Wider den Gebrauchswert(begriff)

von Knut Hüller

Streifzüge 70/2017

 

  1. Gibt es einen Gebrauchswert ohne Ware? Wie hängen Gebrauchswerte mit der Ware zusammen, sind sie überhaupt ohne Wert resp. Tauschwert zu denken?

„Gebrauchswert“ ist keine Eigenschaft von Dingen, sondern eine Betrachtungsweise, also eine Kategorie. Diese Kategorie entstand in der Warengesellschaft, genauer in deren zentraler Ideologie, genannt Politische Ökonomie. Als Bestandteil dieser Ideologie beschreibt sie nicht ein Ding, sondern die (warenförmige) Art des Umgangs mit Dingen, und zwar auf eine in der Warengesellschaft entstandene verdrehte Art und Weise. Sie ist deshalb nicht von der Warengesellschaft zu trennen und wird mit ihr verschwinden. Mit physischen Eigenschaften von Dingen (egal ob Waren oder nicht) hat sie wenig zu tun.

 

  1. Sind Nutzen und Nützlichkeit positive Begriffe oder gar analytische Kategorien?

„Nutzen“ (englisch „utility“) ist die modernste Form der „Gebrauchswert“-Kategorie. Mit dem Begriff des Gebrauchswerts verband die klassische Ökonomie (und verbindet bis heute die marxistische) „objektiv“ und unveränderlich gedachte Eigenschaften materieller Dinge (oder moderner: „physischer Mengen“). Die Weiterentwicklung zum neoklassischen „Nutzen“begriff verlagerte den Inhalt dieser Kategorie auf die Subjektebene: sie beschreibt statt „objektiver“ Eigenschaften nun deren (eingebildete) Wirkungen auf Subjekte. Darin drückt sich u.a. die Fortentwicklung des Kapitalismus über seine industrielle Phase hinaus aus.

 

  1. Was macht der Terminus „Wert“ im Gebrauchswert? Ist die Herrschaft des Werts den Gebrauchswerten oktroyiert oder inhärent?

„Wert“ und „Gebrauchswert“ sind ein für das warenförmige Denken typisches Paar von Begriffen: keiner kann ohne den anderen existieren, sie stehen sich ausschließend gegenüber, und sie kämpfen um die Oberhand („Herrschaft“, „oktroyiert“). Andere solche Paare sind schwarz/weiß, Teufel/Gott, böse/gut, radikal/gemäßigt, Diktatur/Demokratie, Revolutionär/Revisionist, Ketzer/Rechtgläubiger etc. Das alltäglichste Paar sind Käufer/Verkäufer; beide kämpfen im Markt um den (ökonomisch: „Gleichgewichts-“) Preis, wobei stets der eine verliert, was der andere gewinnt. Wegen dieses Basisantagonismus gelang es bereits dem Begründer der Lehre vom „für alle guten“ Kapitalismus nicht, bis zu einem Wohlstand der gesamten Menschheit vorzudringen. Er schaffte es nur bis zum Wohlstand von (miteinander darum kämpfenden) Nationen.

 

  1. Macht der Begriff eines Gebrauchswerts überhaupt Sinn? Sind Gebrauchswerte universeller Natur, zumindest von hoher ontologischer Härte, unbeeindruckt von verschiedensten Produktionsverhältnissen, eine eherne und unhintergehbare Größe von Aristoteles bis hinein in den Kommunismus? Gibt es etwa einen Unterschied zwischen einem Gebrauchswert und einem Gut?

Meistens (auch weiter oben) ist nicht von „einem“, sondern von „dem“ Gebrauchswert die Rede. Der unbestimmte Artikel löst hier (beabsichtigt?) einen weiteren Kernbestandteil des wertförmigen Denkens zumindest teilweise auf: es kennt keine Vielfalt. Es betrachtet die (Waren-)Dinge am liebsten nur unter dem Gesichtspunkt ihres Tauschwerts. Ökonomen treiben diese Beschränktheit auf die Spitze, indem sie ganze Bibliotheken mit Versuchen füllen, „ihm“ auch noch eindeutige („alternativlose“) Zahlenwerte zuzuschreiben. „Den“ Gebrauchswert mit dem verräterischen bestimmten Artikel versucht man in gleicher Weise zu denken. Die Vielfalt der realen Welt bleibt dieser Art Denken verborgen. Ohne warenförmige Brille betrachtet kann ein Stück Eisen in zahllosen Funktionen auftreten, in der einen heute und in der anderen morgen: als Ballast, als Baustoff oder als Magnet, um einige bekannte Verwendungen zu nennen. Und natürlich als Instrument zum Töten von Menschen. Eine spezielle Vielfalt von Eigenschaften macht es zum „Eisen“; fehlte der Magnetismus, würde man möglicherweise „Aluminium“ denken.

 

  1. Können wir heute noch einfach von der „Nützlichkeit eines Dings“ oder vom „stofflichen Inhalt des Reichtums“ (beide Male Marx) sprechen, wo doch gerade der destruktive Charakter bestimmter Gebrauchswerte greifbar ist?

Der Gebrauch des Wortes „Reichtum“ verweist auf ein weiteres Element wertförmigen Denkens im „Gebrauchswert“begriff: es konzentriert sich auf Quantitatives und scheut Qualitatives wie „Verwendung“ oder „genug“. Ökonomisches Denken versucht diesen Gegensatz in perverser Weise aufzulösen, indem es „mehr“ zum obersten Ziel und damit zur (einzigen?) Qualität erhebt. Wenn es aber „den“ (irgendwie eindeutig definierbaren) Gebrauchswert oder Nutzen auf stofflicher Ebene gar nicht gibt, wie kann man „ihn“ dann messen? Ein Eisenwürfel mit 5 cm Kantenlänge ist größer als ein eimergroßer Block Schaumstoff, wenn man beide Objekte anhand ihrer Massen vergleicht, aber er ist kleiner bei einem Vergleich der Volumina. Kein solcher Vergleich liefert ein sinnvolles Kriterium dafür, welches Objekt besser als das andere ist. Stattdessen kommt es darauf an, mit brauchbaren Dingen sinnvoll umzugehen. Zum Eisen greift, wer Ballast sucht, und zum Schaumstoff, wer eine Schwimmweste braucht. Nur das wertförmige Denken kennt ein eindeutiges Kriterium für „größer“ als Synonym für „besser“. Es lautet: „teurer“.

 

  1. Was ist das Charakteristische des Gebrauchswerts der (Lohn-)Arbeit? Erzwingt geplante Obsoleszenz als Notwendigkeit der Verwertung einen tendenziellen Verfall der Gebrauchswerte? Ist die ökologische Krise zu dechiffrieren als Vernichtung der Gebrauchswerte und/oder Vernichtung durch die Gebrauchswerte?

Obsoleszenz und Umweltzerstörung zerstören keinen Gebrauchswert, sondern zeigen die Unterwerfung weiterer Bereiche unter die dominante Form des „Nutzens“ an: Dinge und Menschen dienen in der Warengesellschaft den Subjekten primär dazu, sich (Tausch-)Wert zu verschaffen. Eisen wird für Profit hergestellt und Arbeitskraft dafür eingestellt. Die Besonderheit der Arbeitskraft besteht darin, dass sie Wert neu „schaffen“ kann – statt nur bereits vorhandenen auf Kosten des einen Subjekts einem anderen zu verschaffen. Die Entwicklung der Produktivkräfte und der damit verbundenen Möglichkeiten lässt diese ihre Besonderheit zunehmend in Vergessenheit geraten: am meisten verdient wird dort, wo nichts geschaffen wird, und wer arbeitet, gilt als der letzte Dreck. Das moderne Finanzsystem bemüht sich gerade, die Trennung von (Mehr-)Wertproduktion und (Mehr-)Wertaneignung zu vollenden. Je weiter dieser Prozess fortschreitet, desto besser wird sichtbar, dass auch der Gebrauchswert in der Warenlogik nur eine Nebenrolle spielt. Bleibt nur, ihn abzuschaffen – nicht als Eigenschaft eines Dings, sondern als Teil der Warenlogik.

 

  1. Ist der Kommunismus gar die verwirklichte Gesellschaft der Gebrauchswerte?

Der Kommunismus ist eine in der Warengesellschaft entstandene Utopie. Als solche hat er seine Berechtigung, sollte aber ähnlich kritisch wahrgenommen bzw. rezipiert werden wie alle anderen Bestandteile dieser Ordnung.

 

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