Thomas Müntzer, Befreiungstheologe, Sozialrevolutionär

von Hermann Engster

Die Herren machen das selber, dass ihnen der arme Mann feind wird. Die Ursache des Aufruhrs wollen sie nicht wegtun. So ich das sage, muss ich aufrührerisch sein. (Thomas Müntzer, Hochverursachte Schutzrede, 1524)

Vor 500 Jahren, am 27. Mai 1525, wurde Thomas Müntzer, geistlich-geistiges und politisches Haupt der Bauernaufstände, im thüringischen Mühlhausen gefangengenommen, gefoltert, enthauptet, sein Kopf auf einen Pfahl gespießt, der Leib bis zur Verwesung öffentlich ausgestellt.

Wer war Thomas Müntzer?

Geboren wird er um 1489 in Stolberg am Südharz, er studiert Theologie, ist Anhänger der Reformation Luthers, unterstützt dessen Feldzug gegen Papsttum und bigotten Klerus; wird Prediger in Zwickau, von dort vertrieben, weil er das unmoralische Treiben der katholischen Bischöfe und Mönche anprangert; erhält eine Pfarrstelle in Allstedt am Südharz, wo er 1523, zum ersten Mal und noch vor Luther, einen Gottesdienst in deutscher Sprache und der Gemeinde zugewandt hält; der Graf von Mansfeld verbietet deshalb seinen Bergleuten die Predigtteilnahme; erhält schließlich eine Stelle im größeren Mühlhausen.

Müntzer lebt in einer aus den Fugen geratenen Zeit. Der Reichsverband zerfällt und ist politisch zersplittert, der Kaiser zu einem Fürsten neben den andern degradiert, diese usurpieren eigne Hoheitsrechte, führen Kriege auf eigne Faust, unterwerfen sich große Teile des niederen Adels, Handel und Landwirtschaft sind rückständig, die Steuerlast ist drückend, lastet hauptsächlich auf Bauern, Leibeigenen, Hörigen. Wenn den Fürsten das Geld für ihre Hofhaltung mit Turnieren und Festen, mit denen sie renommieren, nicht reicht, wird es durch betrügerische Finanzmanöver vermehrt, auch durch Plünderungen beschafft, wozu auch die bedeutungslos gewordene und teilweise zum Raubrittertum verkommene Ritterschaft sich hergibt. Gedeckt wird das alles von einer korrupten Justiz und geheiligt von der durch Zölibat und Kirchenverfassung an Grundbesitz immens reich gewordenen Kirche als ideologischer Stütze des Feudalismus.

Sie geht mit allen Schikanen gegen die aufbegehrenden Bauern vor. Neben den Schrecken der Folter, für welche die Staatsmacht ihr bereitwillig zur Hand geht, sind es: Bannfluch, Erpressungen im Beichtstuhl, verweigerte Absolution, Drohungen mit ewiger Höllenpein bei mangelndem Gehorsam; um von den Bauern Geld zu ergaunern, kommen hinzu: Erbschleicherei, Urkundenfälschungen, Ablasshandel, Verkauf wundertätiger Heiligenbilder, Reliquien: „Die Kirche einen guten Magen, / Hat ganze Länder aufgefressen, / Und doch noch nie sich übergessen“, wie schon im 18. Jahrhundert ein Kirchenexperte feststellte. (Heute besitzt die katholische Kirche in Deutschland einen Grundbesitz, der dreimal so groß wie das Saarland ist; in Österreich so groß wie das Bundesland Vorarlberg.)

Müntzer blickt nicht nur hinauf zu den Sternen seines Glaubens, sondern auch hinunter auf die Gassen. Durch seine Verbindung mit dem Volk lernt er dessen Nöte kennen und solidarisiert sich mit den Armen, organisiert Krankenpflege, Armenspeisung, Räume für Obdachlose. Und geht an die Wurzeln der Ungerechtigkeit.

Als Gesellschaftstheorie steht ihm nur das affirmative kirchliche Weltbild mit der von Gott eingesetzten Obrigkeit zur Verfügung: Denn es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt; jede ist von Gott eingesetzt. (Paulus, Römer 13,1) Diese Obrigkeit sind die herrschenden Stände: der Klerus als erster Stand, der Adel als zweiter. Untertan sind ihnen fünfundneunzig Prozent des Volks: Handwerker, Händler, Knechte, Mägde, Tagelöhner, Bauern, in der Masse vor allem diese.

Als Adam grub und Eva, spann / Wer war alsdann der Edelmann? (Parole der aufständischen Bauern, 1381 in England, 1483 in Deutschland)

Eine zeitgenössische kritische Sozialtheorie steht Müntzer nicht zur Verfügung, hingegen eine andre, uralte: Er findet sie in der Bibel, im Kommunismus der Urkirche.

Und die Menge der Gläubigen war ein Herz und eine Seele; und auch nicht einer sagte, dass etwas von seinen Gütern sein eigen sei, sondern alle Dinge waren ihnen gemeinsam. … Es litt auch niemand unter ihnen Mangel; denn die, welche Besitzer von Äckern oder Häusern waren, verkauften sie und brachten den Erlös den Aposteln, und man teilte jedem aus, wie er bedürftig war. (Apostelgeschichte 4,32-35)

Die Religion wird Marx später das „Opium des Volks“ nennen. Zu Recht. Aber es ist dieses Rauschgift der Gleichheit und Solidarität im Geist der Urkirche, das Müntzers und Tausender seiner Gefolgsleute Hirn und Herz illuminiert. Müntzer steht in der Tradition der christlichen Mystik, aber anders als die Mystiker richtet er seine religiöse Glut nicht in sein Inneres, zu einer Unio mystica mit Christus, sondern richtet sie nach außen, wendet sie denen zu, welchen Jesus von Nazaret zugerufen hat: Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid! (Matthäus 11,28) Und so wie dieser, bevor er zu seiner Bergpredigt anhob, den Menschen zu essen gab, so gilt Müntzers Sorge zuallererst dem irdischen Wohl der Menschen: dass sie frei seien von Armut und Elend, Ausbeutung und Unterdrückung.

Des Protestanten Müntzers theologische Doktrin steht in Gegnerschaft nicht nur zum Katholizismus, sondern zum herrschenden Christentum überhaupt. In christlichen Formeln lehrt er einen modernen, schon an Spinoza („Gott in allem“) und sogar an Engels’ Zeitgenossen David Friedrich Strauß gemahnenden Pantheismus, der stellenweise, wie Engels meint, sogar an den Atheismus streift. Nicht die Bibel ist für Müntzer die einzige Offenbarung, sondern die Vernunft: Der Heilige Geist sei das Lebendigwerden der Vernunft im Menschen selbst, und dadurch werde der Mensch vergöttlicht, Jesus Christus ein Mensch wie wir, ein Prophet und Lehrer, sein Abendmahl ein einfaches Gedächtnismahl ohne mystischen Zauber, Beruf der Gläubigen sei es, das Reich Gottes hier auf Erden zu errichten. (S. 42 f., s.u.)

Als Pfarrer in Mühlhausen prangert Müntzer Missstände und Ausbeutung an, befürwortet den gewaltsamen Widerstand, fordert, dass „einer selbstgefälligen, tyrannischen und gottlosen Obrigkeit“ das „Schwert zu entwinden sei“. Es ist der Anstoß zum Bauernkrieg.

Die Gewalt soll gegeben werden dem gemeinen Volk. (Thomas Müntzer)

Friedrich Engels hat die historische Bedeutung dieser Bewegung erkannt und ihr eine eigne Abhandlung gewidmet, zuerst 1850 publiziert von Marx in der Neuen Rheinischen Zeitung, dann 1870 als eigenständige Publikation. Sie ist neu herausgegeben vom Göttinger Germanisten Heinrich Detering (Reclam, 2023, UB 14333) samt einem Essay; daraus wird zitiert.

Es kommt zu Aufständen, Klöster als Brutstätten der klerikalen Verlogenheit und Schatzkammern der den Bauern abgepressten Güter und Gelder werden von den zornentbrannten Bauern erstürmt und geplündert. Die Aufstände breiten sich von Thüringen bis Tirol, ins Allgäu und ins Elsass aus. Luther sieht sein Reformwerk gefährdet, denn für dessen Durchsetzung ist er auf das Wohlwollen der Fürsten angewiesen. Und gerät in Panik. Im Mai 1525 verfasst er seine an die Fürsten gerichtete mörderische Hetzschrift Wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern. Er wütet:

Drum soll hier zuschmeißen, würgen und stechen, heimlich oder öffentlich, wer da kann, und gedenken, dass nichts Giftigeres, Schädlicheres, Teuflischeres sein kann denn ein aufrührischer Mensch, gleich als wenn man einen tollen Hund totschlagen muss: Der Esel will Schläge haben, und der Pöbel will mit Gewalt regiert sein.

Ein Tiefpunkt neben seinen judenfeindlichen Pamphleten. Das Pamphlet gegen die Bauern hat er später bedauert, seine nicht minder fürchterlichen Hetzschriften gegen die Juden nicht.

Müntzer findet unter den Bauern in Thüringen und Hessen zunehmend Anhänger. Zehntausend strömen nach Mühlhausen, Müntzer selbst führt 300 Mann an. In Frankenhausen im Mansfeld sammeln sich die Aufständischen. Sie schwenken die Regenbogenfahne, eine Fahne, die Müntzer selbst hat anfertigen lassen und an der Kanzel seiner Kirche befestigt hat. Abgebildet ist darauf der Regenbogen als Zeichen von Gottes Bund mit den Menschen nach der Sintflut (Genesis 9,12-16), und darunter die Worte geschrieben: verbum domini maneat in etternum (das Wort des Herrn bleibe in Ewigkeit) und dis ist das zeichen des ewigen bundes gotes. Es weiß kaum einer, dass die heutige Regenbogenfahne als Symbol der emanzipatorischen Diversität in Geschlecht, Religion und Sexualität hier ihren Ursprung hat.

In seiner Feldpredigt vor der entscheidenden Schlacht von Frankenhausen spornt Müntzer die Bauern zum Kampf an:

Lieben Brüder, ihr sehent, daß die Tyrannen unsere Feind so da seind, und unterstehen sich, uns zu erwürgen. Nun, lieben Brüder, ihr wüßt, daß ich solche Sach aus Gottes Befehl hab angefangen und nicht aus eignem Fürnehmen oder Kühnheit, denn ich kein Krieger mein Tag nie gewesen bin. (…)

Was seind aber die Fürsten? Sie seind nichts dann Tyrannen, schinden die Leut, unser Schweiß und Blut vertön sie mit Hoffieren, mit unnützen Pracht, mit Huren und Buben. … Sie nehmen sich des Regiments nicht an, hören die armen Leute nicht, sprechen nicht Recht, wehren nicht Mord und Raub, strafen kein Frevel und Mutwill, verteidigen nicht Witwen und Waisen, helfen nicht den Armen zu Recht, schaffen nicht, daß die Jugend recht erzogen würd zu Guten, sondern verderben allein die Armen je mehr und mehr mit neuen Beschwerden, brauchen ihrs Macht nicht zu Erhaltung Friedens, sonder zu eignem Trutz … verderben Land und Leut mit unnötigen Kriegen, Rauben, Brennen, Mörden. (http://www.bauernkriege.de/predigt.html)

Terrorismus der Fürsten. Da ist der Herzog Urich von Württemberg, dessen Habgier die Bauern 1513/14 zu Hungerrevolten treibt, der zunächst Verträge mit ihnen abschließen muss, sie dann aber, wieder erstarkt, bricht, Städte und Dörfer plündert, 1600 Bauern gefangen nimmt, viele enthaupten lässt, die übrigen zu schweren Geldstrafen „zum Besten von Ulrichs Kasse“ (S. 67 f.) verurteilt.

Infelix Austria

In Österreich lässt die Regierung, verschreckt durch die protestantisch inspirierten Bauernaufstände in Deutschland, die deshalb als verdächtig geltenden protestantischen Pastoren durch katholische Geistliche ersetzen, damit der Sturm der Bauernerhebung in Deutschland nicht ins eigne Land wehe. Denn nicht minder bedrückend stellt sich die Situation der Bauern in Österreich dar, z.B. die Behandlung der Bauernkinder:

„Ab 1550 durften die Adligen die Kinder ihrer Untertanen für Dienstleistungen einsetzen. Zumeist besonders schlecht behandelt, flohen diese jungen Arbeitssklaven von den Gutshöfen und mussten bei Strafe von ihren Eltern zu den Schindern zurückgebracht werden. Noch ungeschützter vor Willkür und Habgier vegetierten die Waisenkinder.“ (http://www.bauernkriege.de/oesterreich.html)

Im Bistum Salzburg treiben religiöse Verfolgungen und Steuerbedrückungen Bauern und Städter zum Widerstand. Den Verfolgern in Deutschland steht die hiesige Geistlichkeit in nichts nach. Der Erzbischof überfällt 1524 die Stadt mit angemieteten Landsknechten, terrorisiert die Stadt mit den Kanonen des Schlosses Salzburg, verfolgt die ketzerischen Prediger. (S. 125) Dies führt zum allgemeinen Aufstand. Bauern und Bergleute organisieren sich, schließen wie die deutschen Bauern einen christlichen Bund, befreien die Stadt, belagern das Schloss. So stark ist die Bewegung, dass „das ganze Salzburgische Land und der größte Teil von Oberöstreich, Steiermark, Kärnten und Krain in den Händen der Bauern war“. (S. 126) Michael Geismeier, ehemals Sekretär des Fürstbischofs von Brixen, schließt sich den Aufständischen an, er ist „das einzige bedeutende militärische Talent unter sämtlichen Bauernchefs“ (S. 126) und erringt zunächst Siege, muss dann aber vor der Übermacht kapitulieren. Die Republik Venedig gewährt ihm Exil. Doch bleiben Erzbischof und Erzherzog in ständiger Furcht vor ihm und lassen ihn 1527 von einem bezahlten Killer umbringen. (S. 126 ff.)

Frankenhausen, das Ende mit Schrecken

Die Entscheidung fällt in Frankenhausen. Die dort zu einem Heerhaufen versammelten zehntausend Bauern haben von Anfang an keine Chance. Müntzer selbst ist militärisch unerfahren, scheut sich aber auch nicht vor drastischen Disziplinarstrafen. So lässt er zwei Befürworter der Kapitulation angesichts der Übermacht des Fürstenheeres töten, um „wieder einigen Halt in den Haufen“ zu bringen. (S. 188) In einem, wie Engels beklagt, „unerhörten Blutbad“ (ebd.) werden 6.000 Bauern niedergemetzelt. Militärisch ungeschult und bewaffnet mit Sensen, Mistgabeln, Dreschflegeln, Piken werden sie von den teilweise berittenen Truppen der Fürsten niedergemetzelt, die Flüchtenden massakriert, die Gefangenen gefoltert, ermordet. Wäre es, fragt Detering vorsichtig, da nicht vernünftiger gewesen, dem defätistischen Rat der Abweichler zu folgen? (S. 188 f.) Vernünftiger wohl, aber Verzweiflung und Hass waren zu groß.

Müntzer selbst wird in Gegenwart der Fürsten – das Vergnügen lassen sie sich nicht nehmen – auf die Folter gespannt und dann enthauptet. Er war höchstens 28 Jahre alt, und „er ging mit demselben Mut auf den Richtplatz, mit dem er gelebt hatte“. (S. 122) Die Rache der durch Gottes Gnade auserwählten aristokratischen Elite ist maßlos:

In Fulda hatte der Mann Gottes Philipp von Hessen sein Blutgericht begonnen; er und die sächsischen Fürsten ließen in Eisenach 24, in Langensalza 41, nach der Frankenhauser Schlacht 300, in Mühlhausen über 100, bei Görmar 26, bei Tüngeda 50, bei Sangerhausen 12 Rebellen mit dem Schwert hinrichten, von Verstümmelungen und andern gelindern Mitteln, von Plünderungen und Verbrennungen der Dörfer und Städte gar nicht zu reden. (S. 122)

Die Verstümmelungen bestehen darin, dass den Menschen zur lebenslangen Schändung Nase und Ohren abgeschnitten werden. Nicht ausdenken mag man sich, wie bei den Plünderungen durch eine enthemmte Soldateska es den Frauen und Mädchen ergangen sein mag.

Die Stadt Mühlhausen muss sich bedingunglos ergeben, weitere Oppositionelle werden hingerichtet. Der alte Rat und die katholische Kirche werden wieder eingesetzt, die ehemals nur dem Reich untergebene Stadt wird dem Fürsten unterworfen und muss auf Jahre hinaus hohe Kontributionen entrichten.

Auch das deutsche Volk hat seine revolutionäre Tradition. (Friedrich Engels, Der deutsche Bauernkrieg)

Engels stützt sich in seiner Studie auf die dreibändige Darstellung von Wilhelm Zimmermann (Leipzig 1841-1843) und formt ein Destillat daraus. Zimmermann beschreibt den Krieg auf der Grundlage eines profunden Quellenstudiums, schildert differenziert die komplexen Charaktere der Protagonisten Müntzer und Luther, und erzählt brillant und leidenschaftlich.

Weshalb aber wendet sich Engels, einer der führenden Revolutionäre der Arbeiterbewegung, einer Begebenheit zu, die mehr als dreihundert Jahre zurückliegt? Er sagt es gleich im Vorwort:

Auch das deutsche Volk hat seine revolutionäre Tradition. Es gab eine Zeit, wo Deutschland Charaktere hervorbrachte, die sich den besten Leuten anderer Länder an die Seite stellen können, wo das deutsche Volk eine Ausdauer und Energie entwickelte, die bei einer zentralisierteren Nation die großartigsten Resultate erzeugt hätte, wo deutsche Bauern und Plebejer (: Kleinbürgertum wie Händler, Handwerker) mit Ideen und Plänen schwanger gingen, vor denen ihre Nachkommen oft genug zurückschaudern.

Erzähltechnik und Stil in Engels’ Darstellung sind nicht minder brillant als die von Zimmermann, Detering rühmt sie als „literarisches Meisterwerk“. Aber im Unterschied zu Zimmermanns emotionaler Erzählweise ist Engels’ Darstellung eher analytisch-kühl, gelegentlich klingt Bewunderung durch, zumeist aber ist sie von Ironie, Hohn, Sarkasmus geprägt. Doch manchmal, stellt Detering mit Sympathie für Engels fest und zeigt es an bestimmten Stilmitteln, „kann die bewusste Kühle der analytischen Darstellung beinahe wie ein Bemühen um Abwehr einer überwältigenden Trauer erscheinen“. (S. 183) Fürwahr, es ist Trauer, tiefe Trauer, die Engels’ Darstellung als Grundtonart prägt.

Er zieht seiner Darstellung jedoch andre Linien als Zimmermann ein. Haben die bisherigen Historiker die Bauernkriege vor allem in der Perspektive religionspolitischer Auseinandersetzungen betrachtet, so erkennt Engels „in den sogenannten Religionskriegen des sechzehnten Jahrhunderts Klassenkämpfe“, die sich lediglich „unter einer religiösen Decke verbargen“. (S. 27) Die Bauernkriege sieht er als Vorgeschichte der gegenwärtigen Kämpfe, in denen er, gleich dem Aufbegehren der Bauern damals, das „Grollen vieler tausend einheimischer Proletarier“ seiner eignen Zeit vernimmt. (Ebd.) Müntzer sieht er „zur Vorahnung des Kommunismus getrieben“ (S. 103). Die aufbegehrenden Klassen von damals ähneln denen von heute, insonderheit denen der Bauern: „Der deutsche Bauer von damals hatte dies mit dem modernen Proletarier gemein, dass sein Anteil an den Produkten seiner Arbeit sich auf das Minimum von Subsistenzmitteln beschränkte,“ (S. 129), der „robuste Vandalismus des Bauernkriegs“ erscheint ihm als Vorläufer der „modernen Insurrektion“. (S. 7) In den revoltierenden Bauern erkennt er, wie er in einem kühnen Bild formuliert, „das embryonische, proletarische Element“ (S. 22), im Bauernkrieg den historisch fundamentalen Gegensatz „zwischen bürgerlicher und plebejischer Opposition“. (S. 29) Die Analogie treibt Engels so weit, dass er die Bundesfahne der Bauern als die „deutsche Trikolore“ (S. 80) bezeichnet, in ihr sogar die „rote Fahne“ antezipiert. (S. 83)

Engels’ Analyse wird auch der Person Luthers gerecht. Dessen mörderische Ausfälle gegen die Bauern, durch deren Aufstand er sein Reformwerk gefährdet sieht, erklärt er nicht, wie es naheliegend wäre, aus persönlichen Motiven wie Heuchelei und Opportunismus: sondern aus den ökonomischen und politischen Notwendigkeiten der Klassenverhältnisse, in denen Luther gefangen ist und sich deshalb auf die Seite der Fürsten schlägt, auf deren Unterstützung er angewiesen ist.

Das Ende aller Utopien

Doch warum ging der Bauernkrieg zugrunde? Er scheiterte, so Engels, an der Zersplitterung des Reichs in partikularistische Kleinstaaten, die eine Zentralisierung der Volkserhebung verhinderte; dazu kam es unter den Anführern der Aufständischen zu Rivalitäten, die auch von den Gegnern geschürt wurden – es war der „eigensinnige Provinzialismus, der den ganzen Bauernkrieg zugrunde richtete“. (S. 100) Auch damit zieht Engels eine Analogie zur Gegenwart, verbunden mit einer Attacke gegen die bürgerlichen Liberalen, welche die demokratischen Ideale des Vormärz verraten haben: „Die Klassen und Klassenfraktionen, die 1848 und 49 überall verraten haben, werden wir schon 1525, wenn auch auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe, als Verräter vorfinden.“ (S. 7)

Im Scheitern der bäuerlichen Aufstände sieht Engels das Scheitern der bürgerlichen Revolution von 1848 vorgezeichnet und konstatiert: „Wer profitierte von der Revolution 1525? Die Fürsten. – Wer profitierte von der Revolution von 1848? Die großen Fürsten, Östreich und Preußen.“ (S. 135) Das ist eine weitere kühne Analogie, und Detering bemerkt, bei aller weitgehenden Zustimmung zu Engels’ Analysen, dazu: „Hier siegt die Polemik über die Analyse.“ (S. 175) Darüber mag man streiten.

Müntzer – Mystiker, Revolutionär, Utopist

Müntzer war ein denkerisch kühner Theologe, mitreißender Redner, hervorragender revolutionärer Führer und Organisator, der „die Fäden der ganzen Bewegung in der Hand“ hielt (S. 115), aber auch, so Engels, ein schlechter Stratege und militärisch unerfahren (S. 120); hingegen einer, der die Energie seiner Ideen aus der christlichen Mystik schöpft, wie Engels erkennt: „Müntzer hat viel aus ihr genommen“ (S. 28), ein Utopist mit chiliastischen Visionen, der das Reich Gottes auf Erden errichten will.

Diesen Vorstellungen bescheinigt Engels kritisch ein „vorzugsweise phantastische(s) Gepräge“ (S. 22) Deshalb machen, wie Detering zutreffend erkennt, die religiös fundierten politischen Ideen „dem marxistischen Analytiker … und kämpferischen Atheisten … Engels zu schaffen … und er verkleinert die genuin religiöse Dimension des Konflikts, wo immer er nur kann“ (S. 192 f.), ja, macht Müntzer zu einem „halben Atheisten“ (S. 193) Doch erkennt auch Detering Müntzers revolutionäres Talent an und ebenso die sozialen Forderungen der Revolutionäre. Für diese, so Detering, „nicht auflösbare Verschmelzung von politischer und religiöser Energie“ (S. 193) findet Engels laut Detering den „prägnantesten Begriff“, und er zitiert Engels selbst: „Müntzer ist jetzt ganz Revolutionsprophet.“ (S. 119)

Dieses politisch-religiöse Momentum ist die eine Seite der historischen Konstellation; die politisch wie ökonomisch rückständigen Verhältnisse sind die andre: Beide bilden eine unüberwindbare Kluft. Müntzers Tragik in Engels’ Worten:

Es ist das Schlimmste, was dem Führer einer extremen Partei (: im alten Sinn von „Gruppe, Bewegung“) widerfahren kann, wenn er gezwungen wird, in einer Epoche die Regierung zu übernehmen, wo die Bewegung noch nicht reif ist für die Herrschaft der Klasse, die er vertritt, und für die Durchführung der Maßregeln, die die Herrschaft dieser Klasse erfordert. (S. 116)

Fünfhundert Jahre danach

Müntzers Wirkung nach dem Zweiten Weltkrieg stellt sich sehr unterschiedlich dar.

DDR – Ruhm und Zähneknirschen

Die DDR hat seine Bedeutung als Sozialrevolutionär hochgehalten. Allüberall wurden ihm Denkmäler gesetzt, Straßen und Plätze tragen seinen Namen, die weitverbreitete Fünfmark-Banknote trug sein Bildnis; zahlreiche Schulen wurden nach ihm benannt und tragen den Namen noch heute.

Das bedeutendste Denkmal aber ist das „Bauernkriegspanorama“ in Frankenhausen: 14 Meter hoch an einer 120 Meter langen Wand, mit 3.000 Figuren, würdigt es die Klassenkämpfe der Reformationszeit. Es befindet sich in einem eigens dafür errichteten Gebäudekomplex, errichtet auf dem historischen und einst blutgetränkten Schlachtfeld.

In Auftrag gegeben wurde es Anfang der 70er-Jahre von der SED unter dem Regierungschef Erich Honecker, eingeweiht werden sollte es zum 450. Jahrestag von Müntzers Hinrichtung. Die DDR in ihrem Verständnis als „Arbeiter- und Bauernstaat“ begriff sich als ideelle Erbin der Bauernrevolution. Gestaltet werden sollte die Frühbürgerliche Revolution in Deutschland (so auch der Titel des Werks). Der SED-Führung schwebte dafür ein heroisierendes Schlachtengemälde im Stil des sozialistischen Realismus vor.

Als Künstler wurde der hochangesehene Maler und Rektor der Leipziger Kunsthochschule Werner Tübke verpflichtet. Doch war mit diesem eigenwilligen Menschen das nicht so einfach zu machen. Er stellte Bedingungen, stellte ungewöhnliche Entwürfe vor – die dann von der SED-Führung zähneknirschend akzeptiert wurden. Das Werk, bei dem Tübke von Mitarbeitern unterstützt wurde, entstand in den Jahren 1976 bis 1987.

Gestaltet ist das Werk in dem Tübke eignen „magischen Realismus“. Tübke nennt Albrecht Dürer und Lucas Cranach d. Ä. als seine Vorbilder. Der Eindruck ist überwältigend. Es ist ein keineswegs heroisierendes, sondern ein tief melancholisches, allegorisches Werk, eine Parabel der ganzen Epoche, mit Müntzer und Luther im Mittelpunkt. Mit Müntzer aber nicht als Sieger, sondern als gebrochenem Mann, als Verlierer der Geschichte. Nicht abwegig erscheint eine Interpretation des Werks, dass hier auch verborgen das Scheitern der Utopie eines sozialistischen Staats, der DDR, dargestellt sei.

Bei der Einweihungsfeier blieb die höchste Politprominenz fern, anwesend waren hohe Kulturfunktionäre, Honecker wurde durch seine Frau, Bildungsministerin Margot Honecker, vertreten. Gleichwohl kann er als Schirmherr des Panoramagemäldes angesehen werden – er hat den Künstler machen lassen.

BRD: Entdeckung des Befreiungstheologen und Revolutionärs

Im Gegensatz zur DDR wurde in der BRD Müntzers öffentlich nicht gedacht. Gleichwohl gab es eine intensive Forschung zum Bauernkrieg. Hatte der Schwerpunkt lange Zeit auf den konfessionspolitischen Auseinandersetzungen jener Zeit gelegen, so verlagerte er sich nach der gesellschaftskritischen Umorientierung nach ’68 auf die sozialrevolutionäre Dimension. Hervorzuheben sind hier die Forschungen von Peter Blickle (u.a. Der Bauernkrieg. Die Revolution des Gemeinen Mannes, München 1998, 3. Aufl. 2006), der den Bauernkrieg, zwar christlich grundiert, wieder als revolutionäres Geschehen darstellt. Jedoch hatte dies schon 1921 Ernst Bloch, historisch-materialistisch orientiert, in seinem Buch Thomas Münzer als Theologe der Revolution herausgearbeitet. Es zeitigte jedoch wenig Wirkung. 1961 hat es der Aufbau Verlag der DDR wieder (mit Blochs Ergänzungen) veröffentlicht, acht Jahre später erschien es auch bei Suhrkamp in der BRD. Die befreiungstheologische Dimension wird von Detering erneut bestärkt, ohne die sozialrevolutionäre zu schmälern. So lautet auch sein Resümee:

Er (: der Bauernkrieg) zeigt sich wieder als ein erschütterndes Aufbegehren der Armen gegen eine brutale Klassenherrschaft, das über seine Niederlage hinaus fortwirkt durch die Jahrhunderte. (S. 198)

Im letzten Satz zitiert er Engels selbst:

Auch das deutsche Volk hat seine revolutionäre Tradition.

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