Glanz und Elend des Politisierens

von Meinhard Creydt

Protestanten meinen, sie hätten jeweils als Individuum eine unmittelbare Beziehung zu Gott. Politisierende Menschen glauben, zur Gesellschaft so umstandslos Stellung nehmen zu können, als sei sie ihnen direkt zugänglich. Der politisierende Verstand nimmt die Realität durch die Brille seiner Deutungen wahr. Im politischen Bild von der Gesellschaft geht es häufig um Prinzipien und Werte. „Mehr Gleichheit“ sagen die einen, „mehr Freiheit“ oder „mehr Nation“ die anderen. Und dann lässt sich gewichten wie bei den Zutaten einer Suppe. Ganz Schlaue meinen: „Bei dem, was wie ein Gegensatz aussieht, lassen sich dessen Pole in ein gedeihliches Verhältnis gegenseitiger Steigerung setzen.“

Ein Beispiel für die Prinzipien- und Werte-Rede bildet das Motto der „unteilbar“-Demonstration vom 13.10.2018 in Berlin mit 240.000 Teilnehmern: „Für eine offene und freie Gesellschaft – Solidarität statt Ausgrenzung.“ Der Aufruf wendet sich gegen rechte Umtriebe, stellt dabei jedoch die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht ins Zentrum. Rechten Bewusstseinsformen und den Motiven, die sich in ihnen artikulieren, kommt niemand mit Werten wie „Freiheit“ und „Solidarität“ bei. Der „unteilbar“-Aufruf artikuliert das Selbstverständnis, man selbst hebe sich positiv von den rechten Unsympathen ab. Sich mit den Ursachen und Gründen für deren Position auseinanderzusetzen oder Vorschläge dafür zu liefern, wie man bei deren Anhängern diese Positionen verändern kann – das ist nicht das Anliegen. Man stellt sich selbst als Vertreter von Freiheit, Offenheit und Solidarität aus und wendet sich gegen Schmuddelkinder, die aus unerfindlichen Gründen diese vermeintlich selbstverständlichen Werte unserer Gesellschaft nicht zu teilen vermögen.

Unter Voraussetzung gesellschaftlicher Widersprüche, der Vereinseitigung der Individuen und der ungleichen Entwicklung ihrer „Anteile“ machen die politisierenden Deutungen zwei Angebote: Sie überwinden subjektiv die Intransparenz und Komplexität der Gesellschaft und suggerieren eine Pseudo-Souveränität der Politisierenden. Der „Deutungsfuror“ bleibt ein „Stigma der Entmächtigten“ (Anders 1993, 81). Die politische Zentralperspektive soll die „blinde enge Teilsicht des in der Schlacht verlorenen Soldaten“ (Bourdieu 1982, 699) vergessen lassen. „Die Ablenkung bezieht ihre Energie daraus, dass der Einzelne oder eine unmittelbar in einen kriegerischen Schritt verwickelte Gruppe niemals das Ganze des Krieges wahrnimmt, aber dennoch ein Bedürfnis nach Orientierung in die Produktion eines ganz willkürlichen Gesamtüberblicks eingeht. … Es wird so getan, als gäbe es eine Perspektive, die auf den Krieg als Ganzes. Genau diese gibt es im wirklichen Krieg nirgends.“ (Negt, Kluge 1981, 816, 818)

Das politisierende Bild von der Gesellschaft erleichtert es dem vereinzelten Einzelnen, sich trotz seiner Froschperspektive einen politischen Reim auf das gesellschaftliche Geschehen zu machen. Es soll kein Widerspruch zwischen dem Selbstbewusstsein und dem Bewusstsein geben. Zum Selbstbewusstsein des politisierenden Durchblicks gehört ein Bewusstsein, welches das, was es wahrnimmt, so auffasst, dass es sich in ihm wiederzuerkennen vermag. Die politisierenden Deutungen „streifen den rätselhaften Gestalten menschlicher Verhältnisse … den Schein der Fremdheit ab“ (MEW 23, 196). Der Schmerz infolge der wahrgenommenen Realität verliert an Bedeutung angesichts des Gefallens an der eigenen Urteilsmächtigkeit.

Politisieren als Bescheidwissen

Mitglieder der modernen bürgerlichen Gesellschaft stellen sich diese als zusammengesetzt vor aus wirtschaftlichen und technologischen „Sachzwängen“ einerseits, politischer „Gestaltung“ anderseits. Der normale Bürger zeigt sich eher skeptisch, ob die „politische Gestaltung“ viel Spielraum habe vor lauter „Sachzwängen“. Die Fans des Politisierens sehen überall Möglichkeiten, auf Grundlage des Bestehenden die Gesellschaft anders zu steuern. Nimmermüde Kommentatoren tadeln allerhand politische Handlungen als „suboptimal“ oder als „Fehlentscheidung“. Immer schon wusste Der Spiegel seine Leser mit Manöverkritiken zum laufenden Politikbetrieb zu versorgen.

Die entsprechende Lektüre verschafft dem Leser den Genuss, sich politisch auf der Höhe der Zeit zu dünken. Die wirkliche oder vermeintliche Kunde von allerhand Pleiten, Pech und Pannen stärkt das Selbstbild desjenigen, der, durch die Lektüre entsprechender Journale unterstützt, gern unausgeschöpfte Möglichkeiten, nicht genutzte Chancen und einzelne Fehleinschätzungen beanstandet. Die gemäßigt-linke Variante findet sich in den Leitartikeln der Blätter für deutsche und internationale Politik. Albrecht Lucke hat immer einen guten Rat für SPD, Grüne und Linkspartei parat, wie sie es besser machen könnten. Die politische Wirklichkeit kommt dann allein als Abweichung zu den wohlmeinenden Vorstellungen vor, die man für sie hat. „Eigentlich“ könnten doch die Beteiligten anders, wenn sie nur richtig wollten und sich an die guten Ratschläge hielten. Wenn dies optimal geschehe, so die linke Variante des Politisierens, könne man auch die kapitalistische Ökonomie durch die Politik steuern, wie der Reiter das Pferd dirigiere.

Der politisierende Verstand kann ein großes Feld von Kennerschaft und Beurteilungsvermögen kultivieren. Eines seiner Lieblingsthemen stellen Taktiken dar. Mit ihnen sollen bestehende politische Lager, Parteien und Organisationen umgruppiert, gespalten und neu zusammengesetzt werden. Die pragmatisch kontraproduktiven Effekte mancher Taktiken sind Thema im politizistischen Diskurs, nicht aber, dass es sich bei Taktiken um die Umverteilung der gegebenen Bestände handelt, die weit entfernt sind von deren substanzieller Veränderung. Auch die bei vielen Linken beliebten Wahlkämpfe „verschlingen viel Energien und bezeichnen eher einen Austausch von Legitimationen als einen politischen Produktionsprozess.“ (Negt 1980, 156)

In den Kommentaren vieler selbsternannter linker Oppositionsberater kommt die Gesellschaft allein in politisierender Perspektive vor. In ihr bilden häufig die Handlungen das Hauptthema – und zwar aus der Perspektive des Handelnden. Diese aber verhält sich notorisch ignorant gegenüber der Struktur der kapitalistischen Gesellschaft.

Gesellschaftsstruktur des Kapitalismus

Ich gehe im Telegrammstil vier für sie zentrale Momente durch.

· Die kapitalismusspezifischen Trennungen betreffen z. B.

– die Unabhängigkeit und Isolation der Marktakteure voneinander,

– die Dominanz der Nachfrage der vereinzelten Einzelnen nach individuell erwerbbaren Gütern (z.B. Auto) zulasten der kollektiven Nachfrage nach Kollektivgütern (z.B. öffentlicher „Nah“verkehr),

– den gegenseitigen Ausschluss durch Privateigentum,

– die Interessengegensätze zwischen Produzenten und Konsumenten sowie zwischen diesen beiden (z.B. Autofabriken und Autofahrern) einerseits und mittelbar von den problematischen Folgen dieser Produktion und Konsumation Betroffenen andererseits,

– die gegenseitige Verdrängung in der Konkurrenz,

– die Trennung zwischen den Arbeitenden und den Produktionsmitteln.

· Die kapitalismusspezifischen Verselbständigungen betreffen bspw.

– die Verselbständigung des Geldes vor dem Hintergrund der Unabhängigkeit der Marktteilnehmer voneinander und ihres privatinteressiert-instrumentellen Bezugs zueinander sowie der Notwendigkeit, den abstrakten Reichtum nur durch Vermehrung erhalten zu können,

– den Übergang vom Wettbewerb, in dem es um die effizienteste Bewerkstelligung eines bestimmten Arbeitsauftrags geht, zur Konkurrenz, in der die Arbeitsinhalte Mittel zum Erfolg in der Konkurrenz und ihm untergeordnet werden.

· Die kapitalismusspezifischen Widersprüche, die Dynamiken in Gang setzen. Wachstum wird im Kapitalismus nötig, um den durch den geringeren Anteil von lebendiger Arbeit (an den Gesamtaufwendungen für die Produktion) verursachten Fall der Profitrate (als Verhältnis zwischen Mehrwert und insgesamt aufgewandtem Kapital) durch Zunahme der Profitmasse zu kompensieren. Die Nachfrage nach Arbeit muss absolut zunehmen, weil sie relativ (beim einzelnen Produkt) sinkt. Wachstum wird im Kapitalismus nötig als Bewegungsform für diese Widersprüche. Sie werden nicht gelöst, sondern reproduzieren sich auf höherer Stufenleiter. Die Kapital-Akkumulation ist nicht durch Motive der Kapitalisten (z.B. „Gier“) zu erklären.

· Eigendynamische, selbstverstärkende Prozesse der Selbstreproduktion: „Teufelskreise“ bzw. die gegenseitige, positive Verstärkung zweier Momente finden wir im Kapitalismus bspw. Zwischen

– der Fokussierung auf das Privateigentum und dem schlechten Zustand der Gemeingüter,

– der Schwächung bestimmter sozialer Motive, Fähigkeiten und Zusammenhänge durch Märkte und der Legitimation von Märkten im Hinweis auf die Schwäche der Sozialität,

– dem Druck der Konkurrenz auf die Konkurrenten und der Verstärkung dieses Drucks durch die Maßnahmen jedes Konkurrenten, sich in der Konkurrenz durchzusetzen. Die Konkurrenten verhalten sich wie auf einer nach unten laufenden Rolltreppe. Sie strampeln, um nicht nach unten abgedrängt zu werden und fördern durch ihr Strampeln die Bewegung der Rolltreppe.

Missverständnisse in puncto Gesellschaftsstrukturen

Gesellschaftsstrukturen resultieren nicht aus der erweiterten Interaktion von Individuen, sondern geben den Rahmen für diese Interaktionen vor. „Die expansive Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise kann nicht aus den Absichten ihrer ‚Träger‘ begriffen werden, vielmehr sind diese analytisch auf die strukturdeterminierten Handlungsmöglichkeiten und -imperative zu beziehen. Gesellschaftliche Prozesse vollziehen sich über das Handeln menschlicher Subjekte, gleichsam ‚durch ihr Bewusstsein hindurch‘, ohne deshalb auf Bewusstsein und Intentionalität zurückführbar zu sein.“ (Koczyba 1979, 184)

Adorno unterscheidet zu Recht Gesellschaftstheorie von einer Geisteswissenschaft. „Die Fragen, mit denen sie sich zu beschäftigen hat, sind nicht wesentlich und primär solche des Bewusstseins oder auch selbst Unbewusstseins des Menschen, aus denen die Gesellschaft sich zusammensetzt. Sie beziehen sich vorab auf die Auseinandersetzung zwischen Menschen und Natur und auf objektive Formen der Vergesellschaftung, die sich auf den Geist im Sinn einer inwendigen Verfassung des Menschen keineswegs zurückführen lassen.“ (Adorno 1979, 481f.)

Bei den Strukturen der Gesellschaftsformationen haben wir es mit bestimmten sozialen Sachverhalten zu tun, die sich zwar in sinnhafte Erwartungen und andere bedeutungsvolle Bewusstseinsinhalte umsetzen, selbst aber keine darstellen. Gesellschaftsformen sind nicht als Ausdruck von Weltanschauungen oder kollektiven Mentalitäten zu begreifen. „Der Kapitalismus z.B. ist nicht Unternehmensgeist + Profitgier + protestantische Ethik usw., sondern ein Ensemble von gesellschaftlichen Verhältnissen.“ (Sève 1973, 262) Eine „unmittelbar sichtbare und denkbare Übereinstimmung zwischen … dem konkreten Individuum und dem Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (ebd.) fehlt. Gerade diese Übereinstimmung fingiert das Politisieren mit seinen Deutungen.

Gegenüber einer vorschnellen Feier der Kreativität des individuellen Handelns gilt es an den „stummen Zwang der Verhältnisse“ (MEW 23, 765) zu erinnern: „Erst müssen wir herausbekommen, über welche Zwänge und Vermittlungen der Einzelne sich als ‚soziales Geschöpf der Verhältnisse‘ reproduziert, erst dann wird die Art und Weise verständlich, in der ‚er sich auch subjektiv über sie erheben‘ (MEW 23, 16) kann.“ (Ottomeyer 1976, 337f.) Die subjektive Distanz des Individuums zu auszufüllenden Rollen ist nicht mit einer Distanz zu den Gesellschaftsstrukturen zu verwechseln.

Doppelcharakter und Widersprüche

Politisierende linke Oppositionsberater verbleiben oft bei ihrer Frage, was sich ändern kann, auf der Ebene der Auseinandersetzungen sowohl zwischen verschiedenen politischen Parteien und Gruppen als auch in ihnen. Etwas anderes ist die Frage nach dem grundlegenden Widerspruch der kapitalistischen Gesellschaft. Er verläuft zwischen der Verwertung des Kapitals und den dafür nötigen Fähigkeiten, Bedürfnissen, Kooperationszusammenhängen und (Er-)Kenntnissen. Zur Verwertung des Kapitals müssen (subjektive und objektive) Produktivkräfte entwickelt und genutzt werden. Sie beinhalten Potenzen, erfordern Vorleistungen und regen möglicherweise Nachverarbeitungen und Erfahrungen an, die in vielfältige Spannungen zum Verwertungskriterium geraten können.

Die gegenüber der politisierenden Perspektive betonte Aufmerksamkeit für die gesellschaftlichen Strukturen und Formen impliziert nicht die Position, die Strukturen seien ewig und widerspruchslos. Das Widerspruchspaar Produktivkräfte/Produktionsverhältnisse eignet sich als zusammenfassende Formel, wenn Produktivkräfte nicht eingeschränkt werden auf den „technischen Fortschritt“. Vielmehr umschließen sie auch „die produktiven Energien, Qualifikationen und Betätigungsansprüche“ von relevanten Gruppen in der Gesellschaft (Fleischer 1987, 29). Ich habe in „Wie der Kapitalismus unnötig werden kann“ (Münster 2014, 35 ff.) materialiter ausgeführt, welche Gruppen und welche Widersprüche dies gegenwärtig sind bzw. sein können.

Das „Primat der Politik“

Nicht nur Konsumenten von Verschwörungstheorien sind auf der Suche nach Personengruppen, die sich als lenkendes Subjekt des Geschehens dingfest machen lassen. Auch Linke vertreten die These, „die Herrschenden“ könnten über die grundlegenden Gesellschaftsstrukturen bestimmen. „Wirtschaftliche Gesetzmäßigkeiten“ stellen für Alex Demirovic (Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates der Rosa-Luxemburg-Stiftung) „Freiheit dar, allerdings die Freiheit einer kleinen Zahl von Menschen, die diese Gesetzmäßigkeiten maßgeblich gestalten und davon profitieren. Wenn die wirtschaftlichen Prozesse Ergebnis von Entscheidungen sind, dann liegt es nahe, diese Entscheidungen zu demokratisieren.“ (Demirovic 2007, 256) „Wirtschaftliche Gesetzmäßigkeiten“, so lesen wir, sind also keine Gesetzmäßigkeiten, sondern … „Freiheit“.

In diesem voluntaristischen Horizont (die einen haben die „Freiheit“ schon, die anderen sollen sie sich einfach … nehmen) lautet dann die Perspektive: Lasst uns den autokratischen und unsolidarischen Willen einer kleinen Minderheit durch den Willen der Mehrheit ersetzen! Daniela Dahn formuliert das so: „Der Auftrag der Sammlungsbewegung (gemeint ist: „Aufstehen“ – Verf.) wäre, das Primat der Politik zurückzuerobern.“ (Neues Deutschland 18.8.2018) Das Wort „zurückerobern“ (Dahn) suggeriert die frühere Existenz des „Primats der Politik“. Gemeint ist wohl nicht die DDR, sondern eine Vergangenheit, als noch der vermeintlich gute Sozialstaat existierte. Vgl. dazu meinen Artikel „Die Idealisierung der Staatspolitik und des Sozialstaats in der Kritik am ‚Neoliberalismus‘“ (Telepolis 2017, www.meinhard-creydt.de/archives/704).  „Primat der Politik“ heißt für Sahra Wagenknecht, einzutreten für „risikolose Geldanlagen“ mit einer „Rendite“, die dem Anleger erlaubt, ein „Vermögen anzusparen“ (Berliner Zeitung 4.8.2018), – als ob eine solche Anlageform im Kapitalismus existieren könnte. Da fehlt nur noch die Hoffnung auf Atomkraft ohne Radioaktivität.

Keine Gesellschaftsformation kann auf dem „Primat der Politik“ gründen. Das rechtliche, das politische und das moralische Bewusstsein lassen sich erst aus den ihnen zugrunde liegenden gesellschaftsformationsspezifischen Strukturen der Produktions- und Reproduktionsverhältnisse begreifen. Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft, denen Recht, Politik und Moral besonders am Herzen liegen, fühlen sich mit ihnen über die Ökonomie erhaben und nehmen diese als Mittel und äußere Bedingung für die höheren Zwecke wahr. Recht, Politik und Moral gelten dann als Ordnungen, die allem wirtschaftlichen Pragmatismus erst den höheren Sinn sowie Ziel und Form geben – wenn nicht faktisch, so doch „eigentlich“. Die Verhältnisse zwischen kapitalistischer Ökonomie und Recht, Politik, Moral und Kultur bilden jedoch die Aufbauordnung der modernen bürgerlichen Gesellschaft. (Für eine Skizze dieser Ordnung siehe www.meinhard-creydt.de/archives/87. Für Literaturhinweise zu vielen auch heute noch lesenswerten Analysen dazu vgl. www.meinhard-creydt.de/archives/75)

Viele Linke bewegen sich in den analysierten und kritisierten Mentalitätsformen ebenso naiv wie affirmativ. Die systematischen Verkehrungen, die den rechtlichen, politischen und moralischen Mentalitäten in der modernen bürgerlichen Gesellschaft eigen sind, immer wieder durchzuarbeiten, um ihnen nicht zu verfallen – das gilt vielen Linken nicht als Aufgabe. Dabei gilt die These, die Menschen können ihre „Lebenslage nur vollständig selbst erkennen, wenn sie die Dinge ohne juristisch gefärbte Brille … anschauen“ (MEW 21, 494), auch für den politisierenden und moralisierenden Verstand. Das Politisieren ist umso beliebter, je weniger der Betroffene ein reflexives Verhältnis zum Politizismus hat, also zum mystifizierten Schein des Politischen. „Der politische Verstand ist eben politischer Verstand, weil er innerhalb der Schranken der Politik denkt.“ (MEW 1, 402) Viele Kommentatoren und Politikenthusiasten wie Albrecht Lucke schreiben sich selbst das Sorgerecht für den politischen Betrieb zu, der unter den Politikern der parlamentarisch dominierenden Parteien zu leiden habe und bei solch suboptimalem Personal nicht zu voller Form auflaufen könne. Sie sorgen sich um den politischen Betrieb, nicht wegen ihm. Statt einer Kritik am Politischen in der bürgerlichen Gesellschaft finden wir die Zuschreibung, selbst der bessere Politiker zu sein oder wenigstens der optimale Politikcoach.

Die frohe Botschaft vom Primat der Freiheit

Die politisierende Pseudosouveränität meint, in vermeintlicher Unabhängigkeit vom „stummen Zwang der Verhältnisse“ (MEW 23, 765) über die Entwicklung der Gesellschaft in aller „Freiheit” „entscheiden“ (Demirovic) zu können. Die Politik und die Demokratie der bürgerlichen Gesellschaft verhalten sich zu den mit der herrschenden Arbeitsteilung, der Konkurrenz und den Entwicklungsmaßstäben des abstrakten Reichtums implizierten Spaltungen, Hierarchien und Bornierungen, indem sie „sich auf eine abstrakte und beschränkte, auf partielle Weise über diese Schranken erheben“ (MEW 1, 354) und sie für „unpolitisch“ bzw. die Demokratie nur äußerlich tangierend erklären.

Den der bürgerlichen Gesellschaft eigenen Formen des politischen Bewusstseins und der Politik sind Momente des Scheins eigen. „Schein“ heißt: Etwas real Unselbständiges wird von seinen konstitutiven und reproduktiven Zusammenhängen abgelöst, als unmittelbar und selbständig wahrgenommen. Das solcherart Erscheinende dreht sich in sich selbst ein. „Materialistische Kritik“ gilt der „Verblendung der Unmittelbarkeit“, die „ideologisch die eigenen Vermittlungen“ nicht wahrhaben wolle (Adorno 1970, 384). Politizismus ist der Blick auf die Politik, die ihrem Schein verhaftet bleibt. Ästheten betrachten vieles ästhetizistisch, Technikern gilt allerlei als technisches Problem und Politisierende kommen nicht über die Grenzen der politischen „Perspektive“ hinaus.

Handlungstheorie und Politik

Die erscheinende Unmittelbarkeit und Autonomie des Rechts, der Politik und der Moral in der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber der für sie konstitutiven „weltlichen Grundlage“ resultiert aus deren „Selbstzerrissenheit“ (MEW 3, 6). Das Selbst- und Weltverständnis der Individuen ist aus den ihm zugrundeliegenden gesellschaftlichen Strukturen und Formen zu erklären – vgl. Marx’ Analyse der Bewusstseinsformen in seiner „Kritik der Politischen Ökonomie“. „Es ist … nicht der Mensch, der sich selbst über die Realität täuscht, es ist die Realität, die ihn dadurch täuscht, dass sie unvermeidlich in einer Form erscheint, die sich dem spontanen Bewusstsein der in der Geschäftswelt lebenden Menschen auf verdrehte Weise zeigt und verbirgt.“ (Godelier 1977, 170)

Die Auffassung des Individuums als Subjekt seiner Handlungen knüpft an der Praxis der Individuen an, die gesellschaftliche Realität und ihr eigenes Handeln in ihr im Horizont ihres Bewusstseins zu deuten. Dann gilt z.B. Lohnarbeit als „Mittel“ des Individuums. Die Teilnahme am Erwerbs- und Geschäftsleben erscheint als Gelegenheit, die eigenen „Chancen“ zu realisieren und zu zeigen, „was in einem steckt“. Die „Marktwirtschaft“ gilt als Ausdruck der Freiheitsidee bzw. als ihre Ermöglichung. Die Spekulation über „die Stellung der Einzelnen zu diesen gesellschaftlichen Verhältnissen, die Privat-Exploitation einer vorgefundenen Welt durch die einzelnen Individuen“ (MEW 3, 398) verstellt die Aufmerksamkeit für die Gesellschaftsstrukturen.

Zirkulär ist die populäre Auffassung, „dass unter den existierenden Bedingungen die jetzigen Verhältnisse der Menschen zueinander die vorteilhaftesten und gemeinnützlichsten seien“ (MEW 3, 399). Zum Privatinteresse der Teilnehmer am kapitalistischen Erwerbs- und Geschäftsleben gehört die Meinung, sich „der Verhältnisse“ zu „bedienen, in die sie als Dienende eintreten. Sie benutzen die Bedingungen, die ihnen fremd gegenübertreten. Ihre Anpassung ist hier eine Funktion ihres partikularen Interessenkalküls, … ihre Unterwerfung das Instrument zur Verwirklichung ihrer Souveränität als nutzenmaximierender Subjekte. In dieser Hinsicht synthetisiert die utilitaristische Praxis den Zwang zur Anpassung mit der Souveränität einer Funktionalisierung aller Umweltbezüge für privatisierte Interessen und markiert somit eine spezifische Form der Verschränkung von Heteronomie und Autonomie.“ (Prodoehl 1983, 131) Die Selbstauffassung der Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft als ihr individuelles Leben führende Subjekte verdankt sich dieser Verdrehung des Bewusstseins.

Zur Subjektform trägt der Stellenwert bei, den der Wille durch die Verallgemeinerung von Vertragsverhältnissen in der kapitalistischen Gesellschaft gewinnt. Auch die Bewusstseinsformen des Rechts, der Politik und der Moral tragen zur Vorstellung bei, in der kapitalistischen Gesellschaft werde nicht nur mit, sondern aus Willen und Bewusstsein gehandelt. „Auf den verschiedenen Formen des Eigentums, auf den sozialen Existenzbedingungen erhebt sich ein ganzer Überbau verschiedener und eigentümlich gestalteter Empfindungen, Illusionen, Denkweisen und Lebensanschauungen. … Das einzelne Individuum, dem sie durch Tradition und Erziehung zufließen, kann sich einbilden, dass sie die eigentlichen Bestimmungsgründe und den Ausgangspunkt seines Handelns bilden.“ (MEW 8, 139) Die Auffassungen, in denen sich das Individuum bewegt, nimmt es als durch ein wie auch immer geartetes „Denken erzeugt hin“ und „untersucht es nicht weiter auf seinen entfernteren, vom Denken unabhängigen Ursprung; und zwar ist ihm das selbstverständlich, da ihm alles Handeln, weil durch’s Denken vermittelt, auch in letzter Instanz im Denken begründet erscheint“ (MEW 37, 97).

In der scheinhaften Autonomie des Politischen ist „beides enthalten, die freie von allem abstrahierende Reflexion und die Abhängigkeit von dem innerlich oder äußerlich gegebenen Inhalte und Stoffe“ (Hegel Bd. 7, 66). Im Unterschied zur Ökonomie, welche die höchste Aktivität der Einzelhandlung, aber Passivität dem gesamtwirtschaftlichen Ablauf gegenüber erfordert, ist in der bürgerlichen Gesellschaft in der Politik die Regelung des Allgemeinen gefragt.

Der Politizismus überschätzt notorisch die Bedeutung der Subjekte und ihres Willens. „Bei der Untersuchung staatlicher Zustände ist man allzu leicht versucht, die … Verhältnisse zu übersehen, und alles aus dem Willen der handelnden Person zu erklären. … Stellt man sich von vornherein auf diesen sachlichen Standpunkt, so wird man den guten oder den bösen Willen weder auf der einen noch auf der anderen Seite ausnahmsweise voraussetzen, sondern Verhältnisse wirken sehen, wo auf den ersten Anblick nur Personen zu wirken scheinen.“ (MEW 1, 177)

Die Naturwüchsigkeit und Profitorientierung der kapitalistischen Ökonomie macht eine sekundäre politische Bearbeitung der in ihrer Substanzeigenständigen Ökonomie nötig. Die rechtlichen Rahmenbedingungen und das staatliche Gewaltmonopol sind zu sichern. Der Staat sorgt als Ausfallbürge idealiter für jene Teilmenge des nicht (oder nicht in ausreichendem Ausmaß) kapitalistisch Bereitstellbaren (Infrastrukturen und Sozialleistungen i. w. S.), dessen Mangel die kapitalistischen Geschäfte selbst mittelbar negativ tangieren würde. In der staatlichen Politik geht es weiterhin um Integration und Kursbestimmung des Gemeinwesens. Freiheitsgrade weist das politische Handeln insofern auf, als es verschiedene Einschätzungen geben kann, was ökonomisch-politisch förderlich ist und was nicht. Nicht nur aufgrund der Prognoseprobleme, sondern weil auch „das“ einheitliche Verwertungsinteresse sozial nicht existiert, sondern nur als „in sich widersprüchliches Konglomerat von Einzelinteressen“ (Wirth 1973, 38). Guenther Sandleben (2011) arbeitet dies in seiner lesenswerten Studie an der deutschen Wirtschaftspolitik zur Bewältigung der Wirtschaftskrise 2007/2008 heraus.

Zudem sorgen die Widersprüche der kapitalistischen Akkumulation für Zielkonflikte. Der Dienst der Politik für die Funktionserfordernisse kapitalistischer Akkumulation ist nicht („funktionalistisch“) mit der Garantie verbunden, dass Politiker das Erforderliche treffsicher identifizieren und effizient in erfolgreiches Handeln umsetzen. Der Politizismus überschätzt die Unterschiede zwischen den verschiedenen politischen Optionen und Varianten – zulasten einer Vergegenwärtigung der übergreifenden und durch systemimmanentes politisches Handeln nicht erreichbaren Gesellschaftsstrukturen.

In Anlehnung an Laclau und Mouffe heißt es: „Die Ökonomie selbst ist … ein Kampffeld, das keine anderen ‚Bewegungsgesetze‘ kennt als die, welche einem Feld antagonistischer Kräfte entstammen. Auch der ökonomische Raum konstituiert sich ausgehend von einem politischen Kräfteverhältnis.“ (Sonja Buckel 2006, 35) Gewiss spricht nichts dagegen, Kräfteverhältnisse zu analysieren. Etwas ganz anderes ist jedoch die These, Gesellschaftsstrukturen und die ökonomische Gesetze des Kapitalismus seien auf „politische Kräfteverhältnisse“ zurückzuführen.

„Hauptsache Perspektive“

Der Politizismus ordnet sich als Wille und Vorstellung der Gesellschaft über. „Das Prinzip der Politik ist der Wille. Je einseitiger … der politische Verstand ist, um so mehr glaubt er an die Allmacht des Willens, … umso unfähiger ist er also, die Quellen sozialer Gebrechen zu entdecken.“ (MEW 1,402)

Ein Beispiel: Die grüne Parteistiftung lud Christian Felber letzten Oktober zu einer Veranstaltung nach Berlin ein. Felber vertritt ein „Gemeinwohlökonomie“-Konzept mit einerseits teilweise recht weit gesteckten Zielen und andererseits der Versicherung, überall seien heute schon Projekte in dieser Richtung erfolgreich unterwegs. Die „Gemeinwohlbilanz“ – das Kernstück des Konzepts – werde von immer mehr Firmen aufgestellt, so auch von der großen Sparda-Bank. Felber bringt das seine Hoffnungen vermeintlich belegende Beispiel bei jedem Auftritt. Das Entscheidende verschweigt er. Der Sparda-Chef Helmut Lind kürzt aus der „Gemeinwohlbilanz“ die kapitalismuskritischen Momente heraus. „In letzter Konsequenz würden sie bedeuten, dass wir auf einen Sozialismus zusteuern sollten. Allen gehört alles. Das ist mir zu extrem, zu dogmatisch.“ (Lind, zit. n. Winkelmann 2016, 36f.) Der politizistische Projektemacher ist „so ausschließlich mit seinen Hoffnungen beschäftigt, dass ihm nichts, was ihnen widerspricht, jemals wahr, eindeutig und spürbar genug erscheint“ (Ben Johnson).

Die grünen Funktionäre, die Felber in Berlin einluden, nehmen zwar die weitreichenden Vorstellungen von Felber nicht ernst, zeigten sich aber befriedigt, dass ein „Mann mit Visionen“ viel junges Volk in die Veranstaltung zieht. Was es mit der „Perspektive“ genauer auf sich hat, das ist dann nachrangig. Ähnlich wie bei vielen Christen handelt es sich um den „Sieg des Glaubens als seelischer Tätigkeit über den Glauben als inhaltliches Credo“ (Anders 1988, 371). Die visions and missions fungieren wie Sonntagsreden. Sie geben denjenigen am Werktag Trost und Sinn, die sich an mehr orientieren wollen als an pragmatischem Handeln.

Die hier skizzierten Elemente des Politizismus sind: Die Werte- und Prinzipienrede, die die Gesellschaftsstrukturen ausblendende Verengung der Aufmerksamkeit auf Handlungen, die Überschätzung politischer Autonomie gegenüber den Zugzwängen der kapitalistischen Ökonomie sowie die fiktive „Perspektive“. Der Politizismus praktiziert „eine fortwährende Ablenkung, die nicht einmal zur Besinnung kommen lässt, wovon sie ablenkt“ (Kafka).

Literatur

Adorno, Theodor W. 1970: Ästhetische Theorie, Frankf./M.

Adorno, Theodor W. 1979: Soziologische Schriften, Bd. 1, Frankf./M.

Anders, Günter 1988: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2, München.

Anders, Günther 1993: Mensch ohne Welt – Schriften zur Kunst und Literatur, München.

Bader, Veit Michael; Berger, Johannes; Ganßmann, Heiner u.a. 1976: Einführung in die Gesellschaftstheorie, Bd. 1, Frankf./M.

Bourdieu, Pierre 1979: Die feinen Unterschiede, Frankf./M.

Buckel, Sonja 2006: Neo-Materialistische Rechtstheorie, in: Dies., Ralph Christensen, Andreas Fischer-Lescano (Hg.): Neue Theorien des Rechts, Stuttgart.

Demirovic, Alex 2007: Wirtschaftsdemokratie, in: Ulrich Brand, Bettina Lösch, Stefan Thimmel (Hg.): ABC der Alternativen, Hamburg.

Fleischer, Helmut 1987: Ethik ohne Imperativ. Zur Kritik des moralischen Bewußtseins, Frankf./M.

Godelier, Maurice 1977: Perspectives in Marxist Anthropology, New York.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke. Hg. v. Eva Moldenhauer, Karl Markus Michel, Frankf./M. 1970.

Hindess, Barry; Hirst, Paul 1981: Vorkapitalistische Produktionsweisen, Frankf./M.

Koczyba, Hermann 1979: Widerspruch und Theoriestruktur, Frankf./M.

Negt, Oskar 1980: Alternative Politikformen als politische Alternative?, in: Roland Roth (Hg.): Parlamentarisches Ritual und politische Alternativen, Frankf./M.

Negt, Oskar; Kluge, Alexander 1981: Geschichte und Eigensinn, Frankf./M.

Ottomeyer, Klaus 1976: Antikritisches zu Rainer Paris, in: Gesellschaft – Beiträge zur Marxschen Theorie, Bd. 8/9, Frankf./M.

Prodoehl, Hans Gerd 1983: Theorie des Alltags, Berlin.

Sandleben, Guenther 2011: Politik des Kapitals in der Krise. Eine empirische Studie, Hamburg.

Sève, Lucien 1977: Marxismus und Theorie der Persönlichkeit, Frankf./M.

Winkelmann, Marc 2016: Auf’s Ganze, in: Enorm – Wirtschaft. Gemeinsam. Denken. 7. Jg., H. 1, Hamburg.

Wirth, Margaret 1973: Zur Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus, in: Prokla, H. 8/9.

image_print