Leviathan als Famulus

Vorläufige Bemerkungen zur Demontage des bürgerlichen Staates

von Emmerich Nyikos

1.

Was ist der bürgerliche Staat oder was ist er bis vor kurzem gewesen? Ist man gewillt, ein Konzept Jean-Jacques Rousseaus aus seinem Contrat social in Betracht zu ziehen, so könnte man sagen: Der bürgerliche Staat ist die volonté générale der Bourgeoisie.

Dieses Konzept Rousseaus, das wir hier verwenden wollen, hat das Bemerkenswerte an sich, dass es zu unterscheiden erlaubt zwischen zwei gänzlich verschiedenen Dingen: der volonté générale auf der einen und der volonté de tous auf der anderen Seite. Ersterer Begriff, der „allgemeine Wille“, fällt dabei eben nicht mit dem letzteren zusammen, also nicht mit der Summe der aparten „Willen“. Er bezieht sich mithin auf das Ganze oder, wenn man so will, auf das System, das eben nicht die Summe seiner Teile ist, wie schon Aristoteles und nach ihm Hegel hellsichtig festgestellt hatten.

Angewandt auf den bürgerlichen Staat, würde sich ergeben: Der Staat als bürgerlicher, als volonté générale der Bourgeoisie, steht über sämtlichen aparten Kapitalentitäten, er vertritt mithin die gemeinsamen Belange der Klasse, die mit dem integralen „Gedeihen“ der kapitalistischen Ordnung ident sind. Was im Zentrum der Aufmerksamkeit des bürgerlichen Staats steht, ist somit die Performance des kapitalistischen Gesellschaftssystems, des Systems der Produktion von Profit auf der Basis des bürgerlichen Privateigentums, sowohl in historischer – Absicherung des Überlebens dieses Gesellschaftssystems als solchen gegenüber allen Versuchen seiner Überwindung – als auch in systemischer Hinsicht: nämlich Funktionsgewährleistung im Sinne des optimalen Arrangements der Rahmenbedingungen für die kapitalistische Produktion von Profit.

Im Besonderen handelt es sich dabei um die Bewahrung der gegebenen Ordnung, d.h. des Privateigentums an den Produktionsmitteln als Kern dieser Ordnung – was überhaupt die zentrale Aufgabe jeglichen Staats ist –, dann aber auch um die Sicherstellung des (mehr oder weniger) reibungslosen Ablaufs der profitproduzierenden Produktionsprozesse – und zwar auf gesamtgesellschaftlicher Stufenleiter – durch die adäquate Gestaltung der Systemumgebung, sowohl mit Bezug auf interne Regelungen (Gesetzgebung, Auflagen, Subventionen, Rechtssicherheit usw.) als auch mit Bezug auf die Beziehung nach außen (Erleichterung des Rohstoffimports und des Warenexports, Schutzzoll, generelle Förderung der Kapitalexpansion auf allen Niveaus, Kolonial- und Kriegsaktivitäten inklusive).

Um es nochmals zu sagen: Dem bürgerliche Staat geht es zuvorderst um die Bewahrung und das Prosperieren des Gesamtsystems, um die Belange der Klasse der Bourgeoisie, nicht um das Gedeihen dieses oder jenes Kapitalfragments, dieser oder jener Firma. Das kann so weit gehen, dass der bürgerliche Staat, sofern es umdie Belange der Klasse als solcher zu tun ist, gegen die Belange einer jeden beliebigen Kapitalentität auftreten kann, ja sogar, sollte es notwendig sein, gegen die besonderen Belange aller aparten Kapitale zusammen.

Das Personal des bürgerlichen Staates, d.h. die Funktionärselite desselben, muss sich dabei überhaupt nicht aus der Klasse der Bourgeoisie selbst rekrutieren. Ganz im Gegenteil, das sieht man gar nicht so gerne, wie zuletzt im Fall Donald Trumps zu beobachten war. Zu den perfekten Organisatoren des bürgerlichen Staats muss man, sobald die Aristokratie keine nennenswerte Rolle mehr spielt, vielmehr die Sozialdemokratie in ihrer klassischen Ausprägung zählen, die, um die Belange ihrer Klientel (innerhalb des bürgerlichen Systems) bedienen zu können, zuallererst das Funktionieren dieses Systems, seine Stabilität und Prosperität, garantieren muss. Denn wenn das System nicht „funktioniert“, d.h. „prosperiert“, dann kann auch nicht „umverteilt“ werden, und ein welfare-System, wie wir es bis vor kurzem noch kannten, würde lediglich eine Absichtserklärung und ein Wunschtraum, der nicht zu erfüllen ist, bleiben.

2.

Diese zwei Funktionen des bürgerlichen Staats, von denen wir soeben sprachen – die Sicherung des Privateigentums als Basis der Gesellschaftsordnung auf der einen und die optimale Gestaltung der Rahmenbedingungen des Systems der Profitgewinnung auf der anderen Seite –, sind, was ihre Gewichtung betrifft, historisch ungleich verteilt: Ursprünglich überwog die erste der beiden Funktionen, wobei das viktorianische England (insbesondere unter William Gladstone) als Prototyp gelten kann: Es dominierte das laissez-faire, laissez-passer, wobei der liberale Staat sich selbst als „Nachtwächterstaat“ imaginierte – und auch als solcher auftrat –, als ein Staat, der sich scheut, sich in die Produktion von Profit einzumengen, und diesen profitgenerierenden Prozessen weitestgehende „Freiheit“ gewährt.

Das gilt im Prinzip dann auch, bis zu einem bestimmten Punkt wenigstens, für die externen Belange der britischen Bourgeoisie (die britische Kolonialmacht in Indien etwa war bis 1858 eine Angelegenheit der East India Company, einer privaten Kapitalgesellschaft), auch wenn mit Benjamin Disraeli sich das bald ändern sollte. Aber auch mit Blick auf die internen Rahmenbedingungen der Produktion von Profit sollte der liberale Staat früher oder später vom Konzept des absoluten laissez-faire, der „Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der Bourgeoisie“ sozusagen, nach und nach Abstand nehmen, was darin zum Ausdruck kam, dass erste Arbeitszeitgesetze erlassen werden mussten, um die allmähliche Zerstörung der gesellschaftlichen Arbeitskraft zu stoppen, eine Degeneration der menschlichen Substanz, die nicht nur die Produktionsprozesse langfristig in Mitleidenschaft gezogen haben würde, sondern natürlich auch die „Wehrfähigkeit“ des British Empire und damit seine imperialen Ambitionen.

Die zweite Funktion des bürgerlichen Staats – die Regulierung der Rahmenbedingungen des bürgerlichen Systems – trat somit mehr und mehr in den Vordergrund, auch wenn beide funktionalen Aspekte nicht fein säuberlich getrennt werden können, wie man gleich noch sehen wird.

Dieser relative Wechsel in der Gewichtung sollte dann seinen Höhepunkt nach dem Zweiten Weltkrieg in den Metropolen des kapitalistischen Globalsystems erreichen, wobei hier vielleicht eher von der Überlagerung oder der „Verschmelzung“ beider Funktionen die Rede sein sollte. Denn, dummerweise für die Bourgeoisie, ist das kapitalistische System mitnichten vor Krisen gefeit, Krisen, die nicht nur die Produktion von Profit empfindlich tangieren, sondern unter Umständen auch das System selbst in seinem Bestand in Gefahr bringen können.

Nun sind solche Krisen einmal mehr, einmal weniger markant ausgeprägt (ganz zu schweigen davon, dass der Charakter dieser Krisen sich substantiell in einer historischen Abfolge ändert), die „klassische“ Krise schlechthin, die von 1929ff., indessen muss nicht nur als heftig, ja markerschütternd, sondern sogar als für das System „lebensbedrohlich“ eingestuft werden – oder sie wurde so wenigstens von nicht wenigen bürgerlichen Akteuren, wie etwa John Maynard Keynes, eingeschätzt (wobei zu bemerken wäre, dass hier eher die Gefahr einer Wiederholung im Zentrum der Befürchtungen stand).

Um es so kurz wie möglich zu machen: „Klassische“ Krisen (im Gegensatz zu solchen in den Anfangsphasen des Systems, die durch simple „Überproduktion“ im dominanten Sektor gekennzeichnet sind, sowie den post-modernen Krisen, deren Basis Kredit und Überschuldung ist), „klassische“ Krisen also beruhen auf dem, was man „Überakkumulation“ nennen könnte, auf dem Auseinanderdriften mithin von Produktions- und Konsumtionsmittelsektor, ein Ungleichgewicht, das sich einerseits der systemimmanenten Akkumulationstendenz des Kapitals und andererseits der Beschränkung der konsumtiven Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft verdankt, die ihrerseits letzten Endes auf dem Profitmotiv und den intrinsischen Funktionsprinzipien der kapitalistischen Gesellschaft beruht (auf der Tendenz der Löhne zu stagnieren, auf der einen, sowie auf dem systembedingten Akkumulationsdrang des Kapitals, das die unproduktive Luxuskonsumtion der Bourgeoisie bis zu einem bestimmten Punkt limitiert, auf der anderen Seite). Diese „Überakkumulation“, die (relative) Abkopplung des Produktionsmittel- vom Konsumtionsmittelsektor, kommt nun aber darin zum Ausdruck, dass Produktionsmittel hergestellt werden, die nur wieder dazu dienen, Produktionsmittel zur Produktionsmittelproduktion zu erzeugen und so immer fort.

Es versteht sich von selbst, dass ein solches Ungleichgewicht nicht ewig fortdauern kann, sodass ein gewaltsamer Ausgleich, mithin eine Krise, früher oder später unvermeidlich wird. Denn dann, wenn sich die Produktionsmittelproduktion, die auf spekulativer (profitabhängiger) Nachfrage gründet – das Kapital fragt immer nur dann Produktionsmittel nach, wenn es darauf rechnen kann, den üblichen Profit zu erzielen –, sich von der Konsumtionsmittelproduktion, die sich auf eine definitive Nachfrage stützt, einmal (relativ) abgekoppelt hat, dann kann ein selbst unbedeutender Anstoß das Kartenhaus zum Einsturz bringen, insofern dadurch unvermeidlicher Weise eine Kaskade des kumulativen Schwunds von Absatzchancen ausgelöst wird: Fällt im Produktionsmittelsektor in dem einen Segment zufällig die Nachfrage weg (oder vermindert sich signifikant), dann wird sich diese auch in einem anderen Segment desselben Sektors reduzieren (nämlich in demjenigen Segment, das die Produktionsmittel für das erstere liefert), denn wenn hier nicht mehr (oder viel weniger als zuvor) produziert wird, dann wird dort nicht mehr (oder viel weniger als zuvor) nach Produktionsmitteln (für dieses erstere Segment) nachgefragt – und das Volumen der Produktion verringert sich auch dort. Und so immer fort.

Da nun aber der Produktionsmittelsektor (die Abteilung I) sich vom Sektor der Konsumtionsmittelproduktion (der Abteilung II) relativ abgelöst hat, kann die definitive Nachfrage, die sich auf Konsumtionsmittel, Lohngüter vor allem, bezieht und die nur von den Löhnen (und den Dividenden) abhängt (sowie dann in gewissem Umfang natürlich auch von den Steuern), keine ultimative Barriere für diesen Absturz sein. Im Prinzip ist es nämlich so, dass diese Nachfrage sich auf den Produktionsmittelsektor via der Nachfrage nach Produktionsmitteln aus dem Konsumgütersektor immer auch indirekt auswirkt und letzten Endes als das backup, die nicht spekulationsabhängige Basis der Nachfrage nach Gütern aus der Produktionsgüterabteilung fungiert. Bei einem Ungleichgewicht zwischen den beiden Sektoren jedoch kann die definitive Nachfrage natürlich dann den Absturz der Produktion im Produktionsmittelsektor nicht stoppen – oder wenigstens attenuieren, wenn sie ihn schon nicht im Keim ersticken kann.

Verschlimmert wird die Sachlage schließlich noch dadurch, dass mit dem Wegfall der Nachfrage nach Arbeitskraft im Produktionsmittelsektor infolge des Produktionsausfalls und mit der dadurch bedingten Entlassung von „Händen“ auch die Nachfrage nach Gütern im Konsumtionsmittelsektor in Mitleidenschaft gezogen werden wird – denn die globale Lohnsumme wird dadurch signifikant reduziert –, was auch hier zu Produktionsdrosselung und zu Entlassungen führt, sodass die Krise unvermeidlicher Weise allgemein wird. Eine Spirale nach unten ist so auf der Basis des Ungleichgewichts in Gang gesetzt worden, die – im Falle der Krise von 1929ff. – schließlich in einer Großen Depression münden sollte.

Diese Krise und diese Depression hatten indessen fatale Konsequenzen über den Absturz der globalen Produktion weit hinaus: Massenarbeitslosigkeit, faschistische Regime und schließlich der Weltkrieg, Kulminationspunkt der innerimperialistischen Auseinandersetzungen und zugleich der Versuch, die Sowjetunion, ein aus dem globalen System herausgefallenes Land, wieder in dieses einzugliedern, d.h. in eine Kolonie sans phrase zu verwandeln.

Angesichts dessen musste man, als der Krieg dann doch zu Ende war und sich die Nebel der Verwüstung endlich gelichtet hatten, auf Seiten der Bourgeoisie durchaus Befürchtungen hegen, dass das System der bürgerlichen Produktion eine second edition einer solchen Krise kaum überleben würde. Daraus ergab sich dann die diffuse Bereitschaft der Bourgeoisie, ja sogar der Impuls auf Seiten des bürgerlichen Staatspersonals, die „Staatsintervention“ zur offiziellen Doktrin zu erheben.

3.

Die Disposition zur „Staatsintervention“ ist freilich die eine, die konkreten Formen, die diese Intervention annehmen sollte, dagegen eine andere Sache. Diese Formen ergaben sich nun allerdings ganz spontan aus der besonderen historischen Lage, in der sich die Welt, oder genauer: das Zentrum der Welt, nach dem Weltkrieg befand:

Einerseits hatte die organisierte Arbeiterklasse essentiell an Macht und Durchsetzungsvermögen gewonnen, speziell da, wo der bewaffnete Widerstand gegen die deutsche Okkupation vornehmlich von Organisationen der Arbeiterklasse organisiert worden war (Résistance, Resistenza), aber auch aus ganz profanen Gründen: aufgrund der Kriegskonjunktur und damit des full employment, wie dies vor allem in den Vereinigten Staaten der Fall war. – Die Arbeiterklasse ging fast überall gestärkt aus den Turbulenzen hervor.

Andererseits hatte die Sowjetunion, weit davon entfernt, im Krieg als Staat eliminiert und in eine Kolonie sans phrase verwandelt worden zu sein, nicht nur, fast im Alleingang, diesen Krieg gegen das Deutsche Reich gewonnen, die Rote Armee war nunmehr auch überall in denjenigen Ländern präsent, die man in Jalta ihr nolens volens als „Einflusszonen“ hatte überlassen müssen. Es versteht sich von selbst, dass man das auf Seiten der USA, Englands und anderer kapitalistischer Staaten schon bald bereuen sollte, was den Startschuss gab, einen neuen, dieses Mal jedoch „kalten“ Krieg zu beginnen, im Zeichen von containment and roll back.

Dies hatte einerseits zur Folge, dass infolge des Drucks der Arbeiterklasse

1. einige Sektoren des Produktivsystems (Energie, Verkehr usw.) verstaatlicht und somit der direkten Verfügungsgewalt der Kapitaleigentümer entzogen,

2. Regulierungsmaßnahmen gesetzlich verankert,

3. die Staatsbeschäftigung ausgeweitet und schließlich

4. Transferleistungen der verschiedensten Art institutionalisiert worden sind.

Dies war die Stunde der Geburt dessen, was man in der Folge als welfare-state anpreisen sollte.

Dass dieser sich jedoch über einen längeren Zeitraum hinweg halten und sich somit verstetigen konnte (selbst als der Druck von Seiten der Arbeiterklasse dabei war, sich mehr und mehr abzuschwächen), das hat mit dem Kalten Krieg zu tun: Im Rahmen dieses Krieges, dessen, was man „Systemkonkurrenz“ genannt hat, war es nämlich angezeigt, sich in allen Belangen dem „Gegner“ als überlegen zu erweisen, d.h. nicht zuletzt sich selbst zu beweisen, dass man moralisch über dem Antagonisten auf der anderen Seite des „Eisernen Vorhangs“ stand. Der Ausbau des welfare-state in den Jahrzehnten nach dem Krieg war hauptsächlich diesem Umstand geschuldet. Es schien, als ob man sich da gegenseitig übertrumpfen wollte. – Im Übrigen gilt das nicht weniger auch für die „bürgerliche Freiheit“, für freedom and democracy,auf die man sich nicht wenig einbilden sollte (wobei die solide Basis dafür freilich in den „stabilen Verhältnissen“ der Nachkriegszeit zu sehen ist).

Auf der anderen Seite jedoch führte die bloße Existenz der Sowjetunion, der Umstand, dass sie sich aus dem kapitalistischen Globalsystem herausgelöst hatte, sowie die Ausweitung ihres Einflussbereichs (und zugleich ihre Ausstrahlung auf die peripheren Zonen des globalen Systems) geradewegs dazu, dass auf Seiten der USA eine Strategie ausgeheckt wurde (unter Federführung von George F. Kennan, einem der „Architekten des cold war“), die darin bestand, durch eigene Rüstung die UdSSR dahin zu bringen, sich selbst durch Gegen-Rüstung „todzurüsten“. Was dann in der Folge auch wirklich gelang.

Damit war aber auch der warfare-state geboren, der dann in der Folge als „Konsument“ von Rüstungsgütern enorme Waffenarsenale aller Couleur anhäufen sollte, deren geringster Teil indessen auch klassisch-militärisch eingesetzt wurde – sieht man von den „Interventionen“ an der Peripherie (Korea, Vietnam usw.) ab.

Die unbeabsichtigte Konsequenz all dessen jedoch war, sowohl des welfare- als auch des warfare-state, dass durch die dadurch bedingte Steigerung des Staatskonsums (indirekt über Staatsgehälter respektive Transfers, direkt durch den Ankauf von spezifischen Waren, wie eben Panzer, Raketen und Bomber) auf der Basis von Steuern, hauptsächlich aber von Steuern auf den Profit – im Verein mit Lohnsteigerungen infolge des full employment (nicht zuletzt bedingt durch staatliche Beschäftigung) – das der Akkumulation zur Verfügung stehende Surplus oder genauer: der akkumulierbare Mehrwertanteil tendenziell reduziert werden sollte, was logischerweise zur Dämpfung der Tendenz zur Überakkumulation, auf der – wie wir sahen – die „klassischen Krisen“ basieren, geführt hat. Zudem dürfte wohl auch die Verstaatlichung einiger Branchen, vornehmlich auch solcher im Produktionsmittelsektor (und damit der Umstand, dass sie der profitgetriebenen Akkumulationstendenz entzogen worden sind) zusätzlich noch zu dieser Dämpfung beigetragen haben.

Das aber ist der wahre Grund für die säkulare „Prosperität und Stabilität“ (und in der Folge für das Steigen der Löhne bisweilen über den „Wert der Arbeitskraft“ hinaus), für das golden age mithin, wie es von Eric Hobsbawm zutreffend genannt worden ist.

4.

„Prosperität und Stabilität“ im Verein mit dem welfare-state hatten jedoch (für die Geschichte) fatale Konsequenzen: Da sich der Druck auf die Lebensverhältnisse der Lohnabhängigen mit der Zeit abschwächen sollte, da das steigende Lohnniveau das Alltagsleben für breite Schichten einigermaßen erträglich werden ließ, da mit der Reduzierung der Arbeitszeit sich das Lebenszentrum aus der Fabrik (oder der Arbeitsstätte) in die „Freizeit“ verschob, in welcher die Subjekte notwendigerweise fragmentiert und atomisiert sind – so konnte es nicht ausbleiben, dass sich der Grad der Organisiertheit und die Bereitschaft zu kollektiven Aktionen mit der Zeit substantiell reduzierte, sodass am Ende nur mehr eine amorphe Masse übrigblieb, eine Masse ohne Bewusstsein, das über den Alltag hinausgeht, eine Masse, die, demoralisiert wie sie ist, als historisches Subjekt ausgespielt hatte.

Dieser „moralischen“ Degradierung der Arbeiterklasse folgte dann aber auch ihr „physisches“ Verschwinden bald auf dem Fuße, denn mit dem Prozess der Automatisierung der Produktion wurden die Fabriken mit ihrer Maschinendisziplin und der Zusammenballung von Arbeitermassen – der notwendige Kontext für die Generierung von Klassenbewusstsein (in einem umfänglichen Sinn) – nach und nach von Arbeitskraft und ihren Trägern entleert. – Ein historisches Fenster war dabei, sich zu schließen.

5.

Mit all dem aber fiel die historische Bedrohung des Systems des Privateigentums an den Produktionsmitteln weg, ihr memento mori – und zugleich damit stieg die Wehrlosigkeit der unteren Klassen, die die Bahn freigab für ein Schalten und Walten gegen dieselben – ohne Gegenwehr mithin, die Gewicht haben würde. Die erste Funktion des bürgerlichen Staates, die Sicherung des Bestandes der Gesellschaftsordnung als solche, war damit für immer obsolet geworden.

Nicht genug damit: Als Folge der „Stagnationsperiode“ in der Sowjetunion (in den späten Breschnew-Jahren) sah sich der West-Block nicht mehr bemüßigt, sich durch besondere „Aufmerksamkeiten“ den eigenen Populationen gegenüber vom Ost-Block abzuheben – eine Kehrtwende, die sich später dann auch im Bereich freedom and democracy vollzog.

Das ist die historische Basis der neo-liberalen Konterreform einer Thatcher, eines Reagan, eines Kohl nach 1979, der historische Kontext, der eine Rückkehr zum laissez-faire, d.h. zum Wahn, das System des kapitalistischen Privateigentums (verharmlosend „der Markt“ genannt) würde die Dinge schon regeln,schmackhaft werden ließ – eine Fata Morgana, die den Adepten des Systems nach einer relativ langen Zeit der „Prosperität und Stabilität“ eben diese als Tugend des Kapitalsystems selbst erscheinen ließ.

Dieser Rückfall nun, das Hervorholen alter Rezepte, äußerte sich insbesondere in der Form der Privatisierung von Staatseigentum (im Energie-, im Verkehrs-, im Telekommunikations- und in anderen Sektoren), von Deregulierungsmaßnahmen sowie von Steuersenkungen auf den Profit, wobei man letztere als ein Vorgehen ansehen muss, das letzten Endes den Staat der Abhängigkeit von Krediten und der Verschuldung preisgeben sollte, einer Verschuldung, die sich später dann durch Projekte des Wahnsinns (Corona, Klima, Ukraine) zu ungeahnten Höhen aufschwingen wird. – Der bürgerliche Staat gibt, auf lange Sicht, damit das Zepter aus der Hand.

Denn die Deregulierung, die Privatisierung von Staatseigentum sowie die Verschuldung bedeuten nichts anderes als die Kastrierung des Staates. Als ein vom Eigentum entblößter, der Steuerungsinstrumente beraubter und verschuldeter Staat ist er gegenüber den monopolistischen Kapitalagglomerationen buchstäblich wehrlos, während er auf der anderen Seite als Garant des Privateigentums nicht mehr, wie wir sahen, gebraucht wird – was ja überhaupt erst diese Kastrierung historisch möglich gemacht hat. – Das sollte dann eine der Grundlagen dafür sein, dass der bürgerliche Staat als volonté générale der Bourgeoisie durch einen Staat neuen Typs abgelöst wurde, wie wir noch sehen werden.

6.

Ein weiterer Aspekt kommt zu all dem hinzu: die säkulare Tendenz des Kapitals, sich zu globalisieren. Nun, das Kapital hatte schon immer, seit jeher, eine globale Dimension, beginnend mit der kolonialen Expansion im Anschluss an die Explorationen von Colón und da Gama. Der Charakter der globalen Aktivitäten indessen sollte sich mit der Zeit grundlegend ändern. Ursprünglich mehr oder weniger auf Rohstoffimport und Warenexport limitiert, weiteten sich die externen Aktivitäten später dann auch auf den Kapitalexport aus: Einerseits handelte es sich dabei um eine gegenseitige Durchdringung im Zentrum des globalen Systems (das nationale Kapital aus Staat A geht in den Staat B und vice versa), andererseits um einen einseitigen Fluss von Kapital aus den Metropolen in die Peripherien und einen ebenso einseitigen Rückfluss von Profit in die Zentren.

Das jedoch waren nur die ersten zaghaften Ansätze der Globalisierungstendenz: Denn der Prozess der Zentralisierung des Kapitals, ursprünglich auf den Bereich des jeweiligen Nationalstaats beschränkt, griff auf den Globus aus. Die Monopolisierungstendenz, die der kapitalistischen Weise der Produktion inhärent, also systembedingt ist, erhielt somit eine globale, transnationale Dimension, die sich in Allianzen, joint ventures, gegenseitigen Beteiligungen und schließlich auch in Fusionen von Konzernkapital aus unterschiedlichen Ländern manifestiert. Monopolisierungsprozesse fanden von da an mehr und mehr auf transnationalem Terrain statt.

Schließlich erfasste die Globalisierungstendenz dann aber auch noch die Eigentümerstruktur des kapitalistischen Systems: BlackRock, Vanguard, State Street und Konsorten, die so genannten „Vermögensverwalter“ oder „Kapitalsammelstellen“, die „Aktionsgemeinschaften“ der Aktionäre mithin, sind desgleichen globale, transnationale Formationen. Wir haben es hier im wahrsten Sinne des Wortes mit einer transnationalen Bruderschaft der Bourgeoisie, also der Aktionärseigentümer, zu tun.

Mit all dem aber, und das ist der springende Punkt, entzieht sich das Kapital, das nunmehr global ist, dem Zugriff der staatlichen Behörden: durch Steueroasen und „legale“ Steuerflucht, durch die Flexibilität der Verlagerung und den Abzug von Kapital, wann immer es opportun ist, und überhaupt und vor allem durch die Loslösung der Konzerne und Aktionäre aus nationalen Kontexten. Wir haben hier noch eine Grundlage dafür, dass sich der klassische bürgerliche Staat in einen Staat neuen Typs transformiert.

7.

Ein Staat neuen Typs: Denn auf der Basis all dessen ist das integrale Kapital – die Eigentümerstruktur (BlackRock, Vanguard, State Street und Konsorten), die dominanten Kapitalfraktionen auf operativem Niveau, insbesondere die Digital-, Pharma- und Rüstungskonzerne, nicht zuletzt aber auch die Foundations einzelner „philanthropischer“ Multimilliardäre – offenbar in der Lage, sich den Staat auf die eine oder andere Weise unterzuordnen, ihn somit in ein direktes Exekutivorgan und/oder ein Manövrierfeld der Profitgenerierungsmaschine des globalen Kapitals zu verwandeln.

Je nach Geschmack und Gusto können so, weil der Staat nunmehr unter das Kapital subsumiert ist, genuin staatliche Aufgaben (Gefängnisse, Militär [Blackwater, Wagner], Gesundheitssystem, Schulwesen, Pensionen, im Prinzip dann alle Services), durch Privatisierung sans phrase privater Profitgewinnung überantwortet werden, oder der Staat verkauft Infrastruktur, um sie dann wieder zu „leasen“. Zudem ermöglichen public-private-partnerships dem privaten Kapital, Einfluss auf öffentliche Agenden zu nehmen (ganz zu schweigen vom privaten Profit, der dabei generiert werden kann).

Was aber ausschlaggebend ist, das ist, dass durch die elementare Schwäche des Staats gegenüber dem globalen Kapital das Personal dieses Staats mehr und mehr direkt aus dem Kapitalumfeld kommt, wobei die Foundations (oder Vorfeldorganisationen des Kapitals wie das WEF) hier besonders aktiv bei der „Personalvermittlung“ sind. Dort aber, wo es sich um supranationale Körperschaften oder Behörden handelt (EU, WHO usw.), denen immer mehr staatliche Funktionen übertragen worden sind und übertragen werden und die sich für die Besetzung mit „geeignetem Personal“ besonders gut eignen, ist der Impact auch und vor allem über die zumeist projektgebundenen Finanzierungsgelder und/oder über den Lobbyisteneinfluss direkt herstellbar.

Daher ist es nicht zu verwundern, wenn die Aktivitäten der Staaten immer mehr unmittelbar die „Bedürfnisse“ bestimmter Kapitalfraktionen bedienen – und nicht mehr dem Gesamtsystem selbst verpflichtet sind –, wobei andererseits zu bemerken wäre, dass die Grenzen, die der Staatsintervention im klassischen Sinn im post-modernen Stadium des bürgerlichen Systems, das sich in Auflösung befindet, gesetzt sind, dann doch eher eng gezogen sind.

Diese Unterordnung des Staats unter die dominanten Kapitalfraktionen kommt im Übrigen da am deutlichsten zum Ausdruck, wo es sich um die Gesetzgebung einerseits und die staatliche Performance (Repressionsmaßnahmen inklusive) andererseits im Hinblick auf die „Absatzförderung“ ansonsten unverkäuflicher Warensorten sowie den staatlichen Aufkauf solcher Waren handelt: mRNA-Injektionen, PCR-Tests, Masken, Windräder, Solaranlagen, E-Fahrzeuge, Wärmepumpen, Überwachungstechnologie und nicht zuletzt natürlich dann auch immer raffiniertere Waffensysteme.

8.

Die Transformation des bürgerlichen Staates, einst volonté générale der Bourgeoisie, ist somit abgeschlossen: Der Staat wird zum Famulus, die res publica zur ancilla der dominanten Kapitalfraktionen, ein Hand- und Kopflanger mithin, wie ihn Brecht nennen würde, dazu bestimmt, Befehle auszuführen. Man ist versucht hinzuzufügen: nach dem Vorbild von Bananenrepubliken.

Resümieren wir:

1. Diese Transformation konnte geschehen, da der bürgerliche Staat nicht mehr seiner ureigensten Aufgabe nachkommen muss – die Sicherung des Systems des Privateigentums –, insofern sich niemand mehr in der Lage befindet, dieses System in seiner Existenz zu bedrohen, ja niemand mehr auch nur daran denkt, dass die Gesellschaft anders als kapitalistisch organisiert und geregelt sein könnte. Das historische Subjekt, von dem diese Bedrohung, theoretisch wenigstens, ausgehen konnte, ist, da fragmentiert und atomisiert, vollständig assimiliert und in das System integriert. Mehr als die Bereitschaft zu impotenten Protesten und mehr als Krawalle, über die die Bourgeoisie nur müde lächeln kann, ist hier nicht zu erwarten.

2. Der bürgerliche Staat ist mittlerweile hilflos: Er hat sich durch Privatisierung, Deregulierung und Verschuldung der Mittel begeben, die es ihm erlauben würden, als volonté générale aufzutreten.

3. Aufgrund der Globalisierung und der transnationalen Zentralisierungsprozesse kann sich das globale Kapital (die Aktionäre, die operativen Kapitalentitäten sowie die Foundations) überdies dem Zugriff des Staats wirksam entziehen.

4. Überhaupt ist es so, dass aufgrund des Umstands, dass das bürgerliche System in eine Phase eingetreten ist – man könnte sie den post-modernen Endzustand nennen –, wo aufgrund der Automatisierungsprozesse die alten Systemzusammenhänge hinfällig sind und die Performance des Systems somit mehr und mehr chaotische Züge gewinnt, es sowieso einerlei ist, wo und wie und ob der Staat regulierend eingreift. Die diffuse Ahnung, dass dem so ist, dürfte hinsichtlich der konkreten Performance des Staates, die er jetzt an den Tag legt, wohl auch eine gewisse Rolle spielen.

Wen wundert es da, dass das integrale Kapital den Staat gekapert hat, einen Staat, der, wie einst als volonté générale, nicht mehr dem System des kapitalistischen Privateigentums, sondern als direktes Exekutivinstrument, als ein Famulus, bestimmten monopolistischen Kapitalfraktionen, privaten Playern, dient?

Ist aber dadurch, so muss man weiter fragen, nicht jeglicher reformistischen Illusion, ja jeglicher sonstigen Illusion, sei sie altkonservativ oder altliberal, mit Bezug auf den bürgerlichen Staat ein für allemal der Boden unter den Füßen entzogen? Eine Rückkehr zu Zuständen, die es so, wie man sich das imaginiert, überdies gar nicht gegeben hat, kann und wird es jedenfalls nicht geben, weil die Grundlagen dafür schlicht und einfach nicht mehr vorhanden sind.

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