Coitus non est

Streifzüge 44/2008

von Franz Schandl

Die Leute bumsen nicht. „94 Prozent sind zu faul für den Sex“, heißt es in der U-Bahn-Gazette Heute vom 29. Oktober 2008. Das ist wohl wahr. Aber sind sie nun wirklich zu faul? Die Leute verzichten doch wohl nicht deswegen, weil sie nicht wollen, sondern weil sie nicht können. Ihr kapitalistischer Alltag macht das Selbstverständlichste unmöglich. In der Jugend vermag man sich mit einiger Energie noch darüber hinwegzusetzen, aber je älter man wird, desto schwieriger wird es, seinen Lüsten in befriedigender Weise zu frönen. Der Geschlechtsverkehr erscheint ganz einfach als zu anstrengend. Reifer Sex braucht Zeit um zelebriert zu werden, braucht ein Ambiente, braucht Muße, letztlich ist er ein Kunstwerk. Kein Wunder, dass unter solchen Voraussetzungen viele zu Surrogaten greifen und manche überhaupt ihre Bedürfnisse verdrängen und vergessen. Sie sind ihnen nicht gegönnt.

Der Großteil der Einschränkungen und Störungen ist aber nicht dem Alltag an sich geschuldet, sondern der spezifischen Beschaffenheit ebendieses. Wenn die Leute permanent auf Trab gehalten werden und gestresst sind, sich als Leistungs- und Karriereidioten gegeneinander betätigen, dann bringen sie füreinander keine lustvolle Sinnlichkeit mehr zustande. Ihre Phantasien können sich nicht entwickeln, sie selbst wirken träge und müde. Anstatt dass sie es fröhlich treiben, sind sie Getriebene. Abzuschalten wird immer schwieriger.

Das Ficken, falls das schon aufgefallen ist, ist in seiner Grundbeschaffenheit kein Akt der Konkurrenz, sondern einer des Schenkens, gemeinhin Hingabe genannt. Wer dauernd hergenommen wird, kann sich freilich nicht mehr hingeben. Das ist übrigens auch eine der allerwichtigsten Motivationen, den Kapitalismus abzuschaffen, und zwar weil er das Sexualleben systematisch zerstört. Gerade dessen Potenzen werden weit unter ihrem substanziellen Level gehalten. Diese fortwährende Erniedrigung der Menschen ist zweifellos eine veritable Katastrophe.

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