Leeres Zeichen – vergangene Zukunft

Derrida liest Kafkas Vor dem Gesetz

von Hermann Engster

Kafkas Erzählung Vor dem Gesetz ist ursprünglich in den Roman Der Process von 1914/15 eingebaut. Die Hauptfigur Josef K. steht unter einer ihm nicht bekannten Anklage, und er versucht vergeblich zum Gericht vorzudringen, um über seinen Fall Klarheit zu gewinnen. In einem Dom kommt es zu einem Gespräch zwischen ihm und einem Geistlichen, der ihm die Legende vom Türhüter erzählt. Diese erschien 1915 als selbständige Erzählung. Sie ist kurz und geht so:

Vor dem Gesetz

Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. „Es ist möglich“, sagt der Türhüter, „jetzt aber nicht.“ Da das Tor zum Gesetz offensteht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehn. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: „Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.“ Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen tatarischen Bart, entschließt er sich, doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und lässt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche, eingelassen zu werden, und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie große Herren stellen, und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder, dass er ihn noch nicht einlassen könne. Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei: „Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.“ Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununterbrochen. Er vergisst die andern Türhüter, und dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er verflucht den unglücklichen Zufall, in den ersten Jahren rücksichtslos und laut, später, als er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin. Er wird kindisch, und, da er in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe, ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen. Schließlich wird sein Augenlicht schwach, und er weiß nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird, oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange. Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann Der Türhüter muss sich tief zu ihm hinunterneigen, denn der Größenunterschied hat sich sehr zuungunsten des Mannes verändert. „Was willst du denn jetzt noch wissen?“ fragt der Türhüter, „du bist unersättlich.“ „Alle streben doch nach dem Gesetz“, sagt der Mann, „wieso kommt es, dass in den vielen Jahren niemand außer mir Einlass verlangt hat?“ Der Türhüter erkennt, dass der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: „Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“

Die Erzählung ist voller Rätsel. Auf sie trifft Adornos Wort zu: „Jede Zeile spricht: deute mich, und keine will es dulden.“ Der Erzähler nimmt eine auktoriale (: allwissende) Erzählperspektive ein. Er berichtet aber nichts über das Innenleben der beiden Figuren, er weiß im Grunde auch nicht mehr als der Leser und geht auf die zentralen Fragen der Geschichte nicht ein, als da sind:

  • Was bedeutet das Gesetz?
  • Wie ist die Präposition „vor“ zu deuten: räumlich, zeitlich?
  • Weshalb will der Mann vom Lande – und wer ist er? – zum Gesetz gelangen?
  • Der Türhüter als Repräsentant des Gesetzes befindet sich ebenfalls „vor dem Gesetz“. Ist er außerhalb des Gesetzes? Er sei, sagt er, nur der unterste Türhüter, und nach ihm folgen mächtigere, deren Anblick nicht einmal er ertragen könne. Er kann also selbst auch nicht zum Gesetz durchdringen. Woher bezieht er seine Autorität?
  • Die Tür zum Gesetz steht offen, und grundsätzlich ist dem Mann vom Lande der Zutritt gestattet – nur eben „nicht jetzt“, wie der Türhüter verfügt. Wann dann?
  • Weshalb unternimmt der Mann im Verlauf seines ganzen Lebens keinen Versuch, durch die Tür zu treten?
  • Warum war diese Tür nur für ihn bestimmt?

Die Erzählung hat eine Fülle von Interpretationen hervorgerufen: existenzphilosophische, theologische, psychoanalytische, soziologische, semiologische, tiefenpsychologische etc. – es sind sage und schreibe zweihundert verschiedene, sodass die Literaturkritikerin Susan Sontag spöttisch von einer „Massenvergewaltigung Kafkas durch die Germanistik“ sprach. Das ist freilich, mit Verlaub, nicht dieser anzulasten, sondern Kafka selbst.

So sei es erlaubt, diesen Deutungen eine weitere hinzufügen, immerhin eine solche, die zu den modernsten und avanciertesten gehört und die auch für die Leserinnen und Leser der Streifzüge von Interesse sein könnte: die Deutung von Jacques Derrida.

Er hat sie 1999 in seinem Essay Préjugés. Vor dem Gesetz vorgelegt (Edition Passagen). Das Wort préjugés bedeutet „Vorurteile“. Das Wort wird hier neutral gebraucht. Derrida verwendet es in dem Sinne, dass alle Urteile wie z.B. über Literatur im Grunde Vorurteile sind, welche den Sinn eines Werks stets verfehlen. Denn letztlich bleibt die Suche nach einem Sinn im Werk immer vergeblich. In dieser Perspektive sollen alle Urteile über Literatur auseinandergenommen – „dekonstruiert“ – werden.

Derrida unterzieht den Text also einer dekonstruierenden Lektüre. Es geht dabei nicht darum, im Text einen vom Autor vorgefertigten Sinn zu entschlüsseln, sondern durch die Lektüre überhaupt erst Sinn zu erschaffen. Und zwar aufgrund der Autonomie des Textes, seiner Autonomie gegenüber sowohl dem Autor als auch dem Leser.

Das ist in Derridas spezifischem Textbegriff begründet. Vorrang hat für Derrida nicht das mündliche Wort, sondern das schriftlich fixierte. Das gesprochene Wort ist flüssig, das geschriebene fest. So beruht Sprechen eines Textes letztlich auf der Schrift. Ein Autor schreibt einen Text, indem er Worte und Sinneinheiten aneinanderreiht. Diese sind in ihrer Bedeutung von einer Vielzahl von Bezügen bestimmt. Der Leser liest den Text mit zeitlicher Verzögerung, stellt Beziehungen zwischen ihnen her und deutet sie unter verschiedenen Aspekten. Auch in diesem Akt der Deutung sind die Wörter und ihre Bedeutungen von einer Vielzahl von Bezügen bestimmt, die zwischen dem Autor und dem Leser sich entfalten. So gibt es keine Text-Gleichzeitigkeit zwischen Autor und Leser und keine Überzeitlichkeit der Wörter und ihrer Bedeutungen, sondern die Wahrnehmung des Textes ist bestimmt durch die Verzögerung des Verstehens und die Hemmungen im Verstehen selbst.

So entsteht eine Differenz. Das deutsche „Differenz“ leitet sich her vom französischen différence und dieses vom Verb différer, das zum einen „unterscheiden“, zum andern aber auch „verschieben, aufschieben“ bedeutet. Hier hakt Derrida ein. Durch diese zeitliche Versetzung kommt es zwischen Autor und Leser zu einer Sinnverschiebung. Diese Verschiebung bezeichnet Derrida mit einer neuen Wortschöpfung als différance. Der hintersinnige Witz dabei ist, dass beide Wörter – différence und différance – gleich ausgesprochen werden, aber diese Gleichheit ist nur eine scheinbare und von Derrida beabsichtigt, denn es wird verschieden geschrieben. Diese différance ist für die Sprache und die Lektüre von Texten unausweichlich und entscheidend.

Wir haben hier ein neues Verhältnis oder besser: Zusammenspiel von Autor, Text und Leser vorliegen. Die Rezeptionsästhetik der sog. Konstanzer Schule hat in den 70er-Jahren in der Literaturwissenschaft für Furore gesorgt, indem sie sagte: Der Sinn eines Textes ist nicht fest, sondern entsteht erst in der Interaktion mit dem Leser, der in einer veränderten Zeit neue Fragen stellt, auf die der Text oft unerwartet antwortet, und so ein neues Sinnpotenzial des Textes offenbar wird.

Erfährt hier der Text eine neue Eigenständigkeit und wird zum Subjekt, so geht Derrida in seiner Verwegenheit noch einen Schritt weiter, indem er die Grenze aufweicht und die Auseinandersetzung mit dem Text selbst und innerhalb des Textes selbst zu einem literarischen Diskurs entwickelt. Die Dekonstruktion geschieht durch allerlei Verfahrensweisen: durch assoziativ aneinandergereihte Überlegungen, Abweichungen, Verzerrungen, Wortspiele, Parodien. Die Schrift mit ihrem Vorrang vor dem gesprochenen Wort und ihrer Eigenständigkeit markiert diese zeitliche Differenz – die différance – und damit das Verschieben von Bedeutung, das sich einstellt. Und dies eben aus dem Grunde, weil es keine originale, authentische Bedeutung gibt: keine perfekte Repräsentation, keine unmittelbare Identität von Wort und Sache, oder linguistisch: von Signifikant und Signifikat. Der Text wird zu einer Struktur ohne Zentrum.

Dabei verfährt Derrida folgendermaßen: Er sucht gezielt Paradoxien und Rätsel im Text und in dem auf ihn folgenden literarischen Diskurs auf, ohne sie auflösen zu wollen, sondern lässt sie stehen. Mit diesen Paradoxien sucht er Grenzen im Text und im Diskurs auf, und er zeigt, dass diese Grenzen zum einen notwendig sind, zum andern aber auch unscharf und unbestimmt. Dabei nähern sich wissenschaftlicher und literarischer Diskurs einander an, und die dekonstruktivistische Lektüre wird auf diese Weise selbst literarisch.

Auf dieser Grundlage geht Derrida an Kafkas Erzählung Vor dem Gesetz heran. Die von ihm konzipierte Figur der différance zeigt sich schon in der Formulierung Vor dem Gesetz. Der Titel hat die Funktion, den Text als Erzählung erscheinen zu lassen, und ist zugleich Teil der Erzählung selbst. Die Formulierung Vor dem Gesetz ist also zugleich außerhalb und innerhalb des Textes. Dies ist das erste Paradoxon und die erste Unschärfe.

Das zweite Paradoxon ist: Das Gesetz (oder Recht) kann nur aus sich selbst begründet werden, aus seiner reinen Geltung, nicht durch eine höhere Autorität, Herkunft, Erfahrung oder geschichtliche Entwicklung. Es kann nur logisch-begrifflich, also theoretisch begründet werden. Es ist, mit Kant zu sprechen, ein a priori: Es ist von vornherein da, unabhängig von sinnlicher Wahrnehmung oder historischer Herleitung.

Dieses Paradoxon hat Konsequenzen für die Erzählung selbst. So wie das Gesetz keinen Anfang hat, kann auch, so Derrida, eine Erzählung über das Gesetz keinen Anfang haben, weder räumlich noch zeitlich. Die Erzählung fängt – wie das Gesetz – anfangslos mit sich selbst an. Der Text selbst, so Derrida, ist der Eingang, die Tür zum Gesetz, die offen steht für jeden Menschen, der lesen kann, für den schlichten Mann vom Lande. Enttäuscht werden die Hoffnungen sowohl die des Mannes vom Lande, zum Gesetz zu gelangen, als auch die des Lesers, den Sinn des Textes zu entschlüsseln – und so zum Gesetz zu gelangen.

Das dritte Paradoxon ist das schärfste. Das Gesetz ist, wie schon betont, dadurch bestimmt, dass es nicht historisch, nicht empirisch, nicht durch eine höhere Autorität begründet werden kann, sondern nur aus sich selbst, d.h. logisch-begrifflich. Vor demselben Problem steht eine Erzählung über das Gesetz. Die Konsequenz daraus ist: Die Erzählung muss von diesem unlösbaren Problem selbst erzählen und es selbst ins Werk setzen. Die Erzählung erzählt also nicht wie traditionelle Erzählungen eine Geschichte, sondern erzählt ihr eigenes fundamentales Problem, das sie nur zum Schein in eine Geschichte einkleidet.

Dieses Paradoxon wird einsichtig, wenn man „Gesetz“ durch „Gott“ ersetzt. Wie Gott ist auch das Gesetz unerreichbar und unergründlich. Gott hat keinen Ort, keine Zeit und keine Geschichte. Er gilt aus sich selbst, aus reiner Geltung. Das gilt auch für das Gesetz.

Deshalb sagt Derrida, dass das Gesetz und das Ereignis des Gesetzes – d.h. sein Zum-Vorschein-Kommen – nicht als solche oder an sich erscheinen können. Er schließt sich hier an Heidegger an: Das Gesetz-hafte und das Ereignis-hafte seines Erscheinens können in ihrem eigentlichen Sein nicht als solche erscheinen, sondern erscheinen können immer nur individuelle Ereignisse, individuelle Gesetze und ein bestimmter Gesetzesinhalt. Was also die eigentliche Kraft des Gesetzes ausmacht, warum ein Gesetz universell gelten kann, das kann mithin weder aus dem Inhalt noch durch die Form des Gesetzes begründet werden. Insofern ist das Gesetz „leer“. Die Erzählung Vor dem Gesetz gibt der Leere des Gesetzes Inhalt und Form. Das zeigt zugleich, dass Inhalt und Form der Erzählung, ja, die in ihr erzählte Geschichte selbst, dem „Eigentlichen“ des Gesetzes immer äußerlich bleiben müssen – und damit selber immer nur vor dem Gesetz sind.

Daraus ergibt sich das Problem von Besonderem und Allgemeinem, oder mit Derrida: von Singularität und Universellem. Der „Mann vom Lande“ ist ein Einzelner, er verkörpert die Singularität, er steht dem Gesetz als dem Universellen gegenüber. Kafkas Legende handelt, so Derrida, von dem tragischen Konflikt, dass Singularität und Gesetz einander nicht zu begegnen vermögen. Der Türhüter ist derjenige, der das Gesetz hütet, aber ebenso in dessen Bann steht wie der Mann vom Lande. Beide sind dem Gesetz ausgesetzt, so wie der Mensch dem Universellen (oder wenn man will: Gott) ausgesetzt ist. Sie selbst dürfen das Gesetz selbst nicht anschauen oder dessen Anschauung gar irgendwie erzwingen. Beide sind schuldig gegenüber dem Gesetz (oder Gott), sie stehen beide nur vor dem Gesetz, gelangen aber nicht zu seinem Ursprung, seiner Wirkung, sondern sind dem Offenen des Gesetzes und seiner Wirkung ausgesetzt.

Der Türhüter sagt nicht „Nein“ zum Eintritt in das Gesetz, sondern das Anschauen des Gesetzes und die Erfahrung seiner Wirkung werden aufgeschoben: Es ist möglich, sagt der Türhüter, jetzt aber nicht. Dieser Aufschub der Zeit bis zum Gelangen zum Gesetz ist das Zeitliche oder gar die Zeit selbst. Der vom Türhüter verfügte Aufschub auf unbestimmte Zeit wird zum endgültigen Aufschub, einem Aufschub bis zum Tod des Mannes. Aber selbst wenn der (individuelle) Mann vom Lande oderdas (universelle) man (: jeder von uns) zum Gesetz gelangen sollte, würde sich herausstellen, dass der Mann oder man das Gesetz nicht angetroffen haben wird. Futur II als vergangene Zukunft.

Es gibt das Gesetz, und doch ist es in der ganzen Erzählung abwesend. Das ist ein weiteres Rätsel der Erzählung. Das Gesetz, so Derrida, existiert nicht in der Weise, dass man von ihm sagen könnte „da ist es“. Was aber ist dieses zwar existierende, aber abwesende und gleichwohl Macht ausübende Gesetz? Es ist ein leeres Zeichen. Es ist dennoch kein Nichts, denn es ist machtvoll und übt Macht aus. (Quantenphysiker würden sagen: ein strukturiertes Vakuum, das den Urknall hervorgebracht und das Universum geschaffen hat.)

Ein solches leeres Zeichen ist auch das Gesetz. Es wird im Verlauf der Menschheitsgeschichte konkret ausgefüllt: vom frühesten bekannten Gesetzeswerk des babylonischen Königs Hammurabi über das Gesetzeswerk Solons von Athen, das Römische Recht, Napoleons Code Civil bis hin zu unserem BGB und zur StVO.

Obwohl „leer“, übt dieses Zeichen gleichwohl Macht aus, und dies nicht allein deshalb, weil seine Missachtung bestraft wird, sondern vor allem aus einer fundamentalen inneren Achtung heraus. Es ist diese Achtung, die Kant heraufruft, wenn er fragt: Woher rührt unsere Achtung dem Gesetz gegenüber? Er verzichtet auf eine Herleitung aus einer göttlichen Offenbarung, weil bei der Vielzahl von Religionen jeder etwas anderes darunter verstünde. Für Kant ist das Gesetz „rein“, d.h. es ist nicht autoritativ oder geschichtlich ableitbar, weil es zeitlose Geltung hat und aller Erfahrung vorausgeht: Es ist ein a priori, es war immer schon da. Er schreibt in seiner Kritik der praktischen Vernunft von 1787: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.“ (Hervorh. Kant)

Die Gesetze der Himmelsmechanik und des gesellschaftlichen Zusammenlebens (: das moralische Gesetz) stammen aus einem gemeinsamen Ursprung. Dieser ist gleichzeitig unendlich fern und unendlich nah, oder auch: zu fern und zu nah. Derrida formuliert das Paradoxon: „Es gibt ein Gesetz, ein Gesetz, das nicht da ist, das es aber gibt.“ (Hervorh. Derrida)

Wie wäre dieses Paradoxon, wenn auch nicht aufzulösen, so doch zu verstehen?

Der Türhüter sagt zum Mann vom Lande, nachdem dieser sein Leben lang auf die Erlaubnis zum Eintritt gewartet hat und nun stirbt: Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.

In der ersten Fassung hatte der Türhüter einen Stab, mit dem er den Eintritt verwehrte. Diese strenge Geste hat Kafka gestrichen. Deutlich gemacht wird durch die Streichung, dass dem Mann die Möglichkeit offenstand, durch die Tür zu treten. Aber er tat es nicht. Das bedeutet: Der Mensch muss sich sein Gesetz selber geben. Dass er sich vor dem Gesetz befindet, bedeutet aufgrund des a priori des Gesetzes, dass er schon immer im Gesetz und unter dessen Macht gestanden hat und steht. Davon zeugt ein Signal im Text: Als des Mannes Augenlicht schwächer und es dunkel um ihn herum wird, macht er eine sonderbare Erfahrung: Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht.

„Im Gesetz sein“ ist gleichbedeutend mit „vor dem Gesetz sein“. Im Roman erklärt der Geistliche dem zunehmend verstörten Josef K.: Das Gericht will nichts von Dir. Es nimmt Dich auf, wenn Du kommst, und es entlässt Dich, wenn Du gehst. Der Mensch muss durch die Tür treten, er muss sich das Gesetz selbst geben, er selbst muss das „leere Zeichen“ ausfüllen. Erst durch sein eignes Tun gewinnt „das Gesetz“ seine Kraft.

Man kann es auch theologisch wenden. Ob es Gott gibt oder nicht, macht keinen Unterschied. Wie, wenn – die Religionskritik Ludwig Feuerbachs konsequent zu Ende gedacht – Gott selbst solch ein „leeres Zeichen“ wäre?

Damit ist der Mensch in die Freiheit entlassen und sich selbst überlassen. Sartre zieht daraus die Konsequenz: „Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt.“ Das bedeutet weiterhin: Er ist das, wozu er sich macht; der Sinn seines Lebens ist der, den er ihm gibt.

Wie der Mann vom Lande verharrt auch Kafkas Erzählung selbst auf der Schwelle. Die Schwelle bezeichnet die Situation des Übergangs: das Eintreten oder davor Stehenbleiben. Er muss sich entscheiden, denn, so sagt der Türhüter: Dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.

Weshalb das Gesetz für den Mann vom Lande unerreichbar geblieben ist, erklärt Derrida mit der différance. Diese différance ist in der Erzählung die Macht des Gesetzes. Sie ist unabschließbar, weil sie Tage und Jahre und schließlich bis zum Lebensende des Mannes dauert. Im Warten des Mannes sieht Derrida die Macht der différance als einen Aufschub: als die Entscheidung des Mannes, sich nicht zu entscheiden. Diese Macht bedeutet aber auch einen Aufschub für den Leser, der das Spiel der geheimnisvollen Spuren des Textes nicht zu enträtseln vermag. Für Derrida ist die différance ein „Meta-Gesetz“, das er in der Erzählung Vor dem Gesetz verkörpert sieht.

Derrida setzt in den Préjugés eine Diskussion fort, die er neun Jahre zuvor mit dem Text Zur Kritik der Gewalt von Walter Benjamin aus dem Jahr 1921 in einer eignen Studie Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“ (1991) geführt hat. Es geht Benjamin um die Frage nach der Begründung des durch Gewalt konstituierten Rechts und dessen Verhältnis zur Gerechtigkeit. Hier eröffnet sich für Derrida ein „mystischer Abgrund“, und er schreibt: „Gerade in diesem Nicht-Wissen besteht das Ereignishafte des Ereignisses, das, was man auf naive Weise als dessen Gegenwart, als dessen Vorhandensein bezeichnet.“ Und zu Kafkas Erzählung schreibt er (Gesetzeskraft, S. 78 f.):

Das „Vor-dem-Gesetz-Sein“, das Kafka beschreibt, hat Ähnlichkeit mit dieser zugleich gewöhnlichen und furchtbaren Lage des Menschen, der das Gesetz nicht zu sehen bekommt, (…) der nicht zu ihm gelangen kann: das Gesetz ist nämlich in dem Maße transzendent, in dem der Mensch selbst es unter Gewaltanwendung begründen muss, und zwar als kommendes. (…) Das Gesetz ist transzendent, gewaltsam und nicht gewaltsam, weil es bloß von dem abhängt, der vor ihm steht. (…) Das Gesetz ist transzendent und theologisch, es bleibt immer im Kommen, es ist immer ein Versprochenes, weil es immanent, endlich und folglich bereits vergangen ist. Jedes „Subjekt“ befindet sich im voraus in dieser aporetischen Situation, es ist im voraus deren Gefangener.

Im Gespräch im Dom mit Josef K. belehrt ihn der Geistliche: Richtiges Auffassen einer Sache und Missverstehn der gleichen Sache schließen einander nicht vollständig aus.

Voilà la différance!

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