KEINE ZEIT MEHR oder JE SCHNELLER, DESTO SCHNELLER!

von Franz Schandl

LOTHAR BAIER: Keine Zeit! 18 Versuche über die Beschleunigung, Verlag Antje Kunstmann, München 2000, 223 Seiten, € 16, –

Die modernen Menschen sind Opfer ihrer eigenen Geschwindigkeit: „Vielen geht vieles, wenn nicht fast alles, viel zu schnell“ (S. 8). Immer ist etwas los, immer ist etwas zu tun. Aber wie sich wehren, wo es doch dann gegen Marktgesetze ginge, die heute mindestens so beeindrucken und prägen wie Naturgesetze? Wer nicht mitkommt, dem wird übel mitgespielt. Wer das Tempo der Zeit nicht hechelt, bleibt auf der Strecke, kommt auf das Abstellgleis. Wehe dem, wir können nicht…

Bewegung ist der allmächtige Modus, Dynamik ihr heiliger Rhythmus, Beschleunigung ihr ehernes Prinzip. Wer das nicht akzeptiert, wirkt weltfremd, ja antiquiert, wie aus einer anderen Zeit. „Innezuhalten“ (S. 7) empfindet das bürgerliche Individuum als verlorene Zeit, als einen Wunsch, dem es sich eigentlich zu versagen hat. Tempus, so scheint’s, ist nur noch als Tempo zu haben. Die Zeit ist ins Rasen geraten. Sie läuft einem davon. Beschleunigung bedeutet ja, daß das, was soeben gewesen, so schnell wie möglich (ver)schwinden soll. Daß Zeit wie im Flug konsumiert wird. Flott haben wir zu sein. Das Leben ist zu einer ausgesprochenen Hetze geworden: Je schneller, desto schneller!

Die rasanten Veränderungen erzwingen einen fluchtähnlichen Zustand. Egal wohin, bloß weg, und zwar so schnell wie möglich. Flexibilisierung befiehlt, es an keinem Ort aushalten zu dürfen. Nicht da zu sein, sondern sich immer-fort (zusammengeschrieben wie getrennt) zu bewegen. Und werden wir gestaut, dann staut es auch innen, es ist zum Auszucken, schon vor einer Stunde hätte man wo anders sein müssen. Unsere Zeit ist portioniert in Zeiträumen umschließenden Zeitpunkten. Terminisiert sind wir, ein entsprechendes Timinig ist daher unbedingt notwendig. Unvorhergesehenes bringt uns aus der Fassung, versetzt uns in Hektik, bereitet uns Stress. „Seit die westliche Moderne neben den anderen Ressourcen ihrer Produktivität auch die Zeit immer rationeller bewirtschaftet, sind brachliegende Zeiträume zum teuren Luxus geworden. Die Strände der Zeit von einst sind vermessen, begradigt, eingezäunt und zubetoniert.“ (S. 110)

„Die Beschleunigung, ursprünglich als Hilfe bei der Anstrengung gedacht, die Geschichte selbst in die Hand zu nehmen, ist der Aufklärung entglitten und hat sich am Ende mit Technik und Ökonomie zu einer nicht mehr steuerbaren Gewalt verbunden.“ (S. 25) Gleich einer organischen Beschaffenheit determiniert sie ihre sozialen Folgen; selbstbestimmte und richtungsweisende Eingriffe sind weitgehend unmöglich. Die kommerzielle Existenzweise, der Zwang zur Verwertung diktiert den Ablauf und dimensioniert die Läufer.

Menschliche Kommunikation verwirklicht sich zusehends als Totschläger der Zeit. Keine freie Minute soll mehr sicher sein. Mobilität ist zum kategorischen Imperativ des Daseins geworden. Die Welt, die muß einen nicht nur haben, sie will einen ganz und gar besetzen, jederzeit an-, auf- und abrufbar – wie ein Computerprogramm. Wir haben hochzufahren und uns zu melden. Das Anschlußgebot ist dem Subjekt Norm. Bei Strafe des Anschlußverlusts ist jenes einzuhalten. (vgl. S. 102) Das Handy ist genau unter dem funktionalen Gesichtspunkt eines ewigen Bereitschaftsdienstes zu betrachten: Nicht erreichbar zu sein, ist eine Versündigung wieder die aktuelle Möglichkeit. Möglichkeiten auszulassen, meint Chancen verpassen.

Vor allem muß auch stets mitbedacht werden, wieviel Zeitgewinn durch Zeitverlust erkauft wird. Beispiel Computer: „Das bißchen Zeitgewinn, den der schnellere Prozessor ermöglichte, war durch den vorausgegangenen Zeitverbrauch beim Installieren, Konfigurieren und Umgewöhnen längst aufgefressen worden.“ (S. 59) Aber nicht bloß den Geräten und Programmen haben wir uns anzupassen, sondern ebenso dem ständigen Wechsel der Geräte, der permanenten Erneuerung der Programme.

Am neuesten Stand zu sein, heißt auf dem Laufenden zu bleiben. Doch das ist – man lese genau – ein Widerspruch in sich. Das Bleibende und das Laufende sind Gegensätze. Ist etwas im Laufen, ist es mit dem Bleiben vorbei. Gewöhnung kann nicht stattfinden. Nicht nur die sich rationalisierende Arbeit ist Hast, auch der Alltag ist den kürzer werdenden Intervallen seiner Zeit unterworfen. Das Ticken der Uhr ist allgegenwärtig. Unbarmherzig erhöht sie ihre Schlaganzahl, was besagt, es soll immer mehr pro jeweiliger Einheit in sie gepackt werden. Die negative Dialektik der Zeit geht dann so: Je mehr wir sie verkürzen, desto deutlicher geht sie uns ab.

Von all dem und vielem anderen schreibt Lothar Baier. Auch wenn man sich gewünscht hätte, daß der Autor manchmal enger an seinem vorgegebenen Hauptthema geblieben wäre, sind seine Abschweifungen allemal interessant. Der Reformstau etwa tritt auf als „Massengrab der Reformen“ (S. 170). Das leidige Modebewort wird entschlüsselt, indem es hinterfragt wird: „Oder sind einfach viel zu viele Reformen unterwegs, wie Autos auf der Autobahn zwischen Erfurt und dem Hermsdorfer Kreuz? Ist das große Reformverkehrshindernis der wilde Reformverkehr selbst? “ (S. 163) Wahrlich, es staut nämlich nicht bloß zu den Reformen hin, es staut sich auch von den Reformen her. Reformen stauen zum Reformstau.

Wer stoppt die Beschleunigung? , fragt Baier und behauptet unter Berufung auf die „Notbremse“ des im Band oft zitierten Walter Benjamin die Notwendigkeit einer „Zeitrevolte“ (S. 213). Menschen leiden freilich nicht nur an der ihnen aufgedrängten Schnelligkeit, sondern auch an der Asynchronität der verschiedenen Zeitebenen, auf denen sie sich tummeln. Jene werden in diesen gleichzeitig gestreckt und gepresst, gedehnt und gedrückt, was ein Gefühl der Zerrissenheit hinterlässt. Diese Verquickung von Komprimieren und Entkomprimieren ist kaum auszuhalten. Es ist zum Rotieren. Das Phänomen des „in mehreren Zeiten leben“(S. 106) beschreibt der Publizist unter dem Begriff der „Hybridzeit“.

Gerade deswegen ist es zu simpel „zwischen Anhängern der Beschleunigung und Freunden der Langsamkeit“ (S. 74) zu eindeutige Fronten aufzumachen, vielmehr gilt zu fragen: Was soll schnell gehen? Was soll langsam sein? Zeit ist nicht primär eine Angelegenheit des Tempos, sondern eine der spezifischen gesellschaftlichen Konditionen, in denen sie sich bewegt. Vieles soll langsamer werden, aber einiges könnte durchaus schneller gehen. Zeitsouveränität bedeutet mehr als Entschleunigung.

Insgesamt hat Lothar Baier ein gut lesbares Buch vorgelegt, eines, das differenzierte Einsichten vermittelt, ohne jedoch große Vorkenntnisse vorauszusetzen. Seine Sprache ist unaufdringlich und unaufgeregt, seine Argumentation nachvollziehbar. Gemeinsam mit dem Autor sollte man sich übrigens Michel de Montaigne anschließen, der einst sinngemäß vorgeschlagen hat, die gute Zeit nicht zu vertreiben, sondern festzuhalten und auszukosten.

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