Freiheitliche Sirenen 3

Streifzüge 4/1999

von Gerhard Scheit und Franz Schandl

"3. Lieferung" einer längeren ‚dialogischen‘ Auseinandersetzung zwischen Gerhard Scheit und Franz Schandl über den Fall Haider und den Rechtsextremismus

Gerhard Scheit: Referenzpunkt und/oder Versatzstück

Kehren wir also zum konkreten Fall Haider zurück. Du schreibst, bei mir scheine eine "eigenartige Verklärung vorzuliegen", wenn ich "Rassismus, Antisemitismus und Vernichtung zu apriorischen Bedingungen" mache, statt sie als "Verlaufsformen von Kapital und Staat" zu sehen. Abgesehen davon, daß ich nicht weiß, was daran verklärend sein soll, denke ich, daß damit eine wesentliche Frage berührt ist. Tatsächlich läßt sich das, was heute in Deutschland und Österreich geschieht, nur begreifen, wenn der Nationalsozialismus und sein Vernichtungskrieg als Voraussetzung dieser Gesellschaft genommen wird: in diesem präzisen nationalsozialistischen Sinn handelt es sich um eine postfaschistische Gesellschaft, in der wir leben. Und Haider ist derjenige, der diese Voraussetzungen wieder zutage fördert.

Der Begriff der Verlaufsform ist demgegenüber fast so unspezifisch wie der der Zeit: es gäbe demnach verschiedene Verlaufsformen, gestern jene, heute diese. Da verläuft sich dann doch, was einmal geschah und heute ist. Der Punkt ist aber, daß alles was heute geschieht, das, was gestern geschah, zur Bedingung hat. Um dies festzuhalten, habe ich den Begriff des Referenzpunktes gewählt: Haider kann nur deshalb so elegant mit verschiedenen ideologischen "Versatzstücken" (Franz Schandl) operieren — so elegant, daß man schon von postmoderner Beliebigkeit sprechen möchte -, weil seine Zentralperspektive, in deren Fluchtlinien er die Versatzstücke herein- und hinausschiebt (eben hat er sich für frühere Stellungnahmen zum Dritten Reich entschuldigt! ), dem Kontinuum der Gesellschaft absolut entspricht. Es geht nicht um irgendwelche "Kontinuitäten", von denen so gerne die Rede ist, sondern um dieses Kontinuum: Der Reichtum unserer Gesellschaft verdankt sich im einzelnen wie im allgemeinen dem großen Vernichtungskrieg, das Wirtschaftwunder war eine Folge des Dritten Reichs, die Erfolgsgeschichte des Nachkriegslandes ein Resultat nationalsozialistischer Krisenbewältigung. Im selben Maß, in dem Wunder und Erfolg zu schwinden drohen, geben sie offenkundig ihren Ursprung preis.

Worin unterscheidet sich aber dann Haider noch von den anderen? Haider ist der erste, der sich wieder direkt und bewußt auf jenen Referenzpunkt bezogen hat, auf den die anderen offiziell immer nur indirekt und unbewußt bezogen waren, der erste, der im Namen dieses Referenzpunktes die Generationen versöhnt, den ‚positiven‘ Zusammenhang zwischen der Beschäftigungspolitik im Dritten Reich und der Erfolgsgeschichte von Nachkriegsösterreich hergestellt hat. Und die anderen Parteien, denen zunächst ob solcher Unverfrorenheit der Mund offenstand, versuchen ihm nun mehr und mehr nachzueifern. Schlögl und Bartenstein laufen, wie wir wissen, nicht nur in New York mit Haider um die Wette.

Die Verhaiderung des Landes als Zerfall der Demokratie zu begreifen, erscheint mir darum in gewisser Weise als leere Abstraktion. Mit ebensolchem Recht könnte gesagt werden, daß mit Haider die Demokratie in Österreich zu sich selbst kommt. Wie das Kapitalverhältnis heute seine Herkunft aus der ursprünglichen Akkumulation immer weniger verbergen kann, so die Nachkriegsdemokratie in Deutschland und Österreich die ihre im Nationalsozialismus. Daß in diesen Ländern jetzt aber beides zugleich abläuft — Tendenzen zur Bandenbildung und Bezugnahme auf die Volksgemeinschaft, äußere Auflösung traditionell-keynesianischer Arbeitsverhältnisse und innere Orientierung an der Beschäftigungspolitik des Dritten Reichs -, schafft offenkundig Verwirrung.

Müßte ich das Verhältnis zwischen Haider und der nationalsozialistischen Vergangenheit, wie es sich in deinen Texten darstellt, in Form eines Modells ausdrücken, so würde ich die Stufenleiter wählen: also ein noch immer dem guten alten Fortschrittsbegriff entlehntes Bild, das aber etwas Düsteres bekommen hat, da nun der Nationalsozialismus selbst zu einer Stufe, einem Modernisierungsschub, geworden ist; ihm folgte nämlich mit dem Fordismus westlicher Prägung und vor allem ganz zuletzt in der strahlenden spätjosephinischen Periode des Kreiskyschen Keynesianismus etwas irgendwie doch noch Fortschrittliches, Zivilisatorisches. Mit dem Ende dieser Periode — unsere Generation steht gewissermaßen an der Wasserscheide der Geschichte — setzt nun aber Entzivilisierung ein, Verwilderung der Demokratie, Auflösung in Bandenkriege. Und Haider wäre nun Ausdruck und zugleich Betreiber dieses letzten Stadiums. Da ihn in diesem Modell vom Nationalsozialismus eine ganze Stufe des doch noch irgendwie Zivilisatorischen, Fortschrittlichen trennt, kann es hier kaum eine Kontinuität zwischen Nationalsozialismus und Haiderei geben, Haider markiert eine grundsätzlich neue Stufe. Selbst wenn er sich auf den Nationalsozialismus beruft, ist dies streng genommen nur Schein: er verwendet "Versatzstücke", die auf der Stufe des NS noch sozusagen organische Bestandteile waren. Nach dem Modell dieser Stufenleiter gibt es eigentlich kein zurück — während die traditionellen Antifaschisten, die ein ähnliches Modell haben ("von der Nacht zum Licht") umgekehrt gerade davon ausgehen, daß Haider diesen Schritt zurück in den Nationalsozialismus machen möchte und machen wird, sobald man ihm Gelegenheit dazu gibt.

Im Unterschied dazu gehe ich eher von einer Art Bannkreis aus: der Nationalsozialismus hat den Punkt gesetzt, von dem aus alles wie in einem Bannkreis sich bewegt. Was auch immer getan wird, hat seinen Bezugspunkt in Auschwitz und im Vernichtungskrieg: der jüngste Krieg im Kosovo hat gezeigt, daß man keinen Krieg mehr führen kann, ohne darauf Bezug zu nehmen; daß Deutschland Macht nur akkumulieren und Europa sich zur selbständigen Kriegsmacht nur vereinen kann, wenn man sich stets auf den Mittelpunkt des Bannkreises bezieht. Haider hat diese Funktionalität früh schon entdeckt und sie vor allen anderen — wenn auch nur im kleinen — strategisch genutzt. Die Linke zeichnet sich im besten Fall dadurch aus, daß sie sich negativ auf diesen Bann bezieht, ihm freilich darum nicht einfach entkommt, denn den Bann aufheben könnte nur, wer die Voraussetzungen des Nationalsozialismus beseitigt: Kapital und Staat. Für das aufgeklärte Bewußtsein mag es natürlich sehr seltsam sein, mit solchen ‚religionsgesättigten‘ Begriffen zu operieren (obwohl ich mich hier immerhin aufs Kapital von Marx berufen könnte). Das Problem des aufgeklärten Bewußtseins ist aber stets, daß es sich aufgeklärter erscheint, als es wirklich ist. Je weniger ich mir jedenfalls Geschichte unter der Perspektive des Fortschritts denken kann, desto mehr Evidenz gewinnen Begriffe, die auf das Unbewußte, also auf reale Magie zielen: schließlich wurde die Geschichte durch die Universalisierung des Kapitals zum magischen Ort. Wäre die Periode vor dem Nationalsozialismus nicht auch besser zu begreifen, wenn sie im — gewiß anders gelagerten — Bannkreis der Französischen Revolution gedacht würde?

Damit hängt vermutlich auch zusammen, daß du — zur Beschreibung des Haider-Phänomens — mit den Begriffen rechts und links noch mehr anfangen kannst als mit den Begriffen Faschismus/Nationalsozialismus, während es sich bei mir genau umgekehrt verhält. Das wäre dann vielleicht schon der nächste Themenschwerpunkt?

Franz Schandl: Modus und/oder Modalität

Verklärend an deiner Sicht ist, daß (zumindest in dieser Debatte) Tendenz und Bedingung, Möglichkeit und Realisierung des Kapitals in eins zu fallen drohen; aus bestimmten Modalitäten gleich auf den Modus geschlossen wird, nicht aus dem Modus auf bestimmbare Modalitäten. Unter "apriorischen Bedingungen" kann ich nur verstehen, was sich permanent im Betriebssystem äußert: das Wertgesetz in Form von Verwertung und Entwertung, der Mechanismus der Konkurrenz zur Senkung des Kostpreises, die Abnahme in der organischen Zusammensetzung des Kapitals. Wie sich das Allgemeine konkret auslegt, da komme ich dann um gesonderte Untersuchungen nicht herum. Das Besondere ist ohne das Allgemeine nicht zu denken, aber das Besondere ist nicht das Allgemeine.

Die Frage ist auch, was denn postfaschistisch heißt. Daß der Faschismus überwunden wurde, oder aber, daß die Gesellschaft, in der wir leben das Resultat des Faschismus darstellt. Der Faschismus wurde nicht überwunden, sondern niedergeschlagen, da dürften wir uns einig sein. Erledigt hat ihn vielmehr das Zerfallen der fordistischen Phase des Kapitals. Jener ist nicht restaurierbar, da er auf diesem Boden nicht mehr gedeihen kann, was jedoch überhaupt nicht heißt, daß regressive, ja bestialische Formen ausgeschlossen werden können. Mit dem Ende des Fordismus wurde ein gesamtes System gesprengt, außer Versatzstücken der alten politischen Lager scheint mir nichts übriggeblieben zu sein, was aber nicht bedeutet, daß sie in neuer Form und Konstellation nicht wirksam werden können. Gemeinsam schätzen wir doch auch den Rassismus als keinen (ewig)gestrigen ein, sondern einen heutigen, der aus der Mitte aus der Gesellschaft, aus der Konkurrenz rührt, der Berührungspunkte in der Vergangenheit hat, aber nie und nimmer seine Grundlage.

Du sprichst vom Kontinuum der Gesellschaft, daß sich "im einzelnen wie im allgemeinen" der Reichtum unsere Gesellschaft dem großen Vernichtungskrieg verdankt. Das erscheint mir ziemlich überzogen. Der Faschismus war zweifelsfrei die Voraussetzung, aber das Resultat, in dem wir heute leben, das ist ebensowenig ohne die spezifische Nachkriegsgeschichte erklärbar. Ich denke etwa an die verschiedensten Recovery-Programme der US-Regierung, und damit ist nicht nur der Marshall-Plan gemeint. Der stets mitzudenkende Nationalsozialismus darf nicht alles andere zu untergeordneten Momenten degradieren, oder es müßte zumindest ausgeführt werden, was dazu berechtigt.

Das gesamtideelle Fernsehprogramm ist schon "echt" hiesig. Musikantenstadel und Hollywood-Schinken, englischsingige Ö3-Musik und todelnde Regionalsender, das ist kein Widerspruch, das ist typische Normalität. Und sie funktionieren auch auf der gleichen Wellenlänge einer falsch gewordenen Tonalität. Jörg Haider gedeiht unter diesen Bedingungen prächtig. Nicht zufällig machten ihn Disko und Bierzelt groß. Er ist aber nicht das eine ohne das andere zu sein. Der F-Führer ist die "tollste" Frucht der Demokratie in Zeiten ihrer postmodernen Auflösung. Reife und Überreife, Zuspitzung und Zerfall sind so keine sich ausschließenden Gegensätze, sondern betonen unterschiedliche Momente ein und desselben Prozesses.

Würde ich von Kontinuum sprechen, dann beträfe das die kapitalistische Warengesellschaft in ihrer ganzen räumlichen und zeitlichen Dimensionierung. Daß bei dir die konkrete Ausformung des Kontinuums zumindest hierzulande aufgeht in ihren faschistischen Bezüglichkeiten, das halte ich allerdings für eine Überbelichtung, durch die alles andere, was mir durchaus relevant ist, unterbelichtet wird.

Versatzstück und Referenz benennen ähnliches, aber mit einer doch klar unterschiedlichen Akzentuierung. Ist Haider ohne diese Referenz denkbar? — Ich denke, nein. Ist Haider durch diese Referenz kategorisierbar? — Ich denke ebenfalls nein. Im Einzelnen müßte dann überprüft werden, ob es sich um differente Qualitäten oder bloß Nuancierungen handelt. So ganz werde ich aber den Eindruck nicht los, daß man Versatzstück immer als ein "Es ist nicht so tragisch, es ist nicht so ernst" liest. Das ist nicht der Fall. Verselbständigte und wildgewordene Versatzstücke können in neuen Zusammenhängen durchaus Destruktivitäten entfalten, die jene zurückliegenden übersteigen. Aber das ist noch offen.

Insgesamt führt unsere Diskussion immer wieder hin zur Frage des Stellenwerts der deutschen (resp. österreichischen) Besonderheiten: Läßt das auch heute auf eine besondere Qualität dieser marktwirtschaftlichen Demokratien schließen oder nicht? Trotz notwendiger Differenzierung glaube ich, daß die Gemeinsamkeiten des Nordens, der Ökonomien des kapitalistischen Zentrums, das Entscheidende sind. Die zukünftigen Kriege verlaufen mehr nach dem Modell Huntington als nach dem Modell Hitler. Vieles, was ich von Haider höre und lese — vor allem auch sein letztes Buch -, paßt genau in dieses Bild. Man blättere Haider und man blättere Huntington: "Kulturen sind die ultimativen menschlichen Stämme, und der Kampf der Kulturen ist ein Stammeskonflikt in Weltmaßstab. " (The Clash of the Civilisations, S. 331) Die zentrale Referenz, auf die Haider verweist — und das steht in den Programmen, Schriften und Reden —

ist das christliche Abendland, das ja auch wirklich zur Disposition steht. Aber aus anderen Gründen.

Eine Differenz liegt wohl darin, daß wir trotz weitgehender Übereinstimmungen den Bombeneinsatz im Kosovo doch anders gewichten. Auch wenn der Krieg in Deutschland und Österreich aufgrund der vorherrschenden Ressentiments leichter legitimierbar gewesen ist, ja sogar, wenn er primär hier vorbereitet gewesen sein sollte, gehe ich davon aus, daß es sich dabei um keinen spezifisch deutschen Krieg, sondern um ein nördliches Polizeimanöver gehandelt hat, wie wir ähnliche in Zukunft noch einige erleben werden. Aus der Herstellung der Feindschaft gegen "die Serben", also aus der Motivationsbasis, läßt sich nicht der Charakter dieses Krieges erschließen. Keine Projektion, die eine Analyse ersetzt.

In der Passage über den Zusammenhang von Fortschritt, Haider und Hitler, fühle ich mich durchaus richtig wiedergegeben. Es muß nur dazugesagt werden, und das erinnert mich an unsere unabgeschlossene Fortschritts-Debatte (vgl. Weg und Ziel Nr. 4/96, 5/96, 1/97): Fortschritt ist nicht gleich Höherentwicklung, im Sinne von besser, zivilisierter, menschlicher, lebbarer. Was ich weggenommen habe, ist die positive Konnotation. Fortschritt wird sodann von einer affirmativen Größe zu einer kritischen Kategorie. Wenn ich den Fortschrittsbegriff entleere, ist das die einzige Möglichkeit, ihn nicht zu verwerfen. Ablehnung der Verneinung meint nicht Bejahung. Fortschritt beherbergt positive und negative Dialektiken in einem. Der Zustand, in dem wir uns befinden, ist, daß ich mal davon ausgehe, daß das Destruktionspotential im globalen Maßstab (und nicht nur in ihm) über die positiven Momente immer mehr obsiegt, ohne daß diese schon gänzlich verschwunden wären.

Auch mit dem Bannkreis habe ich vorerst wenig Probleme. Die Frage ist aber wiederum nur: Ist dieser Bannkreis hier, in Deutschland und Österreich grundsätzlich anders zu bestimmen, oder hat er durch den Nationalsozialismus nur besonders zu berücksichtigende Aspekte? Auch hier habe ich letztlich Schwierigkeiten damit, daß du den Nationalsozialismus als den Mittelpunkt des Kreises implizierst. Das wirkt wie eine negative Fixierung der deutschen Spezifika, die antideutsch gewendet, den Bannkreis wie ein Bannstrahl leuchten lassen. Denn die Abschaffung von Kapital und Staat, die du zurecht anführst, die trifft ja nicht nur die postfaschistischen Gesellschaften, die trifft ausnahmslos alle.

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