wie dem Iran oder Saudi-Arabien gilt allerdings in Algerien nicht das dazu gehörige Strafrecht mit seinen Züchtigungsvorschriften. )

Dass letzlich beim Zusammenbruch des FLN-Systems der Islamismus als vermeintlicher kollektiver Robin Hood der Armen und Gedemütigten erscheinen konnte, dazu trugen einige weitere Faktoren wesentlich bei. Da ist zum einen das Scheitern des staatssozialistischen Entwicklungsmodells, das der regierende FLN ab Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre erprobt hatte, und das Zusammenspiel von westlichem Technikdiktat und Korruption innerhalb der staatlichen Nomenklatura (als Algerien etwa schlüsselfertige Fabriken mit veralteter Technologie angedreht wurden, die anschließend kaum funktionierten) und der Ölpreisverfall der Jahre um 1985.

Zum anderen spielt die strategische Niederlage der Linken eine bedeutende Rolle. Im algerischen Beispiel war die dortige KP, damals PAGS (Parti de l’avant-garde socialiste), dem „alten“ Regime vor 1988 lange Jahre in „kritischer Solidarität“ verbunden gewesen. Als 1989/90 das Mehrparteiensystem eingeführt wurde, war die Partei sowohl unter die Trümmer der frisch zusammengebrochenen realsozialistischen Staaten des östlichen Europa als auch unter jene des algerischen FLN-„Sozialismus“ geraten: Aller beider Bilanz rückte den Begriff des Sozialismus in ein unattraktives Licht. Der PAGS und später seine Überreste bzw. Nachfolger setzten ab dieser Zeit auf Publikumsbeschimpfung gegenüber der gesamten („rückständigen“ und „für die Demokratie nicht reifen“) Bevölkerung und auf die Perspektive einer Modernisierungsdiktatur, die hin zu einem „normalen Kapitalismus“ führen sollte – ein ehemaliger PAGS-Kader zog gegenüber dem Autor dieser Zeilen glatt „einen antiislamistischen Pinochet“ als potenzielles Vorbild heran. Letzterer werde dann auf längere Frist eine bürgerliche Demokratie schon mit sich bringen. Damit war angesichts der mit Händen greifbaren Verelendung in den späten achtziger Jahren natürlich kein Blumentopf zu gewinnen.

Eine andere (ehemals) linke Kraft, die „Arbeiterpartei“ PT trotzkistischer Herkunft und linksnationalistischer Tendenz, hängte sich in den frühen neunziger Jahren an den Zug der islamistischen Opposition als vermeintlich radikalste, systemsprengende Kraft hinten dran. Das Dilemma der algerischen Linken stellte sich zwar während der Jahre des Bürgerkriegs in zugespitzter Form dar, aber in seiner Grundkonstellation befand sich auch die Linke anderer Länder der Region davor. Die meisten dortigen kommunistischen oder Linksparteien fanden sich auf einem von zwei Polen wieder: Entweder als jeglicher Vorstellung von sozialer Opposition beraubter Wurmfortsatz (vermeintlich) modernistischer Eliten oder aber als faktische Hilfstruppe der Islamisten.

Als das Einparteienregime des FLN unter dem Eindruck der heftigen Jugendrevolte im Oktober 1988 implodierte, trugen zwei weitere Ursachen zum Durchbruch des Islamismus als politischer Kraft bei: Erstens die explosionsartige Zunahme des Rassismus im Frankreich der achtziger Jahre und die Politik der Grenzschließung, die eines der wichtigsten Ventile verschloss, durch welche der algerische Staat bis dahin den Druck abgeleitet sah: die Möglichkeit der Emigration nach Frankreich. Und zweitens die Erfahrung des Zweiten Golfkriegs Anfang 1991, der von den algerischen Zuschauern – wie in anderen Ländern der sogenannten Dritten Welt – als feiges Zusammenbomben einer muslimischen Zivilbevölkerung aus der Höhe erlebt wurde. Der Kreis mit der eigenen kollektiven Erinnerung an den Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich und die Kolonialmassaker schien sich so zu schließen.

Eine ähnliche Rolle als „mobilisierender Mythos“ hatte im Übrigen in den achtziger Jahren der islamistische Guerillakrieg gegen die sowjetische Armee in Afghanistan gespielt. Zwar wies die dortige Konstellation, analysiert man sie näher, bedeutende Unterschiede zu einer Kolonialsituation auf. Doch wesentlich für die Rezeption in den meisten arabischen und / oder muslimischen Ländern waren die (und seien es oberflächlichen) Ähnlichkeiten zwischen ihrer kollektiven Erinnerung an die Kolonialkriege und der Form des sowjetischen Eingreifens, das eine brutale und autoritäre Intervention blieb und natürlich vorrangig aufgrund sowjetischer Staatsinteressen erfolgte – obwohl sie objektiv jene Kräfte stützte, die in Punkten wie der Beteiligung der Frauen am öffentlichen Leben weitaus moderner und aufgeklärter waren als die Parteien der islamistischen Opposition.

Relativer Sieg …

In Algerien wie auch in anderen Ländern der Region, insbesondere in Ägypten, bildeten die Rückkehrer aus Afghanistan das Rückgrat der militanten Strukturen des Islamismus, eine gewisse Brutalisierung und Enthemmung bereits aus der Kriegserfahrung mitbringend. Zu Anfang der neunziger Jahre bildeten sich am Rande und im Umfeld der islamistischen Massenbewegung, in Gestalt des FIS (Front islamique du salut, korrekt übersetzt: „Islamische Errettungsfront“), eine Reihe mehr oder minder auf eigene Faust handelnder „islamischer Milizen“ heraus, die sich zur Aufgabe stellten, das „Sittengesetz“ notfalls gewaltsam durchzusetzen. Denn der innerste Kern des politischen Islamismus besteht aus dieser Idee: Das „natürliche Wesen“ der islamischen Gesellschaft, das durch die modernen Formen des Zusammenlebens zur Disposition gestellt ist, soll notfalls durch Druck und Zwang wieder hergestellt werden. Die Wirkung der relativen (durch die materiellen Verhältnisse, etwa extremen Wohnraummangel, begrenzten) Emanzipation von Frauen und Jugend, nämlich das Aufbrechen der traditionellen Sozialstrukturen, wird durch die Islamisten ausschließlich im Lichte der Erfahrung äußerer Aggression interpretiert, als Folge des „westlichen (bzw. christlich-jüdischen) Angriffs“ bewertet. Im Regelfall bedeutet das: Gegebenenfalls soll unter Einschluss körperlicher Züchtigungsstrafen der „moralische Zustand“ wieder herbeigeführt werden. Denn das Abkommen von diesem positiven Urzustand habe die islamischen Gesellschaften erst in die Krise gestürzt. Sämtliche Umwälzungs- und Verwerfungserscheinungen in der Gesellschaft, von der Massenarmut bis zur Frauenemanzipation, werden so über einen Kamm geschoren und als Ausdruck einer Art „Überfremdung“ aufgefasst. In den Jahren 1990/91 – parallel zum Aufstieg des FIS als Wahlpartei – häuften sich so die Angriffe mal mehr, mal weniger eigenständiger „Tugendwächter“-Milizen, die etwa der Prostitution verdächtigte Frauen oft tätlich angriffen. Zugleich war der Islamismus jedoch in Algerien, dessen Bevölkerung zu bedeutenden Teilen die Vorzüge des europäischen Lebens kennt (dank allgegenwärtigen französischen Fernsehens, der Präsenz einer bedeutenden „community“ in der Emigration in Frankreich und aufgrund der vielfältigen Verflechtungen beider Gesellschaften) niemals völlig hegemonial.

Anlässlich der Parlamentswahlen, die im Januar 1992 zwischen dem ersten und dem zweiten Wahlgang abgebrochen wurden, erhielt der FIS insgesamt 3 Millionen Stimmen, bei 13 Millionen Wahlberechtigten. Das bedeutet die Zustimmung von nur rund einem Viertel der volljährigen algerischen Bevölkerung.

Aufgrund des Mehrheitswahlrechts hätte die Islamistenpartei, die im ersten Durchgang 47 Prozent der gültigen Stimmen erhalten hatte (gut 40 Prozent der Wahlberechtigten waren den Urnen fern geblieben, hinzu kamen viele ungültige Stimmen), freilich eine klare Mehrheit der Parlamentssitze erreicht. Dies eröffnete die Möglichkeit einer parlamentarischen Mehrheit, widerspiegelte jedoch keineswegs eine totale gesellschaftliche Hegemonie. Außerdem stimmten viele der FIS-Wähler zwar für die – in ihren Augen – einzige radikale Alternative zu den regierenden mafiösen Eliten, die von der Plünderung und beginnenden Privatisierung der (durch sie heruntergewirtschafteten) ehemals staatssozialistischen Ökonomie profitierten, nicht aber für die reaktionäre Utopie einer „gesundeten islamischen Gesellschaft“. Freilich existierte auch ein ideologisch fundierter „harter Kern“ der Bewegung.

… und Rückschlag

Mit dem Abbruch der Parlamentswahlen im Januar und der gesetzlichen Auflösung des FIS im März 1992 begann eine Ära der Repression gegen die Aktivisten der islamistischen Bewegung. Eine kurzatmige, ein politisches Problem mit rein polizeilich-militärischen Mitteln lösen wollende Politik des (selbst tief in der Krise steckenden) Staatsapparats rief jedoch zunächst eher die gegenteilige als die beabsichtigte Wirkung hervor. Die Verhaftung der den Sicherheitskräften bekannten Kader der Islamisten sorgte, in Verbindung mit einer „Dampfwalze“ der Repression gegen die pauschal der Sympathie verdächtigten Armenviertel (die ihre Solidarisierungseffekte nicht verfehlte) dafür, dass die Bewegung immer unkontrollierbarer wurde. Anstatt der politisch-ideologisch motivierten und strategisch handelnden Kader, deren „Korsett“funktion für die Bewegung wegfiel, nahmen nunmehr aufgeheizte junge Anhänger aus den subproletarischen Wohnbezirken den Kampf in die Hand. Ab Anfang 1993 brach somit die Ära der selbsternannten „Emire“ (islamische Befehlshaber) an, die über Mikroterritorien herrschten: oft sozial deklassierte Zonen, die der Staatsapparat vorübergehend ihrem Schicksal überließ, um sich auf die Verteidigung der Wohngebiete der Eliten zu konzentrieren. Diese Akteure begannen, einen „Heiligen Krieg“ auf eigene Faust zu führen. Oft genug war dieser stark von nur oberflächlich ideologisch übertünchten Triebkräften wie dem Wunsch nach rascher Selbstbereicherung (mit-)bestimmt.

Zwei nicht unbedingt total entgegengesetzte, aber doch auseinanderstrebende Logiken prägten ab 1993/94 die islamistische Gewalt, die das Land mit Blut zu überziehen begann. Auf der einen Seite stand die Strategie einer dem FIS entsprungenen Guerilla, deren wichtigste Vertretung die „Islamische Rettungsarmee“ AIS bildete und die an vorderster Stelle das Ziel einer politischen Machteroberung verfolgte. Auf der anderen Seite fand sich eine Anzahl selbständig operierender Guerillagrüppchen, deren wichtigste alsbald die „Bewaffneten Islamischen Gruppen“ GIA waren und die sich oftmals um Afghanistan-Rückkehrer herum bildeten. Diese Gruppen wiesen einen Doppelcharakter auf. Einerseits handelte es sich um extrem gewalttätige religiöse Sekten (deren Diskurs die gesamte Bevölkerung, sofern sie diese Terrorgrüppchen nicht materiell unterstützte, für „ungläubig“ bzw. „vom rechten Glauben abgewichen“ und todeswürdig erklärte) und andererseits um eine in brutaler Form direkte Aneignung betreibende Form des kriminellen Bandenwesens. Die selbst vorgenommene Legitimierung durch die „heilige Sache“, die kraft Berufung auf göttlichen Willen keinerlei Widerspruch dulden konnte, wurde somit zum Deckmantel der Rechtfertigung einer Raub-, Plünderungs- und Aneignungsökonomie, die (im Kontext einer Anfang der neunziger Jahre zusammenbrechenden Ökonomie) den Rücksichtslosesten oder Motiviertesten das Überleben auf Kosten des Rests sichern sollte.

Vor allem das Vorgehen der zweitgenannten Gruppen führte binnen weniger Jahre dazu, dass die islamistischen Guerillabewegungen den allergrößten Teil der zuvor genossenen Unterstützung (denn anfangs sahen Teile der Bevölkerung in ihnen, wie gesagt, eine Art kollektiven Robin Hood) bis 1995/96 verloren hatten. Die großen Kollektivmassaker der späten neunziger Jahre sind die logische Konsequenz dieses Prozesses: Die materielle Basis ihres Kampfes zunehmend einbüßend entschieden sich vor allem die GIA, die mittlerweile den größten Teil der autonom operierenden Terrorgruppen aufgesogen hatten, für eine blutige Flucht nach vorn. Damit brachten sie aber auch die bisherige islamistische Massenbasis gegen sich auf. Die Erfahrung mit beiden Varianten des bewaffneten Islamismus hat jedenfalls zur Abwendung der Bevölkerung geführt. Das Ziel einer gewaltsamen Machtübernahme ist auf unabsehbare Zeit hin gescheitert (auch wenn einige Desperadogruppen mit islamistischem Banner nach wie vor aktiv sind).

Das bedeutet jedoch nicht, dass der politische Islamismus die Auseinandersetzung schon heute und für immer verloren hätte. Denn einerseits bleibt der gesellschaftliche Nährboden, auf dem die Zustimmung zur islamistischen „Alternative“ gedeihen konnte, unangetastet: Armut und Perspektivlosigkeit sind in Algerien nach wie vor vorhanden, auch wenn sie aufgrund des relativ hohen Ölpreises in den letzten fünf Jahren von einem gewissen oberflächlichen Boom überlagert werden, dessen Früchte natürlich nicht allen Algeriern zugute kommen. Andererseits bleibt die Möglichkeit einer anderen, einer linken, sozialen Alternative bisher noch in weiter Ferne, auch wenn ihre Möglichkeit mit den seit 2001 mehrfach aufgebrochenen – aber für den Augenblick stecken gebliebenen – sozialen Revolten erstmals wieder aufgeschienen ist.

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