Weitermachen

KOLUMNE Rückkopplungen

von Roger Behrens

„Popkultur ist in der Lage, Orte herzustellen, in denen das Subjekt verschwinden und in eine andere Welt eintreten kann als die, die ihm per Herkunft und ‚Identität‘ verordnet wurde. Diese Orte können auch Nichtorte sein; Orte, die es nicht gibt, die implodiert sind oder die sich aus der kulturellen Geographie ihrer Umgebung herausgesprengt haben. Imaginäre Räume, isolierte Nischen oder Fluchtlinien, die von den örtlichen Realitäten wegführen.“ Frank Apunkt Schneider
„Space is the place.“ Sun Ra
fürs kleine sternchen

Eine neue testcard ist erschienen. Die Nummer 20 – ein mögliches Jubiläum, kein wirkliches. Thema: „Access denied“. Eröffnet wird die testcard mit zwei kurzen Texten, die jeweils eine Seite füllen – es sind Nachrufe, einer von Johannes Ullmaier, einer von Jonas Engelmann. Martin Büsser ist tot. Er ist im letzten Jahr, am 23. September 2010, gestorben. Ullmaier: „Und was immer das Falsche, in dem es ein Richtiges nicht geben soll, dagegen auffährt: Dieses Nicht-Egal-Sein macht am Ende doch den Unterschied ums Ganze.“ Engelmann: „Das Weitermachen war unser Versprechen an Martin, ein Versprechen, bei dem wir nicht wussten, ob wir es würden einhalten können.“ Und: „Das Weitermachen der testcard hält Martins Kritik am Leben.“

„Weitermachen!“ soll Herbert Marcuse dem durch die Folgen des Attentats schwer verletzten Rudi Dutschke vor vier Jahrzehnten geschrieben haben. Peter Marcuse sagte, „Weitermachen!“ wäre das Lebensmotto seines Vaters gewesen, „simply weitermachen!“ Das war 2003, als das Grab von Herbert Marcuse nach Berlin verlegt wurde, seines Geburtsortes wegen.

Das Grab. – Ich bin in Mainz zum Vortrag eingeladen – „Popkulturkritik und Gesellschaft“, ein Titel in Anlehnung an Adornos Essay „Kulturkritik und Gesellschaft“, geschrieben 1949. Der Schlusssatz: „Der absoluten Verdinglichung, die den Fortschritt des Geistes als eines ihrer Elemente voraussetzte und die ihn heute gänzlich aufzusaugen sich anschickt, ist der kritische Geist nicht gewachsen, solange er bei sich bleibt in selbstgenügsamer Kontemplation.“ Daran hat sich noch immer Kulturkritik abzuarbeiten, als kritische Theorie, als kritische Gesellschaftstheorie. Und auch als Praxis. Martin hat das gemacht, hat Anfang der Neunziger den Ventil-Verlag mitgegründet, wo auch seit über fünfzehn Jahren die testcard erscheint. In Mainz besuche ich den Verlag in seinen neuen Räumen. Martins umfangreiche Bibliothek ist hier aufgebaut, ein kleines Zimmer ist entstanden, ein Provisorium. Etwas Zeit habe ich noch und ich fahre zum Waldfriedhof, suche Martins Grab. Ich finde es schließlich am Rand, ein junger Baum, an dessen Fuß die Urne eingegraben ist. Dahinter Felder, ein Acker. Anti-Folk.

Die Lücke. – Friedhöfe zählt Michel Foucault zu den anderen Räumen, zu den Gegenräumen, den Heterotopien. Ich habe die testcard bei meinem Friedhofsbesuch dabei. Es ist die erste testcard ohne Martin, und die letzte mit ihm. Im Besprechungsteil finden sich noch einige CD-, DVD- und Buchkritiken, zum Teil im Krankenhaus geschrieben. „Intensität ohne Erklärungsbedarf“, heißt es in einer Plattenrezension. Hier ist Stille, im Sinne von John Cage, den Martin sehr schätzte – und mit dem er, wie ich in Mainz erfuhr, einen kleinen Briefwechsel führte: Stille der Musik, um eine Pause, nämlich eine Klanglücke zu schaffen für andere Geräusche. Hier scheint es besonders viele und verschiedene Vögel zu geben, die vor sich her zwitschern, die singen.

„Access denied“ ist der Haupttitel der testcard. Zusatz: „Ortsverschiebungen in der realen und virtuellen Gegenwart“, also das Themenfeld: Stadt, Netz, Global Village, Raum und Zeit, Cyberspace, Zentrum und Peripherie, oben und unten etc. „Was und wo sind so genannte linke Orte? Wie steht es um deren Geschichte, möglichen Wandel und Zukunft?“ (Editorial) Es geht also um: Dislokationen. Schwellen. Lücken. „All das ist nicht mehr da und diese Lücke wird bleiben“, notiert Engelmann in seinem Nachruf. Immer wieder geht es in dem Heft um Lücken.

Utopie. – Das Cover zeigt eine Fotografie von Marc Cohen, 1977. Eine Vorortstraßenszene, USA, wahrscheinlich Chicago oder Detroit. Ein schäbiges Haus im Hintergrund, ein schäbiges Auto am Straßenrand. Auf dem nur noch aus losen Brocken von Betonplatten bestehenden Fußweg kniet ein kleiner Junge, die Hände und Arme in einer Position des Karate, so wie Kinder es machen. Er macht eine düstere Miene, scheint mit seinem Blick zum Kampf bereit. Und doch hat seine Haltung etwas Andächtiges, als würde er beten, als sei es eine Meditation: Arme und Hände bilden, angewinkelt und gerade ausgestreckt, ein Kreuz. – Jonas Engelmann erzählt mir, dass Martin dieses Foto von Cohen zuletzt als Schreibtischhintergrund auf seinem Computer hatte. Und nun steht er hier wieder im Vordergrund, auf der testcard 2011, als Titelheld – zwischen den Orten, einem Vexierbild gleich, bei dem die Figur zwischen dem Realen und dem Virtuellen wechselt, zwischen 1977 und heute. In dieser Zwischenzeit beziehungsweise in diesem Zwischenraum ist verschwunden, was einmal die Dialektik zwischen konkreter Utopie (Bloch) und negativer Utopie (Adorno) ausmachte, letztlich eine Ortsverschiebung jenseits der realen und virtuellen Gegenwart, also jenseits des Realen und jenseits des Virtuellen. Jenseits des Pop. Eine Utopie der Gesellschaft. Heute ist die Utopie durch den Pop besetzt, wenn nicht ersetzt. Anders gesagt: Früher zielte die Kritik (auch die Kritik, die im Namen des Pop formulierte wurde) auf die Möglichkeit der Wirklichkeit, auf die wirkliche Bewegung des Potenziellen. Heute zielt die Kritik (nunmehr: vor allem die als Pop repräsentierte) auf die Auflösung des Realen in die Netzwelt. Aus der konkreten Utopie wird die Feier des abstrakten Raums, und aus der negativen Utopie wird die Hypostasierung der positiven Virtualität.

Weitermachen, ja. Die Frage ist allerdings, in welche Richtung, ob schließlich die Ortsverschiebung einen Horizont kennt, ein Ziel hat und gegebenenfalls sogar Weltveränderung ist. Der Junge auf der Fotografie von Cohen gibt dafür einen Hinweis, dass solches Weitermachen gerade in der unbedingten Notwendigkeit einer Großen Weigerung sich auf das Detail, den Augenblick, die Situation konzentriert, also das versucht, was Walter Benjamin einmal als Forderung formulierte, „im unendlich Kleinen zu interpolieren“. Dafür braucht es vielleicht das, was Frank Apunkt Schneider in der neuen testcard als kleine Identität fordert. Auch im Sinne der Ortsverschiebung, ihrer Geschichte und nicht bloß virtuellen, sondern real-möglichen Zukunft. Insofern muss es wohl doch unbedingt heißen: „Weitermachen!“

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