Kein Land in Sicht

In den nächsten Tagen soll Arigona Zogaj in den Kosovo abgeschoben werden

von Franz Schandl

Die bekannteste „Illegale“, die Österreich je hatte, ist die achtzehnjährige Arigona Zogaj. Seit ihrem zehnten Lebensjahr wohnt sie nun schon hier, obwohl sie gar nicht da sein dürfte. Die Auseinandersetzung um ihren Aufenthalt tobt seit Jahren. Vor einigen Wochen hat jetzt der Verfassungsgerichtshof bestätigt, dass Arigona, ihre Mutter und ihre jüngeren Geschwister ausreisen müssen, ansonsten sie abgeschoben werden. Den Schulschluss am 9. Juli dürfen sie noch abwarten, doch dann heißt es „Ab nach Pristina!“. Mit Albanien, woher sie ursprünglich stammt, hat sie nichts zu tun, noch weniger übrigens ihr Bruder Albin und ihre Schwester Albona, die überhaupt ihr ganzes Leben in Österreich verbracht haben. Abgesehen von ihrem Migrationshintergrund ist Arigona ein ganz normaler österreichischer Teenager.

An Arigonas Schicksal reibt sich inzwischen ein ganzes Land. Als öffentliche Person ist sie Gegenstand eines heißen Konfliktes. Gerade deswegen stellt sich die Frage, wie breit der Rücken der jungen Frau ist, die sowohl die Restriktionen der Behörden als auch das Getöse der Medien auszuhalten hat. In Arigonas Haut möchte eins nicht stecken. „Was soll ich machen, wenn Arigona nicht mehr kann?“, fragt ihr Freund Philipp. „Die große Sorge ist meinerseits, dass sie sich etwas antut und mit dem Leben nicht mehr klarkommt.“ Dass sie Selbstmordgedanken äußert, sollte da nicht überraschen.

Wenn man Schlagzeilen lesen muss wie „Freund flehte bei Ministerin um Hilfe“ (Österreich, 24. Juni 2010, S. 4), dann weiß man sogleich, dass hier eine Real-Soap läuft, wo ganz selbstverständlich auch die Facebook-Liebespostings von Arigona und Philipp veröffentlicht werden. Die Schikanen sind geblieben, dafür ist jetzt auch noch das Privatleben futsch. En passant erfährt eins auch, welches Bild der Subalternen lanciert und angeleiert wird. Flehen. Wimmern. Winseln. Das ist ihr Metier. So soll es sein. Nur noch „Keine Gnade!“ ist schlimmer als solche Gnade. Auch Paternalismus ist eine Art von Verachtung.

Zweifellos, ohne Medien und Prominenz wären Arigona und ihre Familie schon längst draußen, aber aufgrund des öffentlichen Rummels meint das Innenministerium auch besondere Unnachgiebigkeit demonstrieren zu müssen, will beweisen, dass es sich nicht beeindrucken lässt. Die gestrenge Frau Innenminister, Maria Fekter (ÖVP), möchte sich keine Blöße geben. „Ich habe nach Gesetzen vorzugehen, egal ob mich Rehleinaugen aus dem Fernseher anstarren“, sagt sie. Sie meint Härte zu zeigen und Gesetze zu exekutieren. Die seien nämlich so. Dem mag nicht einmal widersprochen werden können. Noch dazu geht es auch um Revanche dafür, dass Arigona sich bisher der Abschiebung entzogen hat. So etwas darf man nicht. Da muss er unerbittlich sein, der Rechtsstaat. Ein Exempel ist zu statuieren.

Es ist nicht auszuschließen, das die konkrete Geschichte gut ausgeht, Behörden und Promis zu einem Deal finden, der im Sinne Arigonas ist. Freilich sind die meisten solcher Fälle anonym, erreichen keine öffentliche Aufmerksamkeit. Was Arigona blüht, wird täglich an anderen Betroffenen vollzogen. Und doch ist hier einiges in Bewegung geraten. So gibt es immer mehr Initiativen, die sich schützend vor Immigranten stellen und nicht einfach ausweisen lassen wollen. „Viele Menschen nehmen die Abschiebung ihnen vertrauter Asylsuchender nicht mehr hin“ schreibt die Wiener Obdachlosenzeitung Augustin. Teilweise sind solche Aktivitäten in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Doch diese Mitte birgt auch einige Gefahren. Peter Pelinka, Chefredakteur der Wochenzeitung News und Unterstützer Arigonas, ist nicht der einzige, der das ökonomische Kalkül ins Spiel bringt: „Das macht vor allem im Falle des Mädchens auch volkswirtschaftlichen Sinn: Arigona besucht seit acht Jahren erfolgreich mehrere Schulen, hat nach Absolvierung der jetzigen gute Berufsaussichten – auch weil sie perfekt (ober)österreichisch spricht, etliche Freunde hat, seit einem halben Jahr mit einem fix ‚geht‘ und auch in dessen Familie gut integriert ist. Alles spricht dafür, dass man die Ausbildungskosten für sie nicht abschreibt, sondern ihr Potenzial später nutzt – Österreich wird schon bald viele neue, gut ausgebildete junge Arbeitskräfte brauchen.“ (Heute, 24.6. 2010, S. 5)

Kurzum: Lasst sie hier, die spielt die Kosten eh ein. Fein. Der Rausschmiss sei „wirtschaftlich unsinnig“, sagt der Schriftsteller Thomas Glavinic. Und wenn nicht, was dann? Die ökonomische Argumentation ist allerdings tückisch. Erstens hat sie ein instrumentelles Verhältnis zu den betroffenen Menschen und zweitens kann man diese Aussage auch umkehren: Wer sich nicht rechnet, darf nicht kommen oder soll wieder verschwinden. So entpuppt sich Liberalität als Sozialdarwinismus. Zentrale Vorgaben sind Staatsräson und Standortlogik: „Was braucht Österreich?“ Einfach sein zu dürfen, wo eins will, das spielt es nicht. Geht der gemeine Rassist davon aus, dass Ausländer, insbesondere jene, denen man das Fremdländische ansieht, schaden, also „Umvolkung“ und „Rassenschande“ drohen, so verweisen aufgeschlossenen Gemüter auf wirtschaftliche Kriterien. Ob diese Selektion menschenfreundlicher ist, sollte bezweifelt werden.

Aber genau nach diesen Richtlinien wird heute in Europa eingelassen und eingebürgert. Die russische Sopranistin Anna Netrebko wurde ganz flott Wienerin, da mag ihr Deutsch grottenschlecht sein. Einer anderen jungen Frau wurde erst die Ehrenbürgerschaft ihrer Wohngemeinde angetragen. Sie heißt Alisar Ailabouni und hat in Heidi Klums „Germany’s next Topmodell“ gewonnen. Ursprünglich stammt diese Oberösterreicherin aus Syrien. Illegal eingereist ist deren Familie ebenfalls. Nun ist die ehemalige Verkäuferin Werbeträgerin der neuen Heimat: lokal, regional und national. Nützlich, weil vermarktbar. „Schlüsselkräfte“ heißt das im offiziellen Jargon.

Wobei schon die Frage zu stellen ist, ob angesichts solcher Ereignisse, sich Europas Werte auf dem Abschiebeflug befinden oder sich nicht vielmehr entblößen. Zeigen die versenkten Menschen im Mittelmeer, die in Schubhaft genommenen Flüchtlinge, die Fuß- und Handfesseln, die Klebebänder und Helme nicht geradezu den Charakter eines Systems? Ist es nicht eine verharmlosende Missinterpretation die Zustände stets als Gegensätze zu den Werten zu interpretieren?

Letztlich ist auch das Gerede von der „unmenschliche Fremdenpolitik“ irreführend. Fremdenpolitik kann gar nicht menschlich sein, denn ihre Kernaufgabe besteht in der Auswahl, gegebenenfalls sind staatsfremde Elemente zu entfernen. Und auch wenn man es schafft, den Aufenthalt, ja die Einbürgerung durchzusetzen, dann ist das immer mit Demut und Demütigung verbunden. Folgsam sein, heißt die Devise, denn, so Maria Fekter „für all jene, die brav auf ihre Verfahrensausgänge warten, wäre es unverständlich, wenn man jetzt Gesetze über Bord wirft.“ (Österreich, 20, Juni 2010, S. 9) Abwarten, was die Behörden machen, lautet der obrigkeitsstaatliche Befehl. Im Erstaufnahmelager herrscht Anwesenheitspflicht. Dass Jahre der Ungewissheit kaum auszuhalten sind, wen stört das? Abtauchen ist verboten! Die hätten ja nicht kommen müssen. Der gesunde Menschenverstand ist felsenfest überzeugt: „Alle Länder dieser Welt schieben ab!“, schreibt ein Poster Namens Joe Jo auf www.standard.at Nun, wenn das kein Argument gegen alle Länder dieser Welt ist, was dann?

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