Die eine Liebe

zu: A. Gorz, Brief an D.

Aus: Neue Zürcher Zeitung, 10.10.2007

Anrührend und aufrichtig – André Gorz und sein „Brief an D. „

„Jeder von uns möchte den anderen nicht überleben müssen. Oft haben wir uns gesagt, dass wir, sollten wir wundersamerweise ein zweites Leben haben, es zusammen verbringen möchten.“ So lauten die Schlusssätze der „Lettre à D. „, eines offenen, eines erstaunlichen Liebesbriefes, erschienen im September vergangenen Jahres, den André Gorz an seine Frau Dorine gerichtet hat. Knapp sechzig Jahre zuvor, an einem Herbstabend im Lausanne des Jahres 1947, waren sie sich erstmals begegnet. Es war dies, wie es in kitschigen Biografien hiesse, eine „schicksalhafte“ Begegnung: Sie, die junge Engländerin, und er, der „Austrian Jew“, der 1923 in Wien als Sohn eines jüdischen Vaters und einer katholischen Mutter zur Welt gekommen war, blieben fortan zusammen. Sie waren unzertrennlich wie Philemon und Baucis, und auch der Tod vermochte sie nicht zu scheiden. Wie berichtet, haben sich André Gorz und die seit Jahren schwer kranke Dorine, er vierundachtzigjährig, sie dreiundachtzigjährig, vor zwei Wochen in ihrem in der Champagne gelegenen Haus nahe der mittelalterlichen Stadt Troyes gemeinsam das Leben genommen.

Philosophisch unbegründete Liebe

Es war ein angekündigter Freitod – zudem ein letzter und höchster Ausdruck jener Selbstbestimmung in Freiheit, um deren Bedingungen Gorz‘ gesamtes philosophisches und sozialtheoretisches Werk kreist. Gorz‘ Werk? Nein, es war, wie der kürzlich in deutscher Übersetzung publizierte „Brief an D.“ herausstreicht, von Anfang an ein gemeinsames Werk, wie auch die Beziehung zwischen den beiden, der ein für alle Mal geschlossene und eingehaltene „Liebespakt“, ein gemeinsames Werk, ein gemeinsames Projekt war.

„Ich hatte“, schreibt Gorz, rückblickend auf die Zeit in Lausanne und seinen ersten grossen Schreibversuch (er arbeitete lange Jahre an einem existenzialphilosophischen Essay, der schliesslich unveröffentlicht blieb), „ich hatte grosse Schwierigkeiten mit der Liebe, denn es ist unmöglich, eine philosophische Erklärung dafür zu geben, warum man, unter Ausschluss aller anderen, nur eine bestimmte Person liebt und von dieser geliebt werden will“. Da konnte ihm auch eine andere entscheidende Begegnung zunächst nicht weiterhelfen, die Begegnung mit Sartre, den Gorz 1946 ebenfalls in Lausanne kennengelernt hatte und dem er zeitlebens verbunden blieb (1961 trat er dem Redaktionskomitee von Sartres Zeitschrift „Les Temps modernes“ bei). Nur dreissig Seiten über die Liebe in „Das Sein und das Nichts“!

Der Pakt, den Sartre und Beauvoir geschlossen hatten, beruhte auf bedingungsloser Offenheit und Transparenz, liess aber die Möglichkeit anderer Partnerschaften offen; der Pakt, den André Gorz und D. schliessen, beruht auf dem in den Augen mancher Zeitgenossen altbacken wirkenden Konzept der absoluten Treue, auch der sexuellen. Diese Liebe erfindet und erhält sich als bewusste, stets aufs Neue bestätigte Wahl. Damit war für Gorz die Liebe zu Dorine auch Grundstein für ein philosophisches Gebäude, das er, angefangen beim autobiografisch geprägten „Verräter“, mit dem er 1958 als Autor hervortrat (und zu dem Sartre ein Vorwort beisteuerte), in den folgenden Jahrzehnten errichten sollte. Diese Liebe war auch ein Modell jener kleinen, dezentralen Gemeinschaften, in denen Gorz, wie etwa im „Abschied vom Proletariat“ (1980) dargelegt, Zellen eines selbstbestimmten, den modernen kapitalistischen Tauschmechanismen entzogenen Lebens sah.

Im vergangenen Jahr noch sagte Gorz in einem Gespräch mit Michel Contat: „Man tut nie das, was man will, und man will nie das, was man tut. So ist ein jeder heteronom, fremdbestimmt. Und doch tut man das, was man glaubt tun zu müssen, weil man sich in der Lage fühlt – und also in die Lage bringt -, es zu tun. Auf diese Weise dehnt sich, und sei es nur in ganz geringem Masse, die Sphäre unserer Autonomie, unserer Selbstbestimmung aus. Man muss akzeptieren, dass man endlich ist, dass man hier ist und nicht anderswo, das man dieses tut und nicht jenes, dass man nur dieses Leben hat.“ Der Mensch, hier klingt noch deutlich die Diktion Sartres nach, wählt aus vielen Möglichkeiten; und in dieser Wahl, in der Liebe etwa, erfindet und bestimmt er sich selbst.

Kein Wort von D.

Man verhilft sich zur Existenz im Akt der Wahl. Gorz, der sich als einen jungen Mann beschreibt, der die Existenz verweigerte (weil er nichts sein, nichts wählen wollte), kommt erst durch die Begegnung mit Dorine zur Existenz, zur Liebe, die eine Wahl erzwingt. Und doch: Gorz, der nur dieses eine Leben – seines – hatte und wollte, war ein Mann mit vielen Namen. Als Gerhard Hirsch war er geboren worden; als Gérard Horst ging er nach dem „Anschluss“ Österreichs nach Lausanne, wo er die Schulzeit beendete und ein Studium der Chemie aufnahm; als André Gorz wurde er ab Ende der fünfziger Jahre zu einem der wichtigsten intellektuellen Vertreter der undogmatischen Linken; und unter dem Namen Michel Bosquet absolvierte er eine glänzende Laufbahn als Journalist und Leitartikler, der sich insbesondere gesellschaftspolitischen und ökonomischen Fragen widmete. 1964 gehörte er zu den Mitbegründern des französischen Wochenmagazins „Le Nouvel Observateur“ (damals noch „France-Observateur“). Hinter diesen Existenzen, hinter dem Spiel der Sprachen auch (die Muttersprache Deutsch hat Gorz früh hinter sich gelassen, er schrieb auf Französisch, sprach mit Dorine nur Englisch) bleibt als Konstante die Liebe zu D. Seine zahlreichen Bücher sind, so Gorz, Frucht des dauernden Zwiegesprächs mit ihr, seine Karriere als Journalist wäre ohne sie, sein „Archiv“, nicht möglich gewesen.

Der “ Brief an D. “ ist ein anrührendes, ein aufrichtiges Buch. Es ist Lebensrückblick, Epilog, intellektuelle Autobiografie – und mit jeder Zeile Hommage an die vom Tode bereits gezeichnete Gefährtin. Aber es ist auch ein heikles Buch. Unweigerlich fühlt man sich bei der Lektüre an Theweleits „Buch der Könige“ erinnert, stellt sich die Vorstellung vom Schreiben als einem Spiel mit Damenopfer ein. War es auch hier so? D. hat dazu stets geschwiegen . . .

Jürgen Ritte

André Gorz: Brief an D. Geschichte einer Liebe. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Rotpunktverlag, Zürich 2007. 98 S. , Fr. 24. -.

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