Montagehöllen des Krieges

Zu den aktuellen Konflikten in der Ukraine und im Nahen Osten

von Lorenz Glatz (27.11.23)

Zumindest im Rückblick ist die militärische Konfrontation in der Ukraine eine nicht wirklich überraschende Folge des Zerfalls der „realsozialistischen“ Sowjetunion (1992) und ihrer Satelliten. Es war das Scheitern des Versuchs einer auf die Arbeiterklasse gestützten, von einer Parteielite angeleiteten „nachholenden Modernisierung“ Osteuropas durch eine staatskapitalistische Industriealisierung. Diese hatte ganz ähnliche Folgen für Mensch und Natur wie das Vorbild, blieb aber in der Konkurrenz auf der Strecke. Das Staatskapital wurde schließlich in marktwirtschaftlichen Reformen von den sich in rivalisierende „Oligarchen“ verwandelnden Machthabern privatisiert und der Gesamtstaat samt seinen Bundesgenossen in den inneren Kämpfen der Nationalitäten schlussendlich in fünfzehn Teilstaaten und weitere Splitter zerrissen.

Die DDR ging in der Bundesrepublik Deutschland auf, die Sowjetrepubliken Litauen, Lettland, Estland und die Staaten des von Moskau dominierten „Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (Polen, Tschechien/Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien) wurden von neuen antisowjetischen oder von „geläuterten“ Staatsparteien zum Tummelplatz westlichen Kapitals und einem Reservoir billiger Arbeitskraft gemacht. Bis 2007 waren sie alle in der Europäischen Union versammelt. Über die Erweiterung der NATO waren sich die Außenminister Baker (USA) und Genscher (D) 1990 noch „einig, dass nicht die Absicht besteht, das NATO-Verteidigungsgebiet nach Osten auszudehnen…“ Schon 2004 jedoch reichten EU und NATO deckungsgleich in Estland bis an die russische Grenze vor St. Petersburg heran.

Die Regierung des russischen Vielvölkerstaats büßte nach innen und außen dramatisch an Macht ein, sie hatte fast die Hälfte der Bevölkerung der ehemaligen UdSSR und ein Viertel ihrer Fläche verloren. Erst Putin und seine Mannschaft bremsten ab der Jahrhundertwende diesen Verfallsprozess mit Erfolg ein, indem sie es schafften, die Selbstherrlichkeit der einzelnen Oligarchen notfalls gewaltsam zur erneuten Machtentfaltung des Staats zusammenzuzwingen und auch die Führungen der Völkerschaften „auf Linie“ zu bringen.

Die Aufstände in der Autonomen Republik Tschetschenien und ihrer Umgebung wurden militärisch unterdrückt und die Verwaltung dem zuverlässigen Eigentümer einer Privatarmee übergeben. Georgien gehörte zur „Koalion der Willigen“, die mit der USA 2003 den Irak überfielen, und wurde dafür militärisch massiv aufgerüstet und auf die NATO vorbereitet. Die zu einem großen Teil russischsprachigen Teile Georgiens, Abchasien und Südossetien, wurden abgetrennt und von Russland als selbständige Staaten von seinen Gnaden anerkannt – eine Lösung, die auch bei der Abspaltung Transnistriens von der zum Westen übergelaufenen ehemaligen moldauischen Sowjetrepublik praktiziert wurde.

Bloß das von derselben Clique seit 1994 regierte Belarus blieb trotz Streitigkeiten für Russland eine strategische Pufferzone zur NATO, als „Montagehalle der gesamten Sowjetunion“ wirtschaftlich stark an Russland gebunden und politisch vom Westen zunehmend isoliert.

Zuspitzung in der Ukraine

Eine wesentlich größere Bedeutung für Russland hat jedoch die Ukraine. Sie hat fast doppelt so viele Bewohner wie die übrigen europäischen Splitter der UdSSR zusammengenommen, davon ein großer Teil russischsprachig. Das Land verfügt über Schwerindustrie und Kohlebergbau, aber auch über fruchtbare Landwirtschaft. Und in der Ukraine liegt der Hauptstützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte im gepachteten Hafen von Sewastopol.

In der Krise des Untergangs ihrer „nachholenden Modernisierung“ begann in der Ukraine eine chaotische Auseinandersetzung nicht um die Frage, was mit der Selbständigkeit denn nun anzufangen sei, sondern ob das Land sich an EU und NATO oder auf eine Verbindung mit Russland orientieren solle, und daneben, ob die Krim sich selbständig machen, autonom werden, ukrainisch bleiben oder zu Russland zurückkehren solle , von dem sie 1954 abgetrennt worden war. Die Ernüchterung über das politische Personal, das in der „jungen Demokratie“ in demokratisch-oligarchisch-korrupt-gefälschten Wahlen ans Ruder kam, war groß. Präsident Kutschma war am Ende seiner Amtszeit 2005 mit dem dringenden Verdacht eines Mordauftrags gegen einen kritischen Journalisten konfrontiert.

Sein von ihm als Nachfolger vorgesehener Janukowytsch wurde eines Wahlschwindels bezichtigt und mit Hilfe von US-Dollars und einer „Orangen Revolution“ am Amtsantritt gehindert. Er musste dem den westlichen Geldgebern genehmen Juschtschenko Platz machen, der seinerseits bei der anstehenden Wiederwahl nicht einmal mehr sechs Prozent der Stimmen erreichte und just vom Fälscher der vorigen Wahl, Janukowytsch, ersetzt wurde. Der wurde aber 2014 wegen seines Zögerns, sich wegen der Nachteile im Geschäft mit Russland voll in die Arme der EU zu begeben, durch die Massenmobilisierung des „Euromaidan“ mit rechtsradikaler Beteiligung dazu gebracht, nach Russland zu fliehen.

Der an seiner Stelle gewählte Poroschenko verband Westorientierung mit ukrainischem Chauvinismus. Russisch wurde aus dem öffentlichen Leben verdrängt und eine Föderalisierung des Landes ausgeschlossen, das Land also programmatisch von Russland abgewendet. Die im russischsprachigen Osten und zum Teil auch im Süden des Landes aufbrechende Unruhe führte schließlich im Donbass – zweifellos mit russischer Unterstützung – zum Bürgerkrieg und schuf in Russland eine Stimmung, die der Regierung den Zugriff auf die mehrheitlich russischsprachige Krim erleichterte.

„Without Ukraine, Russia ceases to be a Eurasian empire“, schrieb der US-Präsidentenberater Zbigniew Brzeziński 1997 in seinem Buch „The Grand Chessboard: American Primacy and Its Geostrategic Imperatives“. Aber genau so eine Großmacht zu bleiben oder wieder zu werden, ist das unverhohlene Ziel russischer Politik. Dies zu verhindern und den Abstieg Russland weiterzutreiben, ist die kaum versteckte Absicht des Westens. Den Sinn der Verhandlungen in Minsk um einen Waffenstillstand im Donbass hat die ehemalige Bundeskanzlerin Merkel in verblüffender Offenheit zu Weihnachten 2022 erklärt: „Das Minsker Abkommen 2014 war der Versuch, der Ukraine Zeit zu geben. Sie hat diese Zeit auch genutzt, um stärker zu werden, wie man heute sieht“. Diese Zeit war am 21.2.2022 abgelaufen. Russische Truppen rückten in den schon vom Bürgerkrieg lädierten Donbass vor und ukrainische Soldaten waren schon abkommandiert, um ausgerüstet mit vom Westen auf Kredit gelieferten Waffen den Kopf hinzuhalten für den Machtkampf von Großmächten. Weit über eine halbe Million Menschen haben so in weniger als zwei Jahren das Leben oder dauerhaft ihre Gesundheit verloren.

Ein Silberstreif am Horizont sind zweifellos jene, die sich in großer Zahl dem Krieg entzogen haben. „Der EU-Statistikbehörde Eurostat zufolge sind in den 27 EU-Staaten und in Norwegen, Schweiz und Liechtenstein mehr als 650.000 ukrainische Männer im wehrpflichtigen Alter von 18 bis 60(!) Jahren als Flüchtlinge registriert, …eine enorm hohe Zahl, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die ukrainische Armee laut dem neuen Verteidigungsminister Rustem Umjerow aus 800.000 Soldatinnen und Soldaten besteht“ (Redaktionsnetzwerk Deutschland 18.09.2023). Aus Russland fehlen offizielle Zahlen, aber dass es eine wahre Fluchtbewegung über die Grenzen der Nachbarländer gegeben hat und wohl noch gibt, wird glaubhaft berichtet.

Zuspitzung im Nahen Osten

Die Lösung, das Land für Israel und Palästina entlang der Waffenstillstandslinien von 1967 teilen, wie es der PLO-Vorsitzende Jassir Arafat und der israelische Ministerpräsident Jitzchak Rabin 1993 vereinbart haben, kam nicht zustande. Rabin wurde 1995 bei einer Veranstaltung unter dem Motto „Ja zum Frieden, Nein zur Gewalt“ von einem jüdischen rechtsextremen Jurastudenten und Araberhasser ermordet. Inzwischen sind über 700.000 Juden im von der israelischen Armee kontrollierten bzw. besetzten Westjordanland, in und um Ost-Jerusalem und auf den Golanhöhen auf palästinensischem Gebiet angesiedelt und werden von israelischen Soldaten beschützt. Das Westjordanland ist durch aufwendige Sperranlagen von Israel abgetrennt.

Die Grenze Israels zum Gaza-Streifen wird von einem 65 Kilometer langen, sechs Meter hohen Zaun abgeshlossen. Es gibt Kameras und Radaranlagen, unterirdische Sensoren zum Aufspüren von Tunnelbauten sowie Unterwassergeräte dort, wo der Zaun ins Meer verläuft. Ein- und Ausgang gibt es nur mit israelischer Erlaubnis und Kontrolle, der Übergang nach Ägypten ist gesperrt. Der Luftraum und das Meer wird ebenfalls vom israelischen Militär beherrscht. Flug- und Meereshafen stehen den Bewohnern nicht zur Verfügung. Versorgung mit Gütern, Trinkwasser und Energie ist nur von Israel aus möglich. Bis zu 18.000 Menschen aus Gaza haben oder hatten eine Arbeitserlaubnis in Israel. Rund 250.000 sind in Gaza erwerbslos. (euronews 24/01/2022, Spiegel Ausland 15.10.2023)

Vorangekommen ist Israel andererseits bei Friedensverträgen mit arabischen Staaten. 1979 wurde welche mit Ägypten, 1994 mit Jordanien geschlossen. In den letzten Jahren sind Kooperationsverträge, „Abraham Accords Declaration“ genannt mit den Ölstaaten Katar, Oman, Bahrein und die Vereinigten Arabischen Emirate dazugekommen. Mit dem bei weitem größten, Saudiarabien, war bis zum Überfall der Hamas ein Abschluss in Sichtweite. Was bei allen diesen Erfolgen Israels für die palästinensichen Organisationen das Enttäuschendste war: die sogenannte Palästinafrage, das Schicksal der beim Gründungskrieg Israels geflüchteten und vertriebenen und von den arabischen Bruderstaaten nicht aufgenommenen Menschen und ihrer Nachkommen spielte keine Rolle mehr. Ein militärischer Sieg über die Atommacht Israel ist längst außer Reichweite, und die wirtschaftlichen Möglichkeiten und Profite, die bei guten Kontakten mit Israel winkten, gaben für die kapitalkräftigen Ölscheichs den Ausschlag, noch dazu in einer Situation, wo ihr Bodenschatz in ökologischen Verruf gekommen und neue Anlagemöglichkeiten für ihr Kapital dringend zu suchen sind.

Der Angriff der Hamas vom Gazastreifen aus auf israelische Siedlungen diente offenbar dem Zweck, arabische Regierungen unter Druck zu setzen, und sei es nur über den Umweg, dass als Antwort Israels ein umfassender Angriff auf den Gazastreifen mit einem Vielfachen an Todesopfern, Verwundeten und Schäden an allem Lebensnotwendigen mit großer Sicherheit zu erwarten war und zumindest die Unverhältnismäßigkeit einer zunehmend weit verbreiteten internationalen Ablehnung begegnet ist. Das Ergebnis der Abstimmung der UNO-Vollversammlung über die Aufforderung zu einem Waffenstillstang brachte mit bloß 14 Gegenstimmen (darunter auch die Österreichs) diese Entwicklung deutlich zum Ausdruck. Auch wenn ein Waffenstillstand der Hamas zeitweilig einen Vorteil bringen mag, bleiben Krieg und Sieg ihr Ziel wie das der Führung Israels. „Israel is a country that has no place on our land“, sagt ein Führer der Hamas. „We are fighting human animals, and we are acting accordingly“, der Kriegsminister Israels.

Von Israel ausgehend gibt es jetzt aber ein internationales Auftreten nicht mehr für eine Zweistaatenlösung, sondern für ein „Standing together“ ohne Fahnen und Parolen, für einen Zusammenschluss von Arabern und Juden gegen die Kriegstreiber, gegen die israelische Regierung wie gegen die Hamas und Konsorten. Die Vorstellung von einem friedlichen Zusammenleben eines national-jüdischen und eines national-palästinensichen Staats wird in Frage gestellt. Nation und Staat sind letztlich kein Friedenskonzept, sie tragen Konkurrenz und Krieg in sich wie die Gewitterwolken Blitz und Regen. Das ist durchaus ermutigend.

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