Schüssels Spiritismus

von Lorenz Glatz

Bundeskanzler Schüssel hat den Nationalfeiertag dazu benützt, den reformunfreudigen KollegInnen im Land die Leviten zu lesen. Er konstatierte, dass alle, die – wie auch der Bundespräsident – angesichts der anstehenden Reformen stets von Dialog, breiter Basis und zu hohem Tempo reden, die „notwendigen Reformen“ „eigentlich ablehnen“. Das tut Schüssel in der Tat nicht. Er hat den Blick fürs Notwendige, und wie weiland Gustav Noske ist auch er dazu bereit, den dermaligen Notwendigkeiten zu entsprechen, auch wenn er dazu gewissermaßen „der Bluthund sein“ muss. Solche Qualitäten braucht es in der Tat, wenn man den Sachzwängen folgen will und den Zuschnitt von Mensch und Umwelt auf die aktuellen Marktbedingungen zu seiner Aufgabe gemacht hat. Allerdings tut Schüssel seinen kleinmütigen Widersachern insofern Unrecht, als sich auch diese selbstredend dem Weg-Reformieren der vom Regierungschef angeprangerten „Strukturen und Besitzstände von gestern oder vorgestern“ verschrieben haben. Bloß an großspuriger Dynamik überragt sie unser nicht allzu großer Bundeskanzler um Haupteslänge. Die Krankheit jedoch ist diagnostiziert, und in Punkto Therapie geht der Streit trotz aller Lautstärke nur darum, wessen Klientel tiefer ins Fleisch geschnitten wird.

Dass die Patienten aber so oder so die vielen „notwendigen“ Operationen nicht überleben werden, ist absehbar – und wird ignoriert, denn Realitätsverweigerung gehört zu den moralischen und intellektuellen Grundtugenden der Marktwirtschafter und Warengesellschafterinnen, nicht nur der therapierenden PolitikerInnen, sondern auch ihres Publikums.

Seit zwanzig Jahren zerbröselt auch hierzulande der Sozialstaat und verschlechtern sich die Bedingungen für den Verkauf der Arbeitskraft, ob nun rot-blau, rot-schwarz oder schwarz-blau an der Regierung waren. EU-weit liegt derzeit im Ranking der Sozialchirurgen die rot-grüne Koalition der BRD einsam an der Spitze.

Nicht einmal die neuen Rekorddefizite in Berlin, Paris und Washington heizen mehr die Konjunktur an, sie verbrennen bloß noch die restlichen Sozialleistungen von morgen. Und doch braucht es Stacheldraht, Hundestaffeln, Grenzschutz und Küstenwache, um Millionen Flüchtlinge aus den von der Marktwirtschaft schon ausgespieenen Regionen des Trikonts und Osteuropas von den sterbenden „Paradiesen“ der EU und Nordamerikas fernzuhalten.

Was Klima, Luft, Boden, Wasser betrifft, so liegen seit Jahrzehnten die wissenschaftlichen Erkenntnisse vor, dass sie die Marktwirtschaft nicht vertragen. Bald zwanzig Jahre schon folgt eine Umweltschutzkonvention der anderen, mittlerweile tun dies auch die von unserer famosen Lebens- und Wirtschaftsweise ausgelösten Naturkatastrophen.

Wenn das Denken und die Erkenntnis des Niedergangs folgenlos bleiben, ist eine Gesellschaftsformation an ihrem Ende. Die Lemminge gehen ins Wasser, auch wenn ein anderes Ufer nicht mehr erreichbar ist. Wenn Menschen solches tun, wird es gespenstisch. Bundeskanzler Schüssel beschwört denn auch „der Zukunft gegenüber“ den „Austrian Spirit“. Spiritismus für die Weiterfahrt in den Untergang, mehr an Denken ist am Ende dieser Wirtschaft offenbar nicht mehr drin.

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