Blind in die Apokalypse

Thema des Tages

Selbst Klimaexperten fliegen durch die Welt und frönen dem Konsum – wie kann man da von Normalmenschen verlangen, ihren Lebensstil zu ändern?

von Harald Welzer

Vor einigen Wochen veranstaltete die Volkswagenstiftung eine große internationale Konferenz zum vierzigsten Jahrestag der berühmten Studie ‚Grenzen des Wachstums‘. Deren Hauptautor Dennis Meadows hielt den Eröffnungsvortrag und hatte den 160 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Betrübliches mitzuteilen: Seiner Auffassung nach sei nämlich das Einschlagen eines nachhaltigen Pfades – anders als vor vierzig Jahren – heute nicht mehr möglich. Zu viel sei in der Zwischenzeit angerichtet worden und noch immer steige der Verbrauch von Energie und Material und wachse die Menge von Müll und Emissionen. Game over. Heute könne es demgemäß nur noch darum gehen, Gesellschaften widerstandsfähig für das zu machen, was mit Sicherheit auf sie zukomme: Rohstoffmangel, Extremwetterereignisse, Wohlstandsverluste, Stress aller Art. Ohne Frage: Das war keine gute Botschaft, direkt zum Auftakt der Konferenz. Wie würden die anderen Referentinnen und Referenten darauf reagieren? Sehr einfach: gar nicht. Unbeirrt präsentierten sie alle ihre Power-Point-Bildchen und Diagramme, also: business as usual.

Wohlgemerkt: Die geladenen Expertinnen und Experten waren Klimaforscher, Bevölkerungswissenschaftler, Energieexperten. Wenn selbst diese Fachleute für die dramatische Zuspitzung der Ressourcenlage auf dem Planeten sich weigern, die Bedeutung ihrer Befunde ernst zu nehmen, wie kann man dann von Menschen, die beruflich und privat mit ganz anderen Dingen beschäftigt sind, erwarten, sie mögen doch mal bitte das absehbare Ende der Sackgasse zur Kenntnis nehmen, in das sich unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem manövriert hat?

Denn klar ist ja, dass eine Wirtschaftsweise, die das Ressourcenangebot um 150 Prozent überzieht und Jahr für Jahr neue Rekorde in Energie- und Materialverbrauch vorlegt, längst unökonomisch geworden ist. Sie verzehrt ihre eigenen Voraussetzungen. Insofern wird es ganz unzweifelhaft in Zukunft ungemütlicher werden auf der Welt, von den Folgen der globalen Klimaerwärmung noch ganz abgesehen. Aber statt sich damit zu beschäftigen, was das für unsere Konsum- und Lebensstile, für unsere Daseinsvorsorge überhaupt, konkret bedeutet, hält man desto krampfhafter an der unrealistischen Vorstellung fest, dass die Zukunft wie jetzt sei, nur womöglich etwas grüner.

Eine solche Vorstellung ist nur möglich, wenn ihr ein gehöriges Maß an ‚Apokalypseblindheit‘ zugrunde liegt, wie der Philosoph Günther Anders das genannt hat: an Unfähigkeit also, sich vorstellen zu können, was man herstellen kann. Okay, selbst in der Bild-Zeitung steht heutzutage, dass wir künftig anderthalb Erden brauchen, um unseren Ressourcenbedarf zu decken. Und es vergeht kein Tag, an dem nicht das Alfred-Wegener-Institut für Meeresforschung oder das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung mitteilen, dass das arktische Eis schneller schmilzt als prognostiziert, dass die globale Erwärmung schneller voranschreitet als gedacht.

Aber suchen Sie mal in all den Meldungen nach der Mitteilung, dass dies alles infolge Ihrer Lebensweise geschieht: dass heute zum Beispiel das Doppelte an Kleidung gekauft wird wie vor zehn Jahren oder dass in einem Land von 80 Millionen Einwohnern sage und schreibe zehn Millionen Flachbildfernseher im Jahr verkauft werden. Dass die Autos mittlerweile so groß sind, dass sie nicht mehr in die Tiefgaragen passen und dass mehr als ein Drittel aller Nahrungsmittel in Westeuropa entsorgt werden. Nie wird ein Zusammenhang hergestellt zwischen den beunruhigenden Nachrichten von der Umwelt- und Klimafront und dem absurden Überkonsum, der dafür verantwortlich ist. Denn dass das Erdsystem aus dem Takt gerät, liegt ja nicht an obskuren Mächten, sondern daran, dass Gesellschaften unseres Typs alles, was möglich ist, aus den Böden, den Meeren, den Wäldern holen, um es in jene Produkte zu verwandeln, mit denen man sich dann die Lebenswelt vollstellt; und jenes totalitäre Konsumuniversum weiter füttern, das jede Frage nach dem guten Leben immer nur mit dem nächsten allerneuesten Produkt beantwortet.

Nehmen wir den bizarren Befund, dass auf der ersten internationalen Klimakonferenz 1995 in Berlin ganze 757 Delegierte um ein verbindliches Klimaabkommen stritten, während es 2012 in Doha 17000 (plus 7000 Vertreter von NGOs plus 1500 Journalisten) waren: Da zeigt sich in aller Deutlichkeit, dass in vierzig Jahren lediglich eine einzige Veränderung im wirtschaftlichen Betriebssystem eingetreten ist: Neben die traditionelle Industrie ist eine Besorgnisindustrie getreten, mit Organisationen, Karrieremustern, Wachstumsraten und allem Drum und Dran. Sie funktioniert ganz hervorragend, gerade weil sie die Kreise des Normalbetriebs nicht stört, sondern friedvoll parallel zu ihm läuft.

Mit anderen Worten: Die Apokalypseblindheit wurzelt in der barmherzigen Arbeitsteilung, in der sich dafür zuständige Menschen Sorgen um die Welt machen, die andere Menschen mit anderen Zuständigkeiten systematisch zerstören. Der Witz dabei ist, dass diese beiden Personengruppen funktional verschiedene Dinge tun und sich dabei kaum ins Gehege kommen, sich aber auf der Ebene des Alltags und der Lebenswelt völlig identisch verhalten. Klimawissenschaftler zum Beispiel gehören sicherlich zu der Personengruppe mit dem höchsten carbon footprint, weil sie so viel fliegen, und auch sonst lassen sich gewiss nicht allzu viele Unterschiede in ihrem Verhalten gegenüber anderen Personengruppen verzeichnen. Das aber heißt: Die Botschaft, die sie verkünden, kommt bei ihnen selbst nicht an. Und genau so zeigte es sich ja auch auf der ‚Grenzen-des-Wachstums‘-Konferenz.

So können Besorgnisse und zerstörerische Lebensstile friedlich koexistieren, und niemand muss sich bis auf Weiteres praktisch mit der Tatsache konfrontieren, dass es sich nur um ein Spiel auf Zeit handelt, dessen Ende absehbar ist. Realismus, oder wenigstens ein Gefühl für das Wirkliche, würde ja anerkennen müssen, dass wenigstens in den reichen Ländern nichts so weitergehen kann wie bisher: Das Kulturmodell, das darin besteht, von allem immer mehr zu haben, muss nämlich in eines transformiert werden, das von allem immer weniger braucht. Weniger Wohlstand, weniger Konsum, weniger Mobilität, dafür aber auch: weniger Arbeit, weniger Konsumstress, weniger Ruhelosigkeit. Das gelingt nur praktisch in der Einübung eines anderen Lebensstils, nicht durch die Appelle der Besorgnisindustrie. Nicht, indem diejenigen, die Teil des Falschen sind, anderen mitteilen, was jetzt zu tun wäre, selbst aber so weitermachen wie bisher.

Quelle
Verlag Süddeutsche Zeitung
Datum Montag, den 31. Dezember 2012
Seite 2

Leserbrief von Bernd Suffert