Wie viel bürgerliche Geisteswissenschaft braucht der Mensch?

Anmerkungen zum Philosophiclum in Lech

von Alfred Fresin

Das massive Eingreifen des Staates zur Rettung des Finanzsystems zum Zwecke des Erhalts des Geldes als Reichtum und auch Reichtumsquelle nahmen Politologen, Philosophen, Historiker und Politiker zum Anlass, sich beim Philosophicum in Lech (welches „oft am Puls der Zeit“ sei, Standard 25./26.9.2010) diesmal der Frage: „Der Staat. Wie viel Herrschaft braucht der Mensch?“ zu widmen. Die Ansammlung von ein paar anerkannten Geistesgrößen war Grund genug, dass die Medien auch davon berichteten.

Schon die Frage zur Thematik verrät einiges über den Impetus der Diskutierenden. Mit dieser Frage verlässt man nämlich die Wissenschaft, die doch zu klären hätte, wie Staat und Herrschaft beschaffen sind, also welchen Inhalt und Zweck heutzutage staatliche Herrschaft hat, und widmet sich vielmehr dem Nutzen von Herrschaft. Es wird so getan, als ob die Herrschaft bzw. der Staat quasi ein Lebensmittel für den Menschen sei, auf das er von Natur aus angewiesen wäre. Wer auf diesem Standpunkt steht, für den ist eine Antwort von vornherein ausgeschlossen: Die Menschen brauchen zwar Speise und Trank etc. aber keine Herrschaft. Auch die Verwendung der beliebten Verallgemeinerung Mensch, die in ernsthaften Untersuchungen der Ökonomie und Gesellschaft nichts verloren hat, verrät die Abgehobenheit der Denker am Arlberg. Sie übersehen geflissentlich die unterschiedliche Stellung zu Herrschaft von Beherrschten und Herrschenden. Letztere üben jene aus, doch an diese Herrschaften, offensichtlich Übermenschen, denken die Philosophen bei der Kategorie Mensch gar nicht, sondern an das Fußvolk, das der Knute mehr oder weniger bedürfe.

Missglückt sei Herrschaft jedenfalls, wenn über sie das Verdikt „failed states“ gesprochen wird, so der Politologe Herfried Münkler. In diesen „Territorien“ könnte sich keine stabile Herrschaft mit „loyalen“ Untertanen etablieren. Ein Horror für die meisten Politologen (und auch Politiker), die nichts so sehr schätzen, wie eine von den Bürgern anerkannte Staatsgewalt.

Es wurde auch darüber nachgedacht, ob nicht der Staat heutzutage durch den Markt ersetzt werden könnte:
„Was aber soll der Staat noch, wenn doch der Markt in modernen Gesellschaften alles regeln kann? Die von der österreichischen Schule der Ökonomie vorbereitete (sic!) und von Reagan und Thatcher radikal praktizierte Rücknahme staatlicher Verantwortung gilt als die stärkste Herausforderung speziell des kontinentaleuropäischen Verständnisses von staatlichen Einrichtungen.“ (Michael Freund, Standard vom 25./26. September)

Die im Sinne neoliberaler Tradition aufgeworfene Frage unterstellt eine Trennung von Markt und Staat, die realiter nicht gegeben ist, denn Markt und Geld können ihre „segensreichen“ Wirkungen nur vollbringen, wenn Staatsgewalten dahinter stehen, die das garantieren. Wenigstens das hätte einem bei den Bereinigungsaktionen der Finanzkrise auffallen können. Lächerlich beim Kommentar wirkt nicht nur der eitle Hinweis auf Österreichs Beitrag zu einer weltpolitischen Ära, sondern auch die Einbildung, dass sich Politiker von dieser Schule leiten ließen. Privatisierungen und fiskalpolitische Maßnahmen werden als Rückzug staatlicher Herrschaft gedeutet. Das Gegenteil war der Fall, denn die beiden genannten Politiker nahmen doch ihre „staatliche Verantwortung sehr „radikal“ wahr, um ihr Staatswesen in Sachen Macht und Reichtum voranzubringen: So reduzierte z.B die „Eiserne Lady“ mit dem Einsatz aller staatlichen Mitteln den Einfluss von Gewerkschaften und ließ u.a. den Falklandkrieg führen. Reagan erhöhte das staatliche Defizit von 0,9 auf 2,6 Billionen Dollar, indem er gehörig staatliches Geld zwecks Aufrüstung in den Markt pumpte und strengte u.a. eine Invasion auf Grenada an.

Konrad Paul Lissmann, österreichischer Paradephilosoph und Symposium-Leiter gab schließlich auch sein Ergebnis der Denkanstrengungen bekannt: „Der Staat ist die Gefahr, aber womöglich (sic!) das Rettende auch. Es ist vertrackt.“ Damit sprach er bestimmt nicht nur vielen Philosophen sondern auch den Politikern aus dem Herzen: daran ließe sich nämlich ermessen, wie schwierig ihr Geschäft sei.

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