Euphorischer Überhang

Notizen zu und Erinnerungen an André Gorz

von Franz Schandl

Mein Kontakt zu ihm hatte sich zufällig ergeben. Stefan Meretz wollte André Gorz 2003 zu einem Ökonux-Kongress in Deutschland einladen. Da bekam er zwar eine Absage – Gorz wollte seine kranke Frau nicht mehr verlassen – aber es entstand ein reger Briefwechsel, der sich dann auch bald auf mich ausweitete und bis zu Gorzens Freitod im Herbst 2007 andauerte. Nachzulesen ist dieser Briefwechsel auch auf der Homepage der Streifzüge, siehe: https://gorz.streifzuege.org/

Der Verräter

Um die Vita des in Wien geborenen „Halbjuden“ zu verstehen, muss man sein erstes großes Werk „Der Verräter“ kennen, das 1958 in Paris erschienen ist. Was ist das nun für ein Werk? Es ist keine Autobiographie. Es ist auch kein Roman. Es ist auch kein philosophisches Buch. Aber es hat doch von alledem etwas, braucht keinen Vergleich zu scheuen. Auf jeden Fall ist es das Werk einer Selbstfindung. Wie der Titel sagt, ist es ein Verrat, sein Autor ein Verräter. Er verrät sich selbst. Laufend. Diese Offenheit fügt der Verletzung oft noch die Selbstverletzung bei. Sie ist von einer Unerschrockenheit gegen sich selbst wie gegenüber der eigenen Familie, Vater jüdisch, Mutter arisch. Die Wunden haben gespürt zu werden. Immer wieder geht es um Kindheit und Jugend des Gerhard Hirsch (ab 1930 dann in Gerhard Horst umbenannt) in Ober St. Veit. Er erzählt von seinem Geiz, seiner Liebe zur baren Münze, aber auch von der ausdrücklichen Sympathie des jungen Gerhard für die Nazis, er spricht über seine Identifikation mit dem Aggressor, um den „Rassenmakel“ wettzumachen, den er an sich spürte. Gorz schreibt nicht „Ich“, er schreibt „Er“, wenn er von sich spricht. Er will, ja muss zu sich auf Distanz gehen, um sich überhaupt erreichen zu können. „Ich ist ein Anderer“, behauptet er.

Zweifellos wollte er eines nicht sein, der personifizierte „österreichisch-germanisch-christlich-jüdische Widerspruch“. So beschloss Gorz 1940, und zwar in einem Internat in der Schweiz, wohin ihn seine Mutter gesteckt hatte, Franzose zu werden: „Er hatte die Vorstellung aufgegeben, irgendwo zu Hause zu sein, er hatte seine Familie, seine Kirche, das Reich, Österreich, die Juden, seine Muttersprache, einfach alles verleugnet und beschlossen, das einzige zu sein, was er absolut nicht war: Franzose. Französisch lernen, schreiben, denken (im Jahre 1940, nach dem Zusammenbruch Frankreichs, in einer deutschen Schule französisch zu denken, war eine großartige, selbstzerstörerische Askese, eine durchsichtige Wahl der Nichtigkeit) und alles in der Umgebung verachten, was nicht französisch war.“ 1940 lag Frankreich am Boden, unterworfen von den Deutschen, gedemütigt und geteilt. Gorz hat sich also nicht im Augenblick eines Triumphes, sondern einer Niederlage entschieden, „als es kein Frankreich und im Umkreis von vierhundert Kilometern keinen wirklichen Franzosen mehr gab“.

„Franzose zu sein“, war aber eine Negation und keine Position. Ostentativ hat er das „Franzose sein“ nie vor sich hergetragen, Nationalist war er deswegen keiner. Dieser Bezug ist historisch zu verstehen, nicht als prinzipielles Bekenntnis aufzufassen. Eine Bemerkung Anfang der 1980er-Jahre seinerseits spricht Bände: „Ich habe vier tschechische Großeltern, davon waren zwei jüdisch. Ich bin nicht mehr Franzose als Ludwig Wittgenstein Engländer, Paul Feyerabend Kalifornier und Ivan Illich Mexikaner.“

„Der Verräter“ ist ein reichhaltiges Werk, kein zurechtgeschliffenes, sondern ein ungeschliffenes, überall Flecken und Blessuren und Wunden. Die wahre Stärke kommt aus diesen Schwächen, in denen er sich windet, um sich ihnen zu entwinden. Da wollte sich keiner absichern oder verschanzen. Gerade diese Offenheit des Verrats macht aus Gerhard Hirsch oder Gerhard Horst erst André Gorz. „Der Verräter löscht alles aus und beginnt sich selbst neu: Das verschafft uns heute die Möglichkeit, ein radikales Buch zu lesen“, meint Jean Paul Sartre in seinem Vorwort, jener Sartre, dem Gorz sein Leben lang verbunden gewesen ist: „Ohne Sartre hätte ich wahrscheinlich nicht die Instrumente gefunden, um das, was meine Familie und die Geschichte mir angetan hatten, zu bedenken und zu überwinden.“

Wie zerstört (nicht nur gestört!) sein Verhältnis zur „alten Heimat“ gewesen ist, zeigt eine Episode, die er im „Brief an D.“ beschreibt. Als seine Frau Dorine Deutsch lernen wollte, hat es ihr André glatt verboten. „Ich will nicht, dass Du ein einziges Wort dieser Sprache lernst“, herrschte Gorz sie an, um auf sich selbst bezogen ganz kategorisch nachzusetzen: „Ich werde nie wieder Deutsch sprechen.“ Er hat das auch in den Fünfzigern (zumindest gegenüber der Familie) nicht ganz durchgehalten, aber es zeigt doch seine entschiedene Absicht und wie tief dieser Bruch gegangen ist.

Kontakt nach Österreich oder auch zu kritischen Intellektuellen des Landes hat er weder gepflegt noch gesucht. Indes, man hat ihn auch nicht gefragt. Zumindest ist mir nichts davon bekannt. Auffällig ist, dass Gorz lange nicht in österreichischen Zeitungen publizierte, sieht man von einigen journalistischen Texten unter dem Namen Michel Bosquet im FORVM ab. Unter dem Namen Gorz findet sich dort aber nur ein einziger Artikel zur italienischen Streikbewegung im Jahr 1970. Gorz war sogar noch negativ berührt als Mitte der Nullerjahre – ohne dass man ihn gefragt hätte – ein Beitrag von ihm im Spectrum der Presse erschienen ist. Da wollte er protestieren, was ich verhindert habe. Wien, das war für ihn lediglich der Ort, wo er gelegentlich seine Eltern und fast bis zum Schluss seine Schwester Erika Angerer besuchte. Eine besondere Beziehung zu seiner Geburtsstadt gab es hingegen nicht, man sollte sie ihm auch nicht andichten. In einem Brief an mich schreibt er: „Ich war in Wien nie zu Hause. Bin in Ober-St. Veit aufgewachsen und kam nie [bei A. G. unterstrichen] in die Innere Stadt, in das Kunstmuseum, die Sezession usw. Meine Familie war ganz ‚ungebildet‘, was ich heute von Wien weiß, habe ich in Paris erfahren und dann sehr spät als Tourist besichtigt.“

Ökologie – Wachstum – Arbeit – Kommunismus

Schon früh, Anfang bis Mitte der Siebzigerjahre wandte er sich der Ökologie zu. Die persönliche Bekanntschaft (seit 1973) und sich entwickelnde Freundschaft mit Ivan Illich dürfte hier entscheidend und prägend gewesen sein. Am intensivsten fand diese auch inhaltliche Bezugnahme Ausdruck in der 1974 gegründeten Zeitschrift „Technologie und Politik“, die von Freimut Duve im Rowohlt Verlag herausgegeben wurde. Die Zeitschrift konnte man durchaus als theoretisches Magazin der einsetzenden ökologischen Kritik bezeichnen. Illich und Gorz waren Mentoren dieser Zeitschrift.

Ökologie war für Gorz immanenter Bestandteil seiner Überlegungen, nicht bloß Zusatz. Mit der Wachstumslogik sei zu brechen, Selbstbegrenzung ein Überlebensgebot. Ökologie sei dazu da, „die Kritik des Kapitalismus zu vertiefen und zu radikalisieren“. Exemplarisch dafür steht der bereits 1975 verfasste Aufsatz über das Auto, wo Gorz Ansätze einer Theorie des Staus entwickelt und zur Dialektik der Personenkraftwagen vermerkt: „Letztlich sorgt das Auto für mehr Zeitverluste als für Zeitersparnisse und schafft größere Entfernungen, als es überwindet.“ Da hört man Illich durch.

Industrialismus und Produktivismus hielt Gorz für blindwütig: „Das System konnte nur wachsen und sich reproduzieren, indem es die Warenzerstörung zur gleichen Zeit beschleunigte wie die Warenproduktion …“ „Brauchen wir diesen Konsum? Wollen wir ihn? Ermöglicht er uns, dass wir uns entfalten, miteinander kommunizieren, ein entspanntes Leben führen, freundschaftlichere Beziehungen haben?“ Der Wunsch nach der großen Transformation, der hat sich in den Altersschriften noch verstärkt. In seinen letzten Aufsätzen fordert er eine „Ökonomie der Unentgeltlichkeit“, eine „Antiökonomie“: „Die gegenwärtige Gesellschaft ist nicht die einzig mögliche und ihre Funktionsweise hat nichts von einer objektiven Notwendigkeit an sich.“ „Die große Frage ist: Was wollen wir in und aus unserem Leben machen?“ Schon in seinem Aufsatz „Über das Altern“ (1961) heißt es paradigmatisch, dass das Leben eines nicht sein darf, „dass man nie tut, was man will, und dass man nie gewollt hat, was man getan hat“.

Karl Marx und dessen Kritik der politischen Ökonomie waren zweifellos ein wichtiger Referenzpunkt im Schaffen von André Gorz. In gewisser Hinsicht war Gorz durchaus orthodox geblieben, ohne je linientreu zu sein. Gebrochen hat er jedoch (und da war er seit langem der erste) mit der marxistischen Verehrung der Arbeit und dem Glauben an die revolutionäre Potenz der Arbeiterklasse. Das hat nicht wenige Linke verärgert, die in ihm fortan einen Renegaten sehen wollten. Er resümiert: „Das 1979 erschienene Buch ‚Abschied vom Proletariat‘ war in keiner Weise eine Kritik des Kommunismus, im Gegenteil.“ „Aber der Kommunismus bedeutet weder Vollbeschäftigung noch Lohn für alle, sondern Abschaffung der Arbeit in der gesellschaftlich spezifischen Form, die sie im Kapitalismus hat, das heißt der Arbeit als Beschäftigung, der Arbeit als Ware.“

Gorz schreibt: „Eine strukturelle Komplizenschaft verbindet den Arbeiter mit dem Kapital: für den einen wie das andere besteht das entscheidende Ziel darin, ‚Geld zu verdienen‘, soviel Geld als möglich. Der eine wie das andere halten das ‚Wachstum‘ für ein unabdingbares Mittel, dieses Ziel zu erreichen. Der eine wie das andere sind dem immanenten Zwang des ‚immer mehr‘, ‚immer schneller‘ unterworfen.“ Grundlegend ist für ihn die Identität von Arbeit und Kapital: „Arbeit und Kapital sind aufgrund ihres Antagonismus grundlegend Komplizen, insofern ihr entscheidendes Ziel das ‚Geldverdienenist.“ Die Differenz zwischen Arbeit und Kapital sei lediglich eine auf der Ebene der Verteilung. Als Arbeiter hat der Arbeiter ein Interesse an der Aufrechterhaltung dieses Verhältnisses, nicht an dessen Abschaffung.

Ad Personam

Der Gorz, den ich aus unserem Briefwechsel kennenlernen durfte, war aufmerksam und begeisterungsfähig, war sensibel und selbstkritisch – indes auch leicht beleidigt, und manchmals hat er sich doch in geradezu übertriebener Bescheidenheit verkleinert. Anlässlich seines ersten (und für ihn überhaupt letzten!) Aufsatzes, den er in den Streifzügen veröffentlicht hatte, schrieb er mir im April 2007: „Für die Streifzüge zu schreiben, habe ich mich nie getraut. Ich hab ja von euch viel gelernt und fühle mich weiter nicht ganz reif. Freut mich von Euch/Dir aufgenommen zu werden.“

Insbesondere zeigen die Briefe einen wachen und aufnahmebereiten Geist. Selbstkritik war ihm nie fern, er hatte gar nichts vom eitlen Publizisten. War da etwas zu verwerfen, dann hat er es verworfen, nie hat er getan, als hätte er immer recht gehabt. „In Deinem letzten Brief ging es unter andrem über die Möglichkeit einer Neuausgabe einiger vergriffener Bücher von mir. Ich hab sie mir kurz angeschaut und bin der Meinung, dass sie neben noch Gültigem viel (zu viel) Obsoletes enthalten. Lieber sollte ich versuchen, eine Auswahl von Texten zusammenzustellen, und zwar thematisch geordnet auf höchstens 300 Seiten. (…) Aber es werden Monate vergehen, bevor ich diese Zusammenstellung fertig habe. Solltest Du diesbezügliche Anregungen oder Wünsche haben, wäre ich Dir dankbar dafür. Einige meiner Schriften kennst Du ja besser als ich!“ Da fühlte ich mich überfordert, auch wollte ich nicht Zensor und Richter seines Werkes sein.

Zweifellos hat er lieber geschrieben als gesprochen, Interviews hat er oft abgewehrt, auch als ich eines für den Berliner Freitag vermitteln sollte, hat er abgewiegelt. Es gibt da übrigens ein symptomatisches Video. Wenn ich mich recht erinnere, sitzen drei kettenrauchende Intellektuelle (wahrscheinlich so um 1970) bei einem Interview, deren Redezeit sich in der Sequenz ungefähr so verteilt: Jean Paul Sartre geschätzte 90 Prozent, Simone de Beauvoir 10 Prozent. Der Dritte sagt kein Wort. Trotzdem hat man nicht das Gefühl, dass sich André Gorz hier missachtet oder unwohl fühlt. Es ist ein absolut teilnehmendes Schweigen.

Sein Werk ist alles andere als hermetisch, selbst die einheitliche Monographie war nicht sein Metier. In vielen seiner Bücher finden wir einerseits einen Hauptteil, hinten aber auch immer wieder angehängt diverse Aufsätze. Das waren Gedanken und Überlegungen, die ihm wichtig waren, die er einerseits nicht systematisch einarbeiten, auf die er andererseits aber auch nicht verzichten wollte. So bestehen seine Werke meist aus zwei Teilen, die zwar zusammengehören, sich aber nicht umstandslos ineinanderfügen. Seine Theorie war stets auf die Praxis gerichtet, aber sie war keine Legitimationswissenschaft, sondern sollte als Vorschlag dienen, als Beitrag, als Geschenk. Wichtiger als die Analyse war ihm wohl doch die Intervention. Trotzdem ist Gorzens Werk weitgehend von Polemik frei. Feindschaften pflegte er nicht.

Ist Gorz ein tiefer Denker? Ich würde sagen, unser Sozialphilosoph ist ein weiter Denker gewesen. Und ein radikaler. André Gorz war kein Krieger, aber er hat auch nie Frieden gemacht mit der Herrschaft des Kapitalismus. „Diese schäbige und schmierige Welt am Ende akzeptieren“, war seine Sache nie. Man sieht das insbesondere auch an vielen Schriftstücken, die dem „Verräter“ folgten. Da ist einer stets auf der Suche, einer, der sich auch immer wieder zurücknimmt, streckenweise mehr laviert als postuliert. Kein rücksichtsloser Intellektueller war er fortan, gelegentlich sogar ein etwas vorsichtsloser. Er erlaubte sich zu irren und gab das auch unumwunden zu: „Ich gebe zu, in der Vergangenheit auch viel Blödsinn geschrieben zu haben (z. B. dualistische Wirtschaft)“, schreibt er ganz offen ohne zu relativieren.

An ein Bilderverbot hat André Gorz sich nie gehalten. Stets neigte er dazu, Konzepte zu entwerfen, Perspektiven zu entwerfen, Experimente einzufordern. Nicht, dass Skepsis ihm fremd gewesen wäre, aber in seinen Schriften war André Gorz ein Autor mit einem euphorischen Überhang. Das hat den Vorteil, dass man sich der stets gegenwärtigen Frage des „Was tun?“ oder „Wie geht’s?“ stellt, anderseits aber den Nachteil, gelegentlich auch daneben zu greifen. Gorz ist dieses Risiko eingegangen. Nur so wird etwa ein Titel wie „Wege ins Paradies“ überhaupt verständlich. Der war aber ganz programmatisch gemeint.

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