Stimmen zur Wertkritik II

In unregelmäßiger Folge veröffentlichen wir: Einschätzungen, Erfahrungen, Ermutigendes, Kritik und Nachdenkliches.

Diesmal Andreas Exner mit „EIN DURCHGANGSSTADIUM MIT OFFENER PERSPEKTIVE“

Mein Engagement mit der Wertkritik in der Prägung durch Krisis und die Streifzüge währte mehrere Jahre lang. In dieser Zeit publizierte ich Artikel, die dem Kanon der Wertkritik weitgehend, jedoch fortschreitend weniger entsprachen und war Mitglied der Redaktion der Streifzüge. Meine politische Welt in dieser Zeit spaltete sich auf zwischen einem Aktivismus im Kontext der Globalisierungskritik und verschiedener Versuche, wertkritische Einsichten in praktische Initiativen umzusetzen einerseits, dem Bemühen um theoretische Klärungen andererseits.

Eine nun geraume Zeit nach dem Ausstieg aus der Redaktion der Streifzüge, der etwa zeitgleich mit der Trennung der Krisis erfolgte, und einer weitergehenden intellektuellen Entwicklung sowie Erfahrungen in praktisch-politischen Zusammenhängen, möchte ich die Gelegenheit ergreifen, ein persönliches Resümee zu ziehen – ein gleichwohl vorläufiges, dem Gegenstand entsprechend.

Die Wertkritik vermochte, wie mehrfach festgestellt worden ist, für eine bestimmte Zeit lang eine bemerkenswerte Anziehungskraft auszuüben, angefangen bei Robert Kurz‘ „Kollaps der Modernisierung“ über das „Manifest gegen die Arbeit“ der Krisis-Gruppe bis zum publizistischen Kulminationspunkt von Kurz‘ „Schwarzbuch Kapitalismus“. Was daran faszinierte wie inspirierte war wohl zweierlei: der Mut, grundlegende Kategorien, mithin Selbstverständlichkeiten der herrschenden gesellschaftlichen Ordnung in Frage zu stellen, ja, zu attackieren, und die Hoffnung auf eine ebenso grundlegende Überwindung dieser Ordnung zu vermitteln oder zu begründen.

Der spezifische Einsatz der Wertkritik in dieser Prägung lag meines Erachtens darin, eine bestimmte Form wissenschaftlicher Autorität für ein radikal-emanzipatorisches Ziel in Anschlag zu bringen. Dies verweist ebenso auf die letztendliche Grenze dieses Ansatzes einer außeruniversitären Theoriebildung wie damit eine Erklärung seiner zeitweisen Attraktivität verbunden sein mag.

„With the benefit of hindsight“, wie es im Englischen heißt, zeigen sich naturgemäß bestimmte Widersprüche und Limitierungen deutlicher als dies in Zeiten einer persönlichen Involvierung in die entsprechenden sozialen und intellektuellen Zusammenhänge der Fall gewesen ist. Manches blieb zu jener Zeit im Ungefähren, was sich unter anderen Umständen auch hätte anders darstellen können, im Nachhinein jedoch eine bestimmte Kontur erhält, die im Folgenden zu skizzieren ist.

Diese Skizze gebe ich in thesenhaft verkürzten Bemerkungen und wähle die Vergangenheitsform, weil der relativ stabile und fest umrissene intellektuelle und soziale Zusammenhang der Wertkritik nicht mehr besteht – nicht zuletzt, weil sich der gesellschaftliche Kontext verändert hat.

  1. Die Instrumentalisierung von Wissenschaft

Die Wertkritik hat ein zwiespältiges Verhältnis zur Wissenschaft unterhalten. Tatsächlich war die Theoriebildung dieser Strömung substanziell nicht von der universitären Wissenschaft verschieden. Das illustriert nicht nur die publizistisch dominante Form der Abhandlung mit ihren Verweisen auf eine kanonisierte Literatur und die Abarbeitung an wesentlich vom akademischen Feld vorgegebenen Problem- und Fragestellungen, sondern ebenso die Form des Seminars. Kaum verhohlen finden sich in einigen Texten Indizien für den Wunsch, das eigene theoretische Bemühen möge unter anderem im universitären Kontext Anerkennung finden. Dennoch war mit der Wertkritik dem manifesten Anspruch nach eine Absetzung von einer akademischen, sozial in der Universität verorteten Wissenschaft verbunden. Es ist schwer zu entscheiden und wohl grundsätzlich zweideutig, ob dieser Widerspruch eher dem agitatorischen Leitmotiv der Theoriebildung geschuldet war oder sich aus einem daraus resultierenden Unvermögen oder mehr einem Unwillen speiste, den akademischen Regeln vollgültig zu entsprechen. Die Biographie von Robert Kurz selbst mag dafür im Vergleich mit dem Lebensweg eines ehemaligen Genossen erhellend sein. Nach Anfängen im SDS, gemeinsam mit Elmar Altvater, schlug Robert Kurz den Karriereweg eines außeruniversitären Agitator-Theoretikers ein, der als „Meisterdenker“ einem jedenfalls weitgehend nicht universitär verankerten Publikum als zentraler Bezugspunkt galt, während der andere Anerkennung im akademischen Feld gefunden und nach einer wohlwollenden Erwähnung des „Kollaps der Modernisierung“ nicht mehr auf Kurz‘ Publikationen verwiesen hat.

Ich meine, dass die Wertkritik Wissenschaft instrumentalisiert hat, weil sie deren Problemstellungen aufnahm, in hohem Maße (aber nicht vollständig) deren Regeln in der spezifisch akademischen Form Folge leistete und nicht zum Geringsten von deren Erträgen zehrte, gleichwohl in letzter Instanz eine die universitäre Wissenschaft noch transzendierende Autorität beanspruchte – die Autorität der Wissenschaft also keineswegs unterminierte, sondern auf ihre Fahnen zu heften und diese noch höher zu hissen suchte. In Bourdieu’schen Termini gesprochen hat die Wertkritik das symbolische Kapital der Wissenschaft in Anspruch genommen und versucht eigene Maßstäbe des guten (theoretischen) Geschmacks zu setzen, sich als taste-maker und damit ihre Überlegenheit zu beweisen. Dieser Versuch erhoffte seinen Rückhalt in einer wiedererstarkenden radikalen Linken – wie prononciert auch der Wunsch mitunter vorgetragen gewesen sein mochte, sich von eben dieser abzusetzen. Dem lag eine Fehleinschätzung zugrunde. Das Gewicht linksradikaler Ansätze im akademischen Feld verdankt sich den Kräfteverhältnissen in den übergreifenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und nicht der Kraft des besseren Arguments. Die Abhängigkeit der akademischen Theoriebildung von diesen Kräfteverhältnissen hat Harry Cleaver im Vorwort zu „Reading Capital Politically“ anschaulich argumentiert. Und eben diese Kräfteverhältnisse haben sich seit dem Aufkommen der Wertkritik weiter zu deren Ungunsten verschoben.

Daraus folgt übrigens nicht, dass die Wertkritik in genannter Prägung keinen Einfluss gehabt hätte. Sie hat ihn jedoch kaum im akademischen Feld ausgeübt, mit marginalen Ausnahmen in manchen Debatten zu Postwachstum und Nachhaltigkeit, sondern eher in linksradikal orientierten Strömungen, die inzwischen eine Reihe von Praxisinitiativen in gewissem Maße mitgestalten, oder aber in solchen in einem Übergangsbereich zu antideutschen Positionen, wie mir scheint.

Im Nachhinein erklärt sich mir selbst damit der Eindruck, dass die akademische Theoriebildung bestimmter Strömungen der Linken nicht gar weit von der Wertkritik entfernt war – deren heftigen Versicherungen des Gegenteils zum Trotz. Das in wertkritischen Kreisen und darüber hinaus intensiv diskutierte Buch „Die Wissenschaft vom Wert“ von Michael Heinrich sei als Beispiel genannt.

Die eigentlich substanzielle, und sozial weitgehend einseitig gebliebene Kontroverse mit der einschlägigen akademischen Theoriebildung vollzog sich daher auch nicht entlang der Frage der sozialen Form, das heißt von Wert und Recht beziehungsweise Ökonomie und Politik – obwohl auch hier leidenschaftlich das Gegenteil beteuert worden ist. Die Kontroverse verlief theoretisch betrachtet vielmehr entlang der Frage der Krisentheorie. Gerade in dieser Hinsicht weist die wertkritische Literatur in der Prägung von Krisis und Streifzüge wohl auch markante Defizite auf. Nicht nur André Gorz hat sich in einem seiner Briefwechsel dereinst gewundert, dass beispielsweise Robert Kurz von der Vielfalt krisentheoretischer Ansätze kaum oder nicht Notiz zu nehmen schien.

Es wäre einer eigenen Untersuchung vorbehalten, allein die Wandlungen der Krisentheorie bei Robert Kurz nachzuzeichnen. Ich habe an anderer Stelle nur angedeutet, dass dieser bestimmte Zeitdiagnosen der bürgerlichen Soziologie marxistisch umzudeuten versuchte und solcherart als Argumente für einen „finalen Zusammenbruch“ der kapitalistischen Produktionsweise betrachtete.

Sozial hatte dieses Selbstmissverständnis fatale Folgen. Der von bestimmten, sozusagen zivilisierenden Regeln des akademischen Feldes entbundene und verklausuliert für die Zwecke politischer Agitation zum Einsatz gebrachte, dementsprechend emotional stark aufgeladene Autoritäts- und Herrschaftsanspruch von Theorie gelangte vor allem aus diesem Grund zu einer durchaus brachialen, manchmal auch brutalen Durchsetzung – mehr als an der Universität der Fall.

  1. Ein fortgesetzt bildungsbürgerlicher Anspruch

Wie Bourdieu bemerkt hat, erschwert die spezifische Klassenposition der Intellektuellen im sozialen Raum im besonderen Maße, die eigene gesellschaftliche Bedingtheit und damit auch den partikularen Standpunkt theoretischen Wissens zu erkennen. Weit davon entfernt, der für die intellektuelle Position charakteristischen Annahme zu genügen, ein universelles, von außen an die Gesellschaft herangetragenes, objektives Wissen zur Verfügung zu stellen, ist Theorie durch die gesellschaftliche, von sozialer Herrschaft durchzogene Arbeitsteilung bedingt. Solange diese gesellschaftliche Ordnung besteht, ist die Kluft zwischen Theorie und Praxis daher auch weder zu überwinden noch zu affirmieren, wäre jedoch zu reflektieren. Dies misslang freilich nicht nur der Wertkritik, sondern ist ebenso für die akademische Wissenschaft ein veritables Hindernis.

Die Eskamotierung des Klassenbegriffs durch die Wertkritik – die jedoch uneindeutig und damit widersprüchlich blieb, finden sich doch insbesondere in den Veröffentlichungen von Robert Kurz durchaus und zudem recht traditionelle Klassenanalysen, nicht zuletzt in ideologiekritischer Hinsicht – machte eine solche Haltung der kritischen Selbstreflexivität erst recht unmöglich. Die Illusion der „unklassifizierbaren Klassifizierer“, wie Bourdieu die vorherrschende Selbstsicht der Intellektuellen benannt hat, konnte vor diesem Hintergrund leicht in den Anspruch einer besonders radikalen, und damit sozial in bestimmten Milieus auch besonders distinguierenden Haltung münden, wonach das Ziel einer Emanzipation von Herrschaft gerade im Theoretiker (und, seltener, in der Theoretikerin) einen Vorschein gewonnen haben sollte. Es ist so nur folgerichtig, dass die Kritik der Aufklärung in einen eklatanten Widerspruch zum fortgesetzten Autoritätsanspruch wertkritischer Theorie geführt hat ebenso wie dieser in Widerspruch zu seiner geringen gesellschaftlichen Wirkmächtigkeit trat.

Auch dort, wo die Veröffentlichungen der Wertkritik nicht der Form einer theoretischen Abhandlung genügen, sondern Essay sind oder eine freier gestaltete Reflexion, ist doch eine Vielzahl von Elementen nicht nur der bürgerlichen Bildung vorausgesetzt, sondern mehr noch einer elaborierten und prinzipiell an akademischen Ansprüchen zu messenden Theorie, sodass eins sich – „with the benefit of hindsight“ – nur darüber wundern kann, wie je eine besondere Relevanz für die zugegeben spärlichen Versuche emanzipatorischer Praxis erhofft werden konnte.

Mehr noch: Der besondere Autoritätsanspruch und damit die Herrschaftsfunktion von Theorie, insbesondere dort, wo diese praktisch oder praktisch relevant werden will, untermauert die hierarchische Trennung von Hand- und Kopfarbeit, von akademisch Gebildeten und den so genannten Bildungsfernen, die heute wohl das brennendste politische Problem darstellt.

Die in Absagen an den gescholtenen Traditionsmarxismus so beredte Wertkritik ist dahingehend nicht nur der „spezifischen Art der Entfremdung der Intellektuellen“, so Bourdieu, erlegen. Sie hat auch ein jedenfalls für ihre eigene Entwicklung folgenreiches Missverständnis der gesellschaftlichen Verhältnisse kultiviert. Die Stellung der Intellektuellen in der historischen Arbeitendenbewegung war durch deren Ausschluss von der gesellschaftlich legitimen Bildung bedingt ebenso wie durch das Bemühen der in dieser Bewegung engagierten Intellektuellen, sich die Anliegen der arbeitenden Klasse zu eigen zu machen (was nur unvollständig gelingen konnte). Jene Intellektuellen waren zudem bemüht, ein Verhältnis des Vertrauens aufzubauen, das Grundlage für die gesellschaftliche Relevanz der immer wieder von Intellektuellen geführten oder beeinflussten Arbeiterparteien war, das seit den 1980er Jahren aus verschiedenen Gründen nicht mehr existiert.

Einer der dafür wohl ausschlaggebenderen Gründe war die von Bourdieu beschriebene „Flucht aus der Gesellschaft“, die von Teilen der Bewegungen nach 1968 angetreten worden war, die zwar nicht die reale Eingebundenheit in die zurecht kritisierten gesellschaftlichen Zwänge beseitigte, aber die sozial distinguierende Imagination hervorbrachte, durch besseres Wissen und, nota bene, höhere Bildung sich diesen Zwängen zumindest teilweise entziehen zu können. Wer wollte sich schon mit den niederen alltäglichen Bedürfnissen nach Arbeitsplatz und Einkommen auseinandersetzen, der und dem die weihevolle Theorie oder die linksradikale Agitation eine Befreiung davon kündete?

Nicht zuletzt bei Robert Kurz war die Verbindung zwischen einem notwendig elitären, damit herrschaftlichen Anspruch auf eine höhere Einsicht in die gesellschaftlichen Verhältnisse einerseits, und einem „arbeiterfreundlichen“ Eintreten für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen andererseits zwar gegeben. Allerdings hat die Wertkritik in dieser Prägung wohl vor allem aufgrund der sozialen Distinktion von der akademischen Soziologie und Politikwissenschaft, aber auch durch ihre äußerst eingeschränkten, spendenbasierten Forschungsmittel, im Verlauf der 1980er Jahre kaum mehr die Frage danach gestellt, wie sich Arbeitsverhältnisse, Weltsichten, Problemverständnisse, Lebensproblematiken und Bewältigungsstrategien von Arbeitenden empirisch darstellen. In jener Periode findet sich in Veröffentlichungen zumindest noch der Verweis auf die Vermutung – wohl weitgehend von damals gängigen soziologischen Befunden übernommen – es sei eine neue Generation von Arbeitenden herangewachsen, die eine Abneigung gegen die Arbeit auszeichne und daher für die wertkritische Theoriebildung ansprechbar, will heißen: agitierbar sei.

  1. Die Illusion der überragenden Einsicht

Wer die Gelegenheit hat sich mit empirischer Forschung zu befassen, der oder dem werden manche der in wertkritischen Veröffentlichungen vorfindlichen Diagnosen aus eigener Erfahrung heraus weniger leicht von der Hand gehen. Dazu bedarf es indes keiner eigenen empirischen Forschung, allerdings erhöhter Vorsicht. Denn auch die vorgeblichen Einsichten der sich empirisch verstehenden Sozialwissenschaften sind nicht unkritisch zu übernehmen.

Tatsächlich ist erstaunlich – oder erschreckend – wenig über die gesellschaftlichen Verhältnisse jenseits der an sich und für ihren je eigenen Zweck notwendigen abstrakten Kategorien einer Kritik der Politischen Ökonomie bekannt. Allein das Wahlverhalten von Menschen, bestenfalls von einer landläufigen Motivforschung auf Basis von Telefonumfragen erhoben, würde einige Fragen aufwerfen, die zwar zu Vermutungen einladen, gerade angesichts drängender politischer Entwicklungen, deren Beantwortung jedoch, so wäre nüchtern festzustellen, einer soliden empirischen Grundlage in erheblichem Maße entbehrt. Vermeintlich oder tatsächlich emanzipatorische soziale Praktiken, die wohl im Regelfall eine Mischung aus widersprüchlichen Komponenten sozialen Verhaltens darstellen, deren Sinn sich wesentlich erst aus ihren Kontexten erhellt, wären ein anderes Beispiel. Die Erfordernisse einer linksradikalen Agitation, die sich heute meist an die gesellschaftlichen Gruppen mit dem höchsten kulturellen Kapital richtet, anstatt an jene mit einem relativ niedrigen, wie in den Hochzeiten der marxistisch inspirierten Intellektuellen der Arbeitendenbewegung, scheinen gerade in diesen entscheidenden Punkten keine Zeit zu lassen.

Dieser Sachverhalt schadet auf mittlere Sicht allerdings vermutlich auch der Agitation.

Ich möchte nach diesen dem Selbstverständnis einer theoretischen Strömung ziemlich querliegenden Thesen einige Schlussfolgerungen zu formulieren suchen.

Dabei komme ich erneut auf Pierre Bourdieu zurück. Es steht zu vermuten, dass seine Skepsis gegenüber der emanzipatorischen Bedeutung von Intellektuellen, wie sie jedenfalls in „Die feinen Unterschiede“ formuliert ist, doch Bestand hat. Es sind, wie Bourdieu argumentierte, besondere historische Situationen, in denen sich eine ähnliche Zielrichtung der Kämpfe der Intellektuellen und bestimmter Fraktionen der Arbeitenden ergibt. Sie kann nicht vorausgesetzt werden, sondern muss auch politisch hergestellt werden. Der Anspruch von Radikalität, wo er sich in besonderem Maße auf theoretische Einsicht beziehungsweise auf eine Stilisierung des eigenen Lebens bezieht – und die Kultivierung theoretischer Einsicht ist Teil eines spezifischen, ein hohes symbolisches Kapital beanspruchenden Lebensstils – erweist sich unter den gegebenen sozialen Verhältnissen in einer politischen Rationalität eher als problematisch denn als in einem positiven Sinn avantgardistisch.

Dies wäre für sich genommen ein schwer wiegender Einwand gegen einen besonderen Stellenwert theoretischer Kritik emanzipatorischer Zielsetzung überhaupt. Doch ergibt sich auch der Sinn einer solchen Kritik ebenso wie der anderer sozialer Handlungen vollständig erst aus einem bestimmten Kontext. Die theoretischen Kämpfe der Intellektuellen als dominierte Fraktion der herrschenden Klasse sind strukturhomolog zu den weit weniger und zudem logisch nicht konsistent, nicht in einer abstrakten politischen Rationalität artikulierten Kämpfe der untergeordneten Klassen. Die theoretische Kritik in der Form einer kritischen Theorie ist der spezifische Ausdruck nicht nur eines Autoritäts- und Herrschaftsanspruchs und von sozialer Distinktion, sondern auch eines Widerstands gegen die Dominanz der ökonomisch herrschenden Klassenfraktionen. Als ein solcher Widerstand ist die theoretische Kritik auch in einer abstrakten politischen Rationalität von legitimer Bedeutung.

Allerdings würden die Regeln einer kritischen Wissenschaft erfordern, dass die Theorie sich selbst eine Grenze zieht und ihre eigenen Beschränkungen reflektiert, nachdem es ihr nicht möglich ist, sie zu überschreiten, diese daher nur bei Strafe der Beschädigung ihrer beschränkten Funktion zu überschreiten versuchen kann. Theoretische Kritik wäre unter anderem Selbstkritik der Theorie.

Dies würde jedoch nicht nur eine Selbstbeschränkung implizieren, sondern könnte auch eine Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten bedeuten. Nicht nur wäre ein größerer Freiheitsgrad in der publizistischen Form zu erreichen, wäre erst einmal der Anspruch der Wissenschaftlichkeit – für sich und für den ihm bestimmten Zweck legitim – in seine Grenzen gewiesen und als solcher ausgewiesen. Auch wäre das selektive Theorieverständnis zu erweitern, das die Wertkritik gepflogen hat und die marxistische Theoriebildung im Ganzen kennzeichnet. Die noch innerwissenschaftlich gangbaren Möglichkeiten verschiedener Formen einer gegenstandsverankerten Theoriebildung – in der meist wohl eher als Schlagwort verstandenen Grounded Theory auf spezifische Weise methodisch konsistent systematisiert und empirisch erprobt – wären ein Beispiel für zumindest alternative Bezüge von Theorie auf Praxis. Damit freilich wäre erforderlich sich auf andere Perspektiven und ein anderes Verständnis von Theorie einzulassen. Das bedeutet nicht, einer unkritischen, bloßen Systematisierung des Vorfindlichen zu huldigen. Es würde allerdings bedeuten, sich vom scheinbar universellen, objektiven und unangreifbaren Standpunkt der traditionellen, insbesondere der marxistischen Intellektuellen zu entfernen.

Die stärkste theoretische Kritik, die letztlich auch den Ausschlag für eine politische Relevanz derselben gibt, war immer schon die systematische Darstellung menschlichen Leidens und der Aufweis von praktischen Möglichkeiten, es zu lindern oder perspektivisch es zu überwinden. Dieses Unterfangen muss von den sozialen Praktiken von Menschen selbst seinen Ausgang nehmen.

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