Zum Populismus

VORLAUF POPULISMUS

Salih Selcuk interviewt Franz Schandl

Salih Selcuk: Früher sprach man vom Links- oder Rechtspopulismus. Was sind die Grundmerkmale des Neo-Populismus? Durch die Globalisierung hat sich das wirtschaftliche System in den letzten zwanzig Jahren radikal geändert. Aber die damals liberalen Demokratien möchten immer noch die selben liberalen Demokratien sein, obwohl die Demokratie –vom Parlamentarismus bis Politiker und Bürokratie – in Verruf gekommen ist. Sogar die ehemaligen ‘sozialistischen’ Länder behaupten heute Demokratien zu sein. Geht es heute nur um Grad der Demokratisierung oder Demokratie selbst? Wie weit ist Populismus Demokratie?

Franz Schandl: Als Grundmerkmal des heutigen Populismus erscheint mir, dass die Kulturindustrie (Medien, Public Relations, Werbung, Unterhaltung, Popkultur, Fernsehen, Film) sich der Politik bemächtigt hat, also im Gegensatz zum alten Populismus nicht die Politik auf diese Mechanismen zugreift, sondern diese Mechanismen die Politik ergreifen. Der Modus der Kulturindustrie ist vielmehr zum Gebot von Demokratie und Politik geworden. Seine Programmatik lässt sich eher an Fernsehprogrammen ablesen als in politischen Erklärungen. Serienhelden dienen als Matrizen für diese Parteiführer. Jene sind die zur Nachahmung empfohlenen Vorlagen. Die Populisten reproduzieren sich als mediale Helden. Populisten werden zu Stars, Anhänger zu Fans. Letztere degradieren sich wahrlich zu Hörigen. Aufgrund seiner festen Verankerung im Alltag darf die Analyse des Populismus nicht auf die Politik verengt, ja nicht einmal auf sie zentriert werden.

Die relative Distanz von Politik zu Medien und Werbung, Kommerz und Unterhaltung ist endgültig passe. Kulturindustrie wie Populismus setzen auf permanentes Entertainment und bedienen alle gängigen Vorurteile. Wobei diese sich durchaus widersprechen können. Der aktuelle Populismus ist nicht stringent, er ist für alles Mögliche zu haben, vorausgesetzt es kommt irgendwo bei irgendeinem Publikum an. Wahlkampf heute meint Show, it’s a democratic circus. Populismus muss sich nicht unbedingt mit rechten Inhalten verbinden, er kann auch auf linke Forderungen eingehen. Was die Sozialpolitik betrifft, agiert die Rechte durchaus selbst „links“, allerdings mit der Einschränkung, dass sozialstaatliche Leistungen meistens auf Inländer beschränkt werden, Ausländer aus ihnen ausgeschlossen bleiben sollen.

Die herkömmlichen Demokraten waren weltanschaulich geprägt. Das ist, zumindest was die entwickelten kapitalistischen Länder betrifft, heute nicht mehr der Fall, sieht man von Sonntagsreden ab. Die alten Gegensätze sind nur noch untergeordneter Bestandteil der PR (Public relations), wenngleich sie von einigen Anhängern noch eingefordert werden. Aber die, die das brauchen, werden weniger. Hingegen hat sich der marktwirtschaftliche (Neo)Liberalismus als Sachzwang durchgesetzt. Er erscheint alternativlos. So sehr es auch kriselt, so gibt es kaum noch Strömungen, die prinzipiell an der Marktwirtschaft zweifeln.

Der Begriff Demokratie verklärt mehr als er erklärt. Das Bekenntnis dazu gleicht einer konsensualen Sucht. Freilich stellen sich die Anhänger recht Unterschiedliches darunter vor. Es ist schon auffällig, dass gar nicht auffällt wie sehr man mit der Demokratie eine leere Hülse besingt. Denn tatsächlich sind alle ihre Instrumente wie Parteien, Politiker, Bürokratien, Gesetze oder auch das Repräsentativsystem in eine Krise geraten, während irgendein Ideal der Demokratie um so mehr angebetet wird.

Der Populismus ist nicht nur eine Variante der Demokratie, er ist die Demokratie von heute. Als Schimpfwort zur gegenseitigen Bezichtigung lenkt der Begriff eigentlich ab. Wird der populistische Zug lediglich seinen schärfsten oder penetrantesten Exponenten zugeordnet, fallen Politik und Demokratie in den Schatten der Unauffälligkeit. Man wird den Verdacht nicht los, dass der Populismus als Folie der Abgrenzung herhalten muss, um das Gegebene besser erscheinen zu lassen und es vor allem als unhinterfragbar anzuerkennen.

Demokratie ist ein Formprinzip des Kapitalverhältnisses, keine eherne Form, ja gar Höhe- und Endpunkt menschlicher Kommunikation. Nichts verklärten die bürgerlichen Aufklärer und ihre linken Brüder und Schwestern so wie die Demokratie. Fällig ist die Entzauberung der Demokratie. Griechisch wie lateinisch: Demokratismus ist Populismus.

Wer vom Populismus spricht, sollte daher die Demokratie nicht als Gegensatz darstellen, sondern vielmehr als deren Fortsetzung. Wichtig ist es, dass gemeinsame Bezugsfeld zu benennen. Beiden geht es primär um Stimmenmaximierung durch politische Konkurrenz. Die Mobilisierung von Stimmungen und ihre Verwandlung in Stimmen ist doch die der Marktwirtschaft analoge Aufgabe der Politik. Im Populismus wird jene beständig an die Werbeindustrie und deren Praktiken angepasst. Diese fortschreitende Kommerzialisierung der Politik ist in der politischen Konkurrenz selbst angelegt.

Der Erfolg des Populismus in der Politik läuft parallel zur Ausweitung und Systematisierung der Public relations. Seriosität und Diskretion sind in der Arena einer rücksichtslos agierenden politischen Auseinandersetzung auf jeden Fall weniger geschäftstüchtig, das heißt Stimmen akkumulierend, als Anmache und Aufdringlichkeit. Es ist davon auszugehen, dass die populistische Zurichtung von Politik sich inzwischen verallgemeinert hat. Nicht nur Populisten sind populistisch. Alle, die sich am politischen Feld tummeln, stehen unter einem populistischen Druck. Es herrscht ein populistisches Bedürfnis, das nicht die Populisten erfunden haben, umgekehrt: das Bedürfnis erfindet die Populisten.

Salih Selcuk: Populismus bedeutet gleichzeitig eine Seichtheit. Die Populisten führen ungern rationale Diskussionen, wo sie Partei ergreifen und konkreter sein müssen. Das stört ihre ‘vielfarbige’ Koalition, die im türkischen Beispiel zwischen gemäßigten Islamisten bis zu altlinken neoliberalen eine mehrfarbige ist. Kann Populismus mit dieser seichten Art den harten Zeiten der möglichen Energie-, Finanz- und Wirtschaftskrise Herr werden?

Franz Schandl: Seicht? Ja und nein, in gewisser Hinsicht sitzt er durchaus tief drinnen, das heißt, der Populismus berührt die Menschen auf einer emotionalen Ebene sehr tief oder besser noch: kräftig. Er holt aber nicht das potenziell Solidarische, Sensible und Reflektierte aus ihnen raus, sondern das Derbe, das Grobe, das Affirmative, das Vorschnelle. Er baut auf der Grundstruktur der Vorurteile und Ressentiments. Es herrscht der unmittelbare Affekt. Dieser wird nicht hinterfragt, sondern als elementare Äußerung aufgefasst.

Solange kein wirklich neues Paradigma die gesellschaftliche Praxis bestimmen kann, ist es wohl auch so, dass die alten Fronten im populistischen Zeiten sich immer mehr aufweichen, wodurch auf einmal Bündnisse und Koalitionen möglich werden, die früher so nicht möglich gewesen wären. Die Schärfe der jetzigen Konfrontationen speist sich jedenfalls nicht aus der größeren Differenzen der politischen Akteure, sondern aus der Notwendigkeit solche zu simulieren, so nach dem prostituierenden Geschäftsmotto: „Ich bin die bessere Ware, nimm mich!“

Auch glaube ich nicht, dass man sagen kann, die konventionelle Politik sei zumindest rational, der Populismus aber irrational. Die konventionelle Politik hat vielmehr die Sachzwanglogik verinnerlicht. Doch der Sachzwang ist nichts anderes die Rationalität der kapitalistischen Irrationalität. Er behauptet Schicksalshaftigkeit und ist daher sehr schmuck- und perspektivlos. Das Problem sehe ich nicht darin, dass der Populismus ideell aus der Sachzwanglogik ausbrechen möchte (was nur scheinbar der Fall ist), sondern dass er diese vielmehr regressiv wie aggressiv zuspitzt. Der Populismus mag nun auch wenig Perspektive haben, aber er behauptet sie lautstark, er ist etwas für Stimmung und Psyche. Er befriedigt Defizite scheinbar, wo das die herkömmliche Politik nicht mehr kann. Er setzt auf Fiktionen. Bezüglich der anstehenden Probleme, national wie global, erscheint mir der Populismus als absolut blank, aber er versteht es prächtig, dies in seiner Großmäuligkeit zu verschleiern.

Will der Populismus praktisch werden, d.h. das Gebiet der medialen Aufregung und Aufstachelung Richtung Umsetzung verlassen, scheitert er. Das Parallelprogramm, nämlich regieren und opponieren zugleich, läuft nicht, selbst wenn es als mediales Zappen eine Zeit lang funktionieren kann. Die Simulation hat ihre inneren Grenzen, so sehr sie sich auch zu wandeln versteht. An die Regierung gekommen erweist sich der Populismus stets als unfähig und hilflos. Interessant ist freilich auch, dass ihm solcherlei wenig schadet. Berlusconi ist zweimal abgestürzt, nun ist er allerdings schon zum dritten Mal italienischer Ministerpräsident. Keine Blamage scheint von Dauer. Anscheinend funktioniert das Gedächtnis auch nur noch kurzfristig. Aber selbst, wenn einer dieser Typen gänzlich scheitern sollte, bleibt der Typus übrig. Und dieser findet sich ein neues Gesicht.

Salih Selcuk: In Zeiten der Globalisierung entstand eine neue ‘altlinke’ Intelligenzia, die niemals das Wort ‘Kapitalismus’ in den Mund nimmt und unter Demokratie eine über der Wirtschaft stehendes mystisch-erhabenes System versteht (wie man früher ‘Sozialismus’ mystifizierte), das man heute subjektiv so oder so gestalten könnte. Also es kommt nur auf ‘freien Willen’ an. Wie weit ist diese altlinke Art mit dem Populismus verwandt, der auf einen ‘gesunden Menschenverstand’ pocht und es zu verallgemeinern versucht?

Franz Schandl: Der Populismus projiziert reale Anliegen (über deren Qualität man freilich streiten kann) auf oberflächliche Reize und Reflexe. Seine Faszination besteht geradewegs in der Einfachheit und Beschränktheit seiner Losungen und Lösungen. Diese Einfachheit unterstellt stets, dass jemand etwas hintertreibt. Es gilt nunmehr die dunklen Mächte und ihre Machenschaften zu benennen, man sucht Sündenböcke. Der Populismus urteilt vor jeder Kenntnis, in die er sich gar nicht erst versetzen will.

Der angesprochene gesunde Menschenverstand mag tatsächlich eine Klammer sein. Ich frage mich immer, warum der so positiv besetzt ist, die ganze aufklärerische Tradition (Leibniz, Kant, Hegel, Marx, Adorno) übte scharfe Kritik an ihm. Sogar Antonio Gramsci meinte, das Alltagsbewusstsein sei „ein schrecklicher Sklavenhändler des Geistes“. Dem gesunden Menschenverstand liegt ja die unzulässige Verallgemeinerung der Erfahrung zugrunde. Er baut auf Wahr-Scheinlichkeit und Nachahmung auf, er ist nicht kreativ, sondern reaktiv. Diese Beschränkung wird sodann zur Richtschnur des Denkens. Es wird gar nicht mehr reflektiert, Theorie wird überhaupt als Feind betrachtet. Ein Kriterium ist sicher, dass diese Linke weniger fragte, was sie will, sondern immer das kapitalistisch formatierte „Volk“ (populus, demos) verherrlichte. D.h. freilich auch, dass sie dessen Ressentiments nicht nur bagatellisierte, sondern meinte, diese kopieren zu müssen, um massenwirksam zu werden. Solch Verhalten ist selbst populistisch, es ist die Auslieferung an die Stimmung durch ihre Einforderung. Ein fataler Teufelskreis.

Zur Demokratie. Es ist vielleicht wirklich so banal: Demokratie ist für ihre Bekenner das, was sie sich gerne unter ihr vorstellen. Daher beschwören sie auch stets eine ideale Demokratie gegen die real existierende. Doch historisch gesehen ist die Demokratie ein Produkt des Kapitalismus. Sie ist mit seinem Aufstieg und seinem Erfolg eng verbunden. Sie war nicht das Gegenprogramm, sondern Demokratisierung meinte das Begleitprogramm im politischen Sektor. Demokratie ist die Übersetzung der ökonomischen Konkurrenz in die politische Sphäre.

Demokratie und Kapitalismus gehören also zusammen, aber auch Diktatur und Kapitalismus gehören zusammen. Conclusio: Auch Demokratie und Diktatur gehören zusammen, sie gehören dem gleichen Universum bürgerlicher Gesellschaftlichkeit an. Sie sind nicht idealistisch anhand bestimmter Normen zu diskutieren. Wobei ich nicht sagen will, dass diese substanzielle Identität nicht auch eine große Differenz beherbergen kann. Jeder, der beides erlebt hat, kennt den Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur, und den will ich, z.B. punkto politische Verfolgung, gar nicht klein reden. Trotzdem darf diese Differenz nicht blind machen gegen die Gemeinsamkeiten. Diktatur sagt immer, dass ein System schwach ist, das Kapital nicht aus sich heraus reagieren kann , sondern Hilfe benötigt, Demokratie sagt, dass kapitalistische Systeme stabil und entwickelt sind, dass diese Beherrschung schon zu einer Selbstbeherrschung geworden ist, der innere Zwang den äußeren ersetzt.

Was die Demokratie im Normalfall mit dem Recht lösen will, das erledigt die Diktatur in vielen Regelfällen mit Gewalt oder zumindest deren Androhung. Aber Recht und Gewalt schließen sich alles andere als kategorisch aus, weder Demokratie noch Diktatur sind einseitig festgelegt. Gewalt wie Recht sind als Geschwister Kinder der Herrschaft, nicht der Freiheit.

Gehen wir noch einen Schritt weiter und stellen ein paar blasphemische Fragen: Was ist eine Fabrik? – Ist das Demokratie? Oder eine Schule? – Ist das Demokratie? Von der Bürokratie oder der Armee brauche ich wohl gar nicht mehr zu reden. An diesen ungestellten, aber doch stellbaren Fragen erkennt man, dass Demokratie als grundsätzliche Klassifizierung unserer Gesellschaft (gemeint ist die westliche Demokratie) wenig taugt. Der Begriff, ich deutete es schon an, ist schräg und ideologisch schwer beladen. Sinnvoller wäre zu fragen: Welche Räume zur freien Betätigung haben wir und welche nicht, anstatt dauernd über Demokratie zu faseln. Kurzum: Der freie Wille hat äußerst beschränkte Betätigungsfelder, und auch dort kann er nicht wählen, sondern meistens nur auswählen. Und am Markt kann er überhaupt nur zugreifen, wenn er über Geld verfügt, da nützt der freie Wille wenig, wird er ohne Bezahlung tätig, wird man zum Delinquenten.

Salih Selcuk: Das Mehrheitsprinzip ist immer noch das wichtigste Prinzip der Demokratie. Aber auch des Populismus. Die Mehrheit will mehr Arbeit, mehr Produktion, mehr Konsum usw. Wenn man sich auf den demokratischen ‘Volkswillen’ verlässt, braucht man soviel Rohstoffe, dass man dafür – am besten eine ‘zweite Erde’ haben müsste. Der Volkswille und die kapitalistische Lebensweise, die kaum in Frage gestellt werden, könnten dazu führen, dass das Klima kippt. Wir haben mit einer populistischen Demokratie keine erfreuliche Zukunft. Wenn es ernst wird, wird das Volk auch nicht gefragt. Das wird vielleicht keinen Sinn mehr haben. Wo liegt die Grenze zwischen der heutigen schlecht haltbaren Post-Demokratie (Colin Crouch) und eines gerechten nach-demokratischen Systems? Wie kann man dem Populismus Herr werden und Demokratie zu einem gerechtes zukunftstauglichen System umwandeln?

Franz Schandl: In ihrer Analyse sind die Postdemokraten oft sehr erfrischend, weil sie illusionslos einiges sehen, was die linken Liebhaber der Demokratie nicht sehen wollen, allerdings kommen jene über restriktive Vorschläge bzw. Resignation nicht hinaus. Ihre Analysen landen letztlich in der Affirmation, nicht in der Emanzipation. Die Postdemokraten sehen deutlich, dass das System der Demokratie nicht effizient genug arbeitet für die Anforderungen der globalen Wirtschaft. Letzteres setzen sie voraus. Aber damit sitzen sie in der Falle. Sie können daher nur noch nahelegen, dass man im Interesse der Funktionalität des bürgerlichen Systems die Partizipationsmöglichkeiten minimieren muss, weil sie den Vollzug und vor allem das Geschäft stören. Innerhalb der Demokratie (=Populismus) läuft das wohl auf dieses Szenario hinaus.

Die Mehrheit ist immer ein übermäßiges Quantum einer Gesamtheit. Mich interessiert primär diese Totalität, die Beschaffenheit derselben. Denn sie prägt wesentlich das Verhalten der Mehrheit und der Minderheiten. Der angesprochene Konsumismus, d.h. die Konsumwut als Ersatz für ungelebtes Leben, ist ja dezidiert eine Frage bürgerlicher, nicht menschlicher Konstitution. Die kapitalistische Seele schreit nach „mehr“ von dem Selben, weil sie sich etwas Anderes gar nicht vorzustellen vermag. Das ist das eigentliche Problem. Die Menschen sind doch so abgestumpft und ressentimentgeladen, weil der gesellschaftliche Alltag sie durch ihre Arbeitsprozesse und Fernsehprogramme, Geschäfte und Erledigungen, Bildungssysteme und Politiken dementsprechend formt.

Aber die Alternative kann auch nicht der autoritäre Zwang sein, der die Menschen unter ein restriktives Kuratell stellt. Im Prinzip sollen wir doch partizipieren und kooperieren, vor allem sollen wir auch Zeit dafür haben. Die Leute haben schon gefragt zu werden. Nur müssten sie sich über ihre Interessen ihrer Charaktermasken (=gesellschaftlichen Zwangsrollen) hinaus entwickeln, also emanzipieren. Der Ansatz der Befreiung liegt, so paradox es scheint, darin, das bürgerliche Gerede vom freien selbstbestimmten Subjekt zu boykottieren und zu destruieren, nicht es als ideologisches Credo vor sich herzutragen, egal ob sich das jetzt „freier Mensch“ oder „mündiger Bürger“ benennt. Die gibt es noch nicht, es ist vielmehr notwendig, sich der eigenen Befangenheiten bewusst zu werden und sich ihnen offensiv zu stellen.

Gleichzeitig muss mit dem Wachstum, der Akkumulation, dem Kapitalverhältnis, der Arbeit, dem Geschäft, dem Markt gebrochen werden. Das sind große Aufgaben, aber ich sehe keine Alternativen dazu, schon gar keine immanenten. Da sind also viele Grenzen zu überschreiten. Zuerst im Kopf, dann aber auch in der Wirklichkeit. Jenseits von Demokratie und Diktatur muss doch noch eine andere Welt liegen. Sie gilt es zu entdecken.

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auf türkisch erschienen unter dem Titel: Kafamizda asmamiz gereken sinirlar var in: insancil (istanbul), sayi 225, Nisan 2009, S. 52-56.

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