Märchenunglück

von Hermann Engster

Kinder brauchen Märchen.

(Bruno Bettelheim)

Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm waren nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene gedacht, als Unterhaltungsbedürfnis für Menschen aus allen sozialen Schichten: für Bauern, Dienstleute und Handwerker bis hinein ins großbürgerliche Milieu. Viele Märchen daraus stammen aus der Märchensammlung Histoires ou Contes du temps passé (Geschichten oder Erzählungen aus alter Zeit) von Charles Perrault, z.B. Dornröschen, Aschenputtel, Rotkäppchen, Der gestiefelte Kater, Blaubart, und dienten seinerzeit unter Ludwig XIV. der Hofgesellschaft als Abwechslung von den anstrengenden Theaterstücken eines Corneille und Racine.

Das Wort Märchen bedeutet „kleine Geschichte“. Seit 1812 haben die Grimms ihre Sammlung in immer neuen Auflagen publiziert. Es sind Geschichten unterschiedlicher Art und Erzählabsicht: Märchen, die bürgerliche Tugenden wie Fleiß, Gehorsam, Frömmigkeit vermitteln und deren Vernachlässigung hart bestrafen wie im Märchen von Frau Holle, Märchen, die seelische Reifungsprozesse nachzeichnen wie Hänsel und Gretel oder Froschkönig, aber auch Märchen, in denen Frechheit belohnt wird wie im Gestiefelten Kater oder im Tapferen Schneiderlein, satirische Märchen wie die Erzählung Hans im Glück, die sich über einen Naivling lustig macht, der den Tauschwert der Dinge nicht erkennt und sein Glück daheim bei seiner Mama findet; ferner solche, die sich über den heiligsten bürgerlichen Wert, das Eigentum, hinwegsetzen wie Der Meisterdieb, und geradezu rebellische wie Die Bremer Stadtmusikanten, wo aussortierte Arbeitskräfte erkennen: Etwas Besseres als den Tod findest du überall – und „Tod“ meint hier nicht den physischen Tod, sondern ein Ende in Elend, Obdachlosigkeit und Bettelei – sie sich deshalb zu einer Gang verbünden, um ihren Platz in der Gesellschaft zu behaupten. Wobei sie, skurrile Pointe, gar nicht mal bis Bremen gelangen, ihnen dort aber trotzdem ein Denkmal errichtet worden ist.

Unter den Grimm’schen Märchen findet sich auch das von Frau Trude. Es wurde erst 1837 in die dritte Auflage der Märchensammlung aufgenommen; Wilhelm Grimm hat es bearbeitet, es ist kurz und geht so:

Frau Trude

Es war einmal ein kleines Mädchen, das war eigensinnig und vorwitzig, und wenn ihm seine Eltern etwas sagten, so gehorchte es nicht; wie konnte es dem gut gehen? Eines Tages sagte es zu seinen Eltern: „Ich habe so viel von der Frau Trude gehört, ich will einmal zu ihr hingehen: die Leute sagen, es sehe so wunderlich bei ihr aus, und erzählen, es seien so seltsame Dinge in ihrem Hause, da bin ich ganz neugierig geworden.“ Die Eltern verboten es ihr streng und sagten: „Die Frau Trude ist eine böse Frau, die gottlose Dinge treibt, und wenn du zu ihr hingehst, so bist du unser Kind nicht mehr.“

Aber das Mädchen kehrte sich nicht an das Verbot seiner Eltern und ging doch zu der Frau Trude. Und als es zu ihr kam, fragte die Frau Trude: „Warum bist du so bleich?“ „Ach“, antwortete es und zitterte am Leibe, „ich habe mich so erschrocken über das, was ich gesehen habe.“ „Was hast du gesehen?“ „Ich sah auf Eurer Stiege einen schwarzen Mann.“ „Das war ein Köhler.“ „Dann sah ich einen grünen Mann.“ „Das war ein Jäger.“ „Danach sah ich einen blutroten Mann.“ „Das war ein Metzger.“ „Ach, Frau Trude, mir grauste, ich sah durchs Fenster und sah Euch nicht, wohl aber den Teufel mit feurigem Kopf.“

Oho“, sagte sie, „so hast du die Hexe in ihrem rechten Schmuck gesehen. Ich habe schon lange auf dich gewartet und nach dir verlangt, du sollst mir leuchten.“ Da verwandelte sie das Mädchen in einen Holzblock und warf ihn ins Feuer. Und als er in voller Glut war, setzte sie sich daneben, wärmte sich daran und sprach: „Das leuchtet einmal hell!“

drude drud drut drute trud trude, f. hexe, altes hexenartiges weib, unholde.

(Grimm, Wörterbuch der deutschen Sprache)

Die Geschichte ist kunstvoll gebaut: Sie verzichtet auf weitschweifige Ausschmückungen, hat einen dramatischen Rhythmus und führt die Handlung straff und zielsicher ihrem katastrophischen Höhepunkt zu.

Dieses Märchen gehört zur Kategorie der Warn- und Schreckmärchen; seine Moral ist eindeutig und wird noch durch den Erzählereinschub Wie konnte es dem (: Mädchen) gut gehen? unterstrichen. Dieses Mädchen ist von schlechtem Charakter: Es ist eigensinnig, vorwitzig und gehorcht nicht. Selbst die strengste Drohung, die Eltern auszusprechen vermögen – so bist du unser Kind nicht mehr! – können es nicht von seiner Neugier abhalten. So ereilt es seine gerechte Strafe, und es ist sogar eine doppelte Strafe, die darin besteht, dass es vor dem eignen Flammentod die Hexe in ihrer unverhüllten Dämonie erblickt. Wozu ein solches eigensinniges und ungehorsames Mädchen taugt? Nur dazu, verbrannt zu werden und die Stube der Hexe zu erhellen, wie diese zynisch feststellt: Das leuchtet einmal hell. Im pädagogisch wertvollen Einverständnis damit zeichnet der populäre Märchenillustrator Otto Ubbelohde einen brennenden Holzklotz, aus dem heraus zwei Kinderarme wild zappeln. Recht also hat der Erzähler – es ist Wilhelm Grimm selbst – mit seiner Mahnung mit Blick auf dieses Mädchen: Wie konnte es dem gut gehen?

Wenn ein literarischer Text von seinem Autor in die Welt entlassen wird, entwickelt er im Dialog mit seinen Leserinnen und Lesern ein Eigenleben: Diese stellen neue Fragen, legen andre Maßstäbe an ihn an, der Text beginnt oft auf unvermutete Weise darauf zu antworten und offenbart ein neues Sinnpotenzial. Also gehen auch wir daran und bürsten das Märchen gegen den Strich!

Nicht nur gelegentlich, sondern immer übertrifft der Sinn eines Textes seinen Autor.

(Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode)

Und Gadamer fährt fort: „Lesendes Verstehen ist nicht ein Wiederholen von etwas Vergangenem, sondern Teilhabe an seinem gegenwärtigen Sinn.“ Lesen wir also das Märchen mit unsren heutigen Augen! Da ist ein Mädchen, das als eigensinnig dargestellt wird, also einen eigenen Sinn und Willen hat. Es ist vorwitzig, dieser Ausdruck ist tadelnd gemeint, hat im damaligen Sprachgebrauch aber auch aufschlussreiche Konnotationen. Grimms Wörterbuch der deutschen Sprache eröffnet dazu folgendes Bedeutungsfeld: ‚neugierig, wiszbegierig‘, meist mit der bedeutungsrichtung auf ‚keck forschend, neuigkeitssüchtig‘, vermessen-wissensdurstig in verborgenes eindringend. Trotzend dem rigorosen elterlichen Verbot und missachtend das vierte Gebot „Du sollst Vater und Mutter ehren“, wagt sich das Mädchen doch zur Frau Trude. Dabei erblickt sie nacheinander drei Männer, die ihr Schrecken einjagen. Diese Männer stehen für vernichtende Verwandlung: als schwarzer Mann ein Köhler, der Holz zu Kohle verbrennt; als grüner Mann ein Jäger, der Wildtiere tötet; als blutroter Mann ein Metzger. Und als grausigen Höhepunkt sieht sie statt der Hexe selbst den Teufel mit feurigem Kopf.

Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!

(Immanuel Kant, Was ist Aufklärung?)

Jedoch läuft sie nicht ängstlich davon; sie stellt sich der Frau Trude und beantwortet sogar deren Fragen. Mit unsren Augen lesen wir das Märchen anders, als es vor 200 Jahren intendiert war: Wir lesen es als die Geschichte eines Mädchens, das wissbegierig ist, sich nicht von seinem Verlangen nach Aufklärung eines dunklen Geheimnisses abschrecken lässt, eines Mädchens, das im Anblick des Schreckens nicht furchtsam davonläuft und der satanischen Hexe, wenn auch mit Grausen, so doch Rede und Antwort steht. So lesen wir das Märchen heute als die Geschichte eines Strebens nach Selbständigkeit, eines Strebens, das nicht geduldet und bestraft wird.

Es ist nun weiter zu fragen: Wo kommt diese Geschichte her, und wie ist sie in die Sammlung der Kinder- und Hausmärchen der Grimms geraten? Sie ist nach mehreren Kleinausgaben von fünfzig ausgewählten Märchen erst 1837 in die sog. Große Ausgabe aufgenommen worden. Alle diese Ausgaben hat hauptsächlich Wilhelm Grimm betreut, während sein Bruder Jacob sich vor allem wissenschaftlichen Aufgaben widmete.

Vorlage des Märchens war ein Gedicht, das unter dem Titel Klein Bäschen und Frau Trude im Frauentaschenbuch für das Jahr 1823 erschienen war. Als Verfasser war Meier Teddy angegeben, ein Pseudonym, hinter dem sich sehr wahrscheinlich der Schriftsteller Friedrich de La Motte Fouqué verbarg und der zwischen 1815 und 1831 kontinuierlich Beiträge in dem für ein weibliches Publikum bestimmten Frauentaschenbuch veröffentlichte. Dieses erschien seit 1815, war aufwändig gestaltet und enthielt literarische Texte für den gehobenen Geschmack, z.B. Texte neben von de La Motte Fouqué auch von Eichendorff, Kleist, Rückert. Wilhelm Grimm hat die gereimten Dialoge in Prosa umgewandelt und diese kleine Geschichte meisterhaft geformt, hat allerdings, um auf das böse Ende vorzubereiten, gleich zu Anfang zu dem erhobenen pädagogischen Zeigefinger sich bemüßigt gefühlt – dem Mädchen fehlt es an Demut.

DEMUT ahd. deomuotî, mhd. dêmuot, bezeichnet eigentlich die gesinnung eines knechtes, unterwürfigkeit. jetzt bezeichnet demut eine dem hochmut und der selbstüberhebung entgegenstehende anspruchslosigkeit und bescheidenheit, unterwürfigkeit unter den willen gottes.

(Grimm, Wörterbuch der deutschen Sprache)

In den Märchen sind es üblicherweise die Jungen, die sich auflehnen, indem sie sich selbständig und eigenwillig gebärden, meist listenreich, zuweilen auch widerborstig. Bestraft werden sie dafür nicht, im Gegenteil, sie machen ihren Weg zur Mannwerdung. In Frau Trude ist es jedoch ein Mädchen, das die Unterwürfigkeit gegen die Eltern als die Stellvertreter Gottes missachtet. Warum ein Mädchen? Mit einem Jungen würde das Märchen nicht funktionieren. Weshalb nicht? Nun, wir werden sehen.

Warn- und Schreckmärchen für Kinder gab es sicher schon in Antike und Mittelalter, und zweifellos ist, wie in aller Literatur so auch in den Märchen, die Dynamik psychischer Grundkräfte des Menschen, des kindlichen, jugendlichen, erwachsenen, in ihnen eingeschrieben wie Liebe, Hass, Neid, Gier, Rachsucht, Rivalität – aber diese sind keine überzeitlichen unveränderlichen Phänomene, sondern sind bedingt durch die jeweils gegebenen historisch-gesellschaftlichen Verhältnisse. Das psychoanalytische Modell, entwickelt an empirischen Phänomenen der bürgerlichen Gesellschaft, ist für die Deutung dieser Geschichten partiell durchaus ergiebig, muss sich aber immer vor dem kritischen Blick der Philologie bewähren. Obwohl in den Märchen magische Relikte aus früheren Epochen mitgeschleppt worden sind, so transportieren sie keineswegs, wie tiefenpsychologisch und sonst wie esoterisch imprägnierte Märchendeuter phantasieren, uraltes Menschheitswissen, gern als „Urmütterweisheit“ umraunt. Die Grimm’schen Märchen sind, wie ihre französischen Vorstufen, samt und sonders Produkte der bürgerlichen Gesellschaft der Neuzeit, eingebettet in einen konkreten historischen Zusammenhang mit seinen jeweiligen ökonomischen, politischen, religiösen und moralischen Bedingungen. Und dies gilt entschieden für eine pädagogisch sadistische Geschichte wie Frau Trude.

Benjamins Bürste

Auch Märchen zählen, wie Walter Benjamin in seinem Essay Über den Begriff der Geschichte (1940) in der VII These konstatiert, zu den Kulturgütern, die als „Beute … (im) … Triumphzug der Herrschenden, der Sieger der Geschichte, mitgeführt“ werden. Auch diese kleine Geschichte gehört zur Beute, und in ihr zeigt sich das von Benjamin Gemeinte in nuce. Schon die gereimte Verserzählung Klein Bäschen und Frau Trude im Frauentaschenbuch sowie Wilhelm Grimms Prosafassung sind ein Ärgernis. Auch für sie gilt Benjamins Urteil: „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.“ Und Benjamin fährt fort: „Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozess der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den andern gefallen ist. Der historische Materialist rückt daher nach Maßgabe des Möglichen von ihr ab. Er betrachtet es als seine Aufgabe, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten.“

Das ist mit diesem Märchen hier nun geschehen. Und dabei wird der weitere und folgenreichere Skandal offenbar: dergestalt, dass der Prozess der Überlieferung selbst sich als „Barbarei“ im Benjamin’schen Sinne erweist. Denn was, so ist zu fragen, hat die Grimms bewogen, diese grässliche Geschichte in ihre Kinder- und Hausmärchen zu übernehmen?

Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.

(Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht)

Wilhelm Grimm, der Verfasser, liefert selbst den Hinweis mit seiner Frage im Blick auf die Zukunft dieses eigensinnigen Mädchens: Wie konnte es dem gut gehen? In dieser Frage schwingt weniger Sorge um das Mädchen mit als Genugtuung über sein Ende. Dies entsprach dem reaktionären Geist der Zeit, in der die aufklärerischen und humanistischen Bestrebungen der Pädagogik des 18. Jahrhunderts teilweise wieder rückgängig gemacht worden waren. Hatte man bis dahin Kinder als „kleine Erwachsene“ angesehen, so wurde nun die Kindheit als eigener Lebensabschnitt erkannt – zweifellos ein Fortschritt. Anstoß gab dazu Rousseaus Erziehungsroman Émile oder Über die Erziehung von 1762, dessen Ideen sich in Europa rasch verbreiteten. Grundgedanke der Erziehung war allerdings, dass Kinder bei der Geburt eine tabula rasa seien, ein leeres Blatt, das von den Erzieherinnen und Erziehern vollgeschrieben würde. Dadurch erschien der Erziehung alles möglich. (Anders sieht das heute z.B. Steven Pinker: Das unbeschriebene Blatt. Die moderne Leugnung der menschlichen Natur. Berlin 2017)

Abgelöst wurde die christliche durch die bürgerliche Erziehungsideologie. 1779 wurde an der Universität Halle der erste Lehrstuhl für Pädagogik eingerichtet. Maßgeblich wirkte sich auch die jüdische Aufklärung, Haskala, aus mit ihren Ideen der religiösen Toleranz und Gleichberechtigung und mit ihren „Freischulen“, in denen jüdische und christliche Kinder zusammen unterrichtet wurden. (Mit der Wiederherstellung der Fürstenherrschaft auf dem Wiener Kongress 1815 wurde dem wieder der Garaus gemacht.)

Ziel der bürgerlichen Erziehung war, Kinder zu nützlichen Gliedern der Gesellschaft zu formen. An die humanistischen Ideale der Aufklärung knüpfte Wilhelm von Humboldt 1810 mit der Neugestaltung des deutschen Bildungssystems an. Erfolge waren Humboldt an den Universitäten und humanistischen Gymnasien beschieden. Denn man muss sich bewusst machen, dass das humanistische Bildungsideal nur für die oberen Klassen galt. Zu Anfang des 19. Jahrhunderts konnte nur etwa ein Viertel der Bevölkerung ausreichend lesen und schreiben. Das war ein Problem für die sich entwickelnde Wirtschaft, dem die Gliederung des Schulsystems in Volksschulen, Realschulen und Gymnasien Abhilfe schaffen sollte. Das freilich widersprach dem Programm der aufklärerischen Erziehung und diente hauptsächlich der Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse, gestützt durch eine autoritär-militärische Pädagogik. Auch wenn sich die Pädagogik gewandelt hat, so dauert dieses Scheitern der Humboldt’schen Schulreform in Deutschland und Österreich bis heute an. Humboldt selbst, bis 1819 preußischer Minister, wurde wegen seines Protestes gegen die auf der Grundlage der Karlsbader Beschlüsse betriebenen Extremistenverfolgungen und Berufsverbote aus dem Amt gejagt.

Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn;
wer ihn aber liebt, der züchtigt ihn bald.

(Sprüche Salomos, 13,24)

Hauptziele der Erziehung waren Gehorsam gegenüber den Autoritäten, staatlichen, geistlichen, elterlichen, dazu Arbeitsfleiß und Genügsamkeit; bei den Mädchen wurde zudem Wert auf Demut, Unterwürfigkeit und, ein beliebtes Märchen-Motiv, Opferbereitschaft bis hin zur Selbstaufopferung gelegt – allesamt genuin christliche Tugenden, kraft deren die Kirche dem Staat und sich selbst die Frauen gefügig hielt und die Männerherrschaft sicherte. Bernt Engelmann beschreibt in seinem Buch Wir Untertanen. Ein deutsches Geschichtsbuch (Göttingen 1993) die Realität der Erziehung, wie sie sich zu den Zeiten der Grimms darbot, nicht nur im erzreaktionären Preußen (sowie, nicht zu vergessen, Österreich), sondern auch im Königreich Hannover, deren Untertanen sie waren:

Sie (: die Untertanen) sind von Kindesbeinen an zu Kadavergehorsam und Unterwürfigkeit erzogen – im Elternhaus, im Kindergarten, in der Schule, im Konfirmandenunterricht und beim Gottesdienst, in der Lehrzeit und beim Militär, und an allen Erziehungsanstalten mit Hilfe des Stocks.

So genau blickten die Brüder Grimm nicht hin. Gleichwohl gebührt ihnen hoher Respekt, weil sie im Bündnis der Göttinger Sieben 1837 gegen den Verfassungsbruch des Königs protestierten und deshalb von ihrem König Ernst August von Hannover des Landes verwiesen wurden. Dieser König, eine der engstirnigsten und verkommensten Kreaturen, die der Schoß des damaligen Feudalismus gekreißt hatte, reagierte, als Gelehrte wie Alexander von Humboldt ihm klarzumachen versuchten, wie sehr er mit der Vertreibung der Wissenschaftler dem Lande schade, auf deren Vorhaltungen mit den Worten: „Professoren, Huren und Balletttänzerinnen kann man überall für Geld haben.“

Der Protest der Grimms speiste sich aus einer redlichen konservativen Empörung über den eklatanten Rechtsbruch. Der Elan liberaler Zeitgenossen beim Kampf um Freiheitsrechte ging ihnen ab; ihr Blick richtete sich auf die Vergangenheit, wie Ludwig Tieck ihn wies: Mondbeglänzte Zaubernacht, / Die den Sinn gefangen hält, / Wundervolle Märchenwelt, / Steig auf in der alten Pracht. Vom romantischen Geist in Dichtung und Philosophie ihrer Zeit ergriffen, beseelte die Grimms der Wunsch, in den frühen Dichtungen die vermeintlich reine, aus dem „Geist des Volks“ entsprossene Poesie aufzufinden. Die Rollenverteilung unter den Brüdern war so: Jacob der akribische Philologe, er gilt als „Vater der Germanistik“, Wilhelm, der Gefühlvolle und Poet. Es war freilich zunächst vor allem Jacob, der die Erzählungen seiner Gewährsleute aufgezeichnet hatte. Diese waren Frauen aus der gebildeten bürgerlichen Oberschicht mit französisch-hugenottischen Wurzeln in Kassel, aber auch eine Wirtshaustochter aus der Nähe war darunter, die viele Geschichten, erzählt von reisenden Händlern, Handwerkern, Fuhrleuten im Gedächtnis behalten hatte.

Jacobs handschriftliche Aufzeichnungen, gefunden um 1920 im elsässischen Kloster Oelenberg, sind in einem trockenen Berichtstil gehalten, einem Stil, der noch, wenn auch literarisch geglättet, die von ihm selbst besorgte Erstausgabe von 1812 mit ihrem spröden, hölzernen Duktus prägt. Die späteren Ausgaben sind vom Bruder Wilhelm besorgt, der die Märchen erheblich bearbeitet hat, indem er zur Ausschmückung und spannenden Gestaltung allerlei populäre Motive in sie eingebaut, dazu erhebliche Veränderungen vorgenommen hat und dabei, wie der Märchenforscher Heinz Rölleke ungeniert formuliert, „mit philologischer Skrupellosigkeit“ vorgegangen ist. In der Märchenforschung ist daher die ernüchterte Definition vorherrschend: Grimms Märchen sind das, was die Grimms daraus gemacht haben.

In diesen Volks-Märchen liegt lauter urdeutscher Mythus, den man für verloren gehalten.

(Wilhelm Grimm, Vorrede zur 2. Auflage der Kinder- und Hausmärchen, 1815)

Es ist vor allem der Stil, der die Grimm’schen Märchen so einzigartig macht: der innige, gemütvoll-trauliche Ton, der sie von allen europäischen Volksmärchen unterscheidet. Die Grimms hatten eine romantisch verklärte Vorstellung vom Märchen: Märchen als von der Zivilisation noch „unverdorbene“ Poesie aus der „Jugendzeit“ des Volks. Nach diesem Ideal hat Wilhelm Grimm die dürren Überlieferungen stilisiert: Rekonstruktionen imaginierter Volkspoesie, volkstümlich kostümierte Kunstmärchen. Der Däne Hans Christian Andersen sollte das virtuos fortsetzen.

Auch das Märchen Frau Trude ist ein Kunstmärchen: das gereimte Gedicht eines zeitgenössischen Literaten, von Wilhelm Grimm zu einem vermeintlichen Volksmärchen umgemodelt. Doch kommt sowohl im Gedicht als auch im schlichten Märchen die schwarze Pädagogik jener Zeit drastisch zum Ausdruck. Wer diese Art Märchen braucht, hat Franz Schandl einmal lapidar auf den Punkt gebracht: „Nicht Kinder brauchen Märchen, sondern Bürger.“ (krisis 31,167) Denn das ist der un-heimliche Zweck sowohl der Produktion dieses Märchens als auch dessen Überlieferung: die Wärme des Binnenklimas der bürgerlichen Kleinfamilie zu sichern mittels der Drohung einer grausamen Bestrafung bei Unbotmäßigkeit. Wo dieses warme Binnenklima zu finden sei, weiß einer der Vordenker der romantischen Dichtung:

Willst du die Menschheit vollständig erblicken, so suche eine Familie. In der Familie werden die Gemüter organisch eins und eben darum ist sie ganz Poesie.

(Friedrich Schlegel, Athenäums-Fragmente)

Aus diesem gemütvoll beheizten Käfig bricht in Frau Trude ein Mädchen aus. Und wird verheizt. Das Schlegel’sche Idyll erscheint später einem andern, weniger romantisch Gestimmten, als Schreckensort:

Die ganze Familienideologie ist ein sehr regressives Konzept. Die großen Werke der Weltliteratur handeln nicht von Familienglück, sondern von Familienhorror.

(Jack Nicholson, Teufel, Joker, Psychopath)

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