von Emmerich Nyikos
„Prometheus ist der vornehmste Heilige und Märtyrer im philosophischen Kalender.“ (Karl Marx)
1.
Prometheus: Sohn des Titanen Iapetos und der Titanin Klymene, ein mythischer Trickster, Inspiration für eine Reihe von Dichtern des Altertums und der Neuzeit – von Hesiod und Aischylos bis hin zu Goethe und Shelley –, Sinnbild der Rebellion und der technischen Intelligenz, der seinen Einsatz für das Menschengeschlecht – den Raub des Feuers in einem Narthexstengel; die List, die den Menschen das Fleisch des Opfertiers zukommen ließ, während den Göttern die Knochen, die im Opferfeuer verbrennen, zufallen sollten – damit zu büßen hatte, dass ihm, an einen Felsen im Kaukasus geschmiedet, ein Adler tagtäglich die Leber, die nachts wieder nachwuchs, herausfraß.
Das alles dürfte bekannt sein. Was jedoch stets im Hintergrund blieb und kaum Beachtung erfuhr, das ist der Umstand, dass Prometheus der Bruder – des Epimetheus ist. Epimetheus, dessen sprechender Name mit „Nachbedacht“ übersetzt werden kann, ein „Tor“, wie er von Hesiod apostrophiert worden ist, „von Beginn ein Unglück den brotverzehrenden Menschen“ (Theogonie, 510), macht alles zunichte, was der Bruder Prometheus, „schillernd und regsam von Geist“ (Theogonie, 510), „der vielfach planende“ (Theogonie, 521), dessen Name deswegen auch „Vorbedacht“ ist, den Menschen an Wohltaten zukommen ließ. Denn Epimetheus nimmt von den Göttern die Pandora als Gabe, entgegen dem Rat des Prometheus, Pandora, die dann den Deckel vom Tonkrug, in dem sich alle Übel befanden, wegnehmen sollte, Übel, die alle sogleich aus dem Behälter entwichen – nur die Hoffnung blieb darinnen zurück. Prometheus hatte den Bruder gewarnt, „aber er nahm’s und merkte das Übel erst, als er’s hatte“ (Werke und Tage, 89).
2.
Wie allseits bekannt, spielte die Bourgeoisie eine historische Rolle, die man nur als revolutionär einstufen kann. Und dies nicht von ungefähr: Denn das Kapital, sobald es aus der Verpuppungsphase des Handels herausgewachsen war und sich der Produktionssphäre tout court bemächtigt hatte, konnte nicht anders, als die Produktivkräfte permanent umzuwälzen, und dies insofern, als die Konkurrenz zwischen den aparten Kapitalentitäten, bei Strafe des Untergangs, dem Kapital in seiner Gesamtheit die permanente Innovation der Produktionsmethoden als diejenige Methode aufzwang, über die Reduktion der Kosten die Preise der respektiven Waren zu senken, um so in der Lage zu sein, die Konkurrenten der eigenen Branche aus dem Feld der Profitgenerierung zu schlagen, was gleichbedeutend damit ist, nicht selbst zu fallieren. Der Extra-Profit, der dabei generiert werden konnte (und in weiterer Folge der relative Mehrwert), diente dann seinerseits dazu, über Akkumulationsprozesse – die Konzentration von Kapital – das Grundkapital akzelerativ zu vermehren – eine Expansion, die selbst wieder die Voraussetzung dafür ist, in den Produktionsanlagen innovative, d.h. produktivere Methoden implementieren zu können.
Es wäre hier müßig, das Loblied auf die Bourgeoisie, das Engels und Marx im Manifest singen, zu reproduzieren. Es dürfte bekannt sein.
Aber nicht nur trat das Kapital als Produktivkraftgenerator in Erscheinung, die Bourgeoisie zersetzte – durch die bloße kapitalistische Logik – die Servilität, die persönliche oder über den Boden vermittelte Abhängigkeit, entwertete alle überkommenen, altehrwürdigen, rigid-statischen Bindungen zwischen den Menschen, um an ihre Stelle das scheinbar lose Band des Geldes zu setzen, und unterminierte am Ende die formale Ungleichheit im öffentlichen Raum, indem sie alle, oben und unten, zu Warenbesitzern „ohne Unterschied“ machte – und sei die Ware, die verkauft werden kann, nur das Arbeitsvermögen: die reale Basis dafür, dass in der Folge alle zu „Bürgern“, zu formal freien und gleichen citoyens, werden konnten (wobei der Anteil der sozial-demokratischen Kräfte daran hier nicht unterschlagen werden soll).
Wir haben als Resultat des historischen Auftretens der klassischen Bourgeoisie, des gesellschaftlichen Trägers der Kapitalprozesse, also zweierlei:
1. die Progression im Hinblick auf den Produktivkraftkomplex, bedingt durch den modus operandi des Kapitalsystems selbst, durch den spontanen Effekt spezifisch kapitalistischer Funktionsgesetzmäßigkeiten;
2. die Zerstörung der traditionellen Ungleichheit sowie der „Freiheiten“ (der Privilegien besonderer Gruppen), die durch die bürgerliche „Freiheit“, wenn auch garniert mit der „Freiheit“ (der Prärogative) des Geldes, ersetzt worden sind.
3.
Jetzt, im nachhinein, dürfte es kaum überraschen, dass sich das bürgerliche System nicht nur bis zu diesem Augenblick, sondern höchstwahrscheinlich noch lange über den Punkt der Gegenwart hinaus, als dominantes Gesellschaftsmodell halten konnte, dass es mithin, trotz des einen oder anderen Anlaufs dazu, nicht von einem anderen System abgelöst wurde. Das Kapitalsystem sitzt so sicher im Sattel wie niemals zuvor. Freilich, die Geschichte ist an ihm nicht spurlos vorübergegangen: Es hat sich verändert, wie sich immer alles verändert. Aber trotz aller Phasen, die es durchlaufen hat, bis hin zum gegenwärtigen automatisierten, hyper-monopolistischen, post-modernen (End-)Stadium, ist sein Motor noch immer derselbe wie eh: der Profit. Und dieser Motor fordert nach wie vor seinen Tribut: die permanente Innovation auf allen Niveaus.
Der Witz an der Sache nun ist: Die Innovation in der post-modernen Phase des Kapitalsystems koppelt sich nicht nur mehr und mehr von jedwedem Sinngehalt ab, insofern sie gerade dabei ist, die Grenze des Nützlichkeitsaspekts der Gebrauchswertsphäre auf breiter Front hinter sich zu lassen, so dass mehr und mehr Gebrauchswerte ohne realen Gebrauchswert hervorgebracht werden, Gebrauchswerte, die niemand in Wirklichkeit braucht – es sei hier nur stellvertretend auf Alexa verwiesen –, die Innovation ist gleichfalls dabei, in einen Bereich vorzudringen, wo das, was man produziert, nur mehr Schaden anrichten kann.
Das ist kein Zufall: Denn die Innovation hat einen Punkt erreicht, wo sie in Realitätsareale gerät, über deren Prozesse man aufgrund ihrer Komplexität (einerseits die subatomare, atomare, molekulare, genetische, digitale Sphäre, andererseits die Makro-Systeme [Klima, Gesellschaft]), (noch) nichts Genaueres weiß – die eine Blackbox sind, wie man mit Bezug auf die Künstliche Intelligenz selbst zugeben muss –, Areale, von denen man lediglich schematische, vage Modelle zu erstellen vermag oder die schließlich prinzipiell der Manipulation, verstanden als bewusste Steuerung, völlig unzugänglich sind (aufgrund der Nicht-Linearität dieser Systeme). Man beherrscht diese Bereiche de facto noch nicht (weder theoretisch noch praktisch) oder man kann sie, aus Prinzip, gar nicht beherrschen. – Im Übrigen darf man vermuten, dass man den „Stand der Wissenschaft“ von heute in absehbarer Zeit ebenso als antiquiert, als vorsintflutlich ansehen wird, wie wir denjenigen von vor nicht allzu langer Zeit als antiquiert, als vorsintflutlich betrachten.
Hinzu kommt – und das ist entscheidend –, dass aufgrund der systemimmanenten Kurzsichtigkeit der dominanten Kapitalagglomerate, die diese Innovationsprozesse in letzter Konsequenz dirigieren – entweder direkt oder über die „Förderung“, d.h. die Kontrolle, der institutionalisierten Wissenschaft –, sich immer nur der unmittelbare Gebrauchswerteffekt möglicher neuer Warenkategorien (als Basis des Marketing und damit der Profitgenerierung) im Fokus befindet, die langfristigen Konsequenzen jedoch ostentativ ausgeblendet werden. Man innoviert munter drauflos, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, wenn „Neues“ in die Absatzkanäle gebracht werden soll.
Diese Kurzsichtigkeit des Kapitals in seiner Gesamtheit ist nun allerdings kein lässlicher Defekt, den man auch beheben könnte, sondern eine direkte Konsequenz der Fixierung auf die Gegenwart, die unmittelbar aus der so vielbesungenen Konkurrenz der Kapitale erwächst, der klassischen (zwischen entrepreneurs) wie auch der monopolistischen (zwischen den Aktionären respektive Anlegerclubs wie Black Rock und Konsorten): Der maximale Profit hier und jetzt ist die Bedingung des Gedeihens, ja des Überlebens der klassischen ebenso wie der monopolistischen Kapitalentität. Daraus folgt konsequenterweise, dass alles das, was solche Profite verspricht, auch unmittelbar ins Werk gesetzt wird – was auch immer die weiteren Folgen sein mögen.
Es scheint, als ob man blind darauf vertrauen würde – unabhängig davon, ob man überhaupt einen Gedanken an das, was kommen wird, verschwendet –, dass sich schließlich alles zum Besten fügen wird, gerade dann, wenn jeder Akteur nur seine eigenen bornierten Belange verfolgt, wie das im Übrigen immer schon die Mentalität der Bourgeoisie gewesen ist. In ihrem Anfangsstadium wird dies dann auch von ihren Wortführern, Theoretikern und Philosophen blauäugig direkt ausgesprochen: von den private gains, public benefits Mandevilles, über die invisible hand des Adam Smith bis hin zur „List der Vernunft“ Hegels – und diese „Ansicht“, neoklassisch „verwissenschaftlicht“ als „Gleichgewichtsmodell“, hält sich bis auf den heutigen Tag. In Wirklichkeit ist es gerade umgekehrt: das, was sich als „weitere Folgen“ ergibt, das, was noch außer dem, was man anstrebt, in den Handlungen gleichsam mitenthalten ist und das man nicht sieht, nicht sehen will oder genauer: gar nicht sehen kann, kann durchaus auch desaströs sein. Das wusste schon Engels:
„Die einzelnen, Produktion und Austausch beherrschenden Kapitalisten können sich nur um den unmittelbarsten Nutzeffekt ihrer Handlungen kümmern. Ja selbst dieser Nutzeffekt – soweit es sich um den Nutzen des erzeugten oder ausgetauschten Artikels handelt – tritt vollständig in den Hintergrund; der beim Verkauf zu erzielende Profit wird die einzige Triebfeder. … Wo einzelne Kapitalisten um des unmittelbaren Profits willen produzieren und austauschen, können in erster Linie nur die nächsten, unmittelbarsten Resultate in Betracht kommen. Wenn der einzelne Fabrikant oder Kaufmann die fabrizierte oder eingekaufte Ware nur mit dem üblichen Profitchen verkauft, so ist er zufrieden, und es kümmert ihn nicht, was nachher aus der Ware und deren Käufer wird. Ebenso mit den natürlichen Wirkungen derselben Handlungen. … Gegenüber der Natur wie der Gesellschaft kommt bei der heutigen Produktionsweise vorwiegend nur der erste, handgreiflichste Erfolg in Betracht; und dann wundert man sich noch, daß die entfernteren Nachwirkungen der hierauf gerichteten Handlungen ganz andre, meist ganz entgegengesetzte sind …“ (F. Engels, Dialektik der Natur, in: MEW 20, S. 456)
Das, was Engels mit Bezug auf die Blindheit des Kapitals für die „weiteren Folgen“ sagt, gilt eigentlich aber auch für die gesamte Geschichte: Diese Blindheit oder genauer: die Ahnungslosigkeit ist eine Konstante, die sämtliche Epochen der Menschheit betrifft, und auch darauf hat Engels in der Dialektik der Natur hingewiesen (S. 452f.). Man denke hier nur an die Versalzung der Böden, an die Verkarstung und ähnliche Folgen der Borniertheit des produktiven Verhaltens. Allerdings gilt das nur mit dem wesentlichen Unterschied, dass man es 1. früher nicht besser wissen konnte (denn das Wissen ist ein historischer Prozess) und dass 2. diese unbeabsichtigten Folgen in ihren Auswirkungen lokal begrenzt gewesen sind. Das ist jetzt völlig anders: Man könnte es wissen (denn man weiß oder man könnte es wenigstens ahnen, dass das Handeln auch Folgen haben kann, von denen man noch nichts Genaueres weiß) und, was noch schwerer wiegt, die Auswirkungen können für die Menschheit als solche fatal sein. Ganz abgesehen davon, dass die kapitalistische Blindheit systembedingt ist.
Kurz: Die Komplexität der Realitätsbereiche, die man nunmehr zu manipulieren versucht – die Mikro- und die Makrosysteme jenseits der handgreiflichen Realitäten –, und die systemgenerierte Blindheit für die Konsequenzen – das ist, mit anderen Worten, eine explosive Mischung. Der Innovationsimpetus überschreitet die Grenze, ab der der Vorteil in einen Nachteil, ja in ein Desaster umzuschlagen vermag.
4.
Daraus ergibt sich, dass die Progressivität des Kapitals einen Punkt erreicht hat, wo diese bisweilen mehr schadet als nützt. Das sieht man vor allem in der Infrastruktur (der Sphäre der Produktion), wo die Produktivkräfte unter der Hand mehr und mehr zu Destruktivkräften werden. Man denke hier nur an die Atomkraft (eine Technologie, die bis jetzt offenbar noch nicht völlig ausgereift ist), an die Gentechnologie, an die, wie man sie fälschlicherweise genannt hat, „erneuerbaren Energien“, die die Energiesicherheit unterminieren (Netzstabilität) und ökologisch keineswegs unbedenklich sind (Verbetonierung von Feldern und nicht zuletzt Wäldern, Infraschall, Abrieb von toxischen Partikeln, Einfluss auf das Mikroklima, auf Temperatur und Niederschlagshäufigkeit usw.) oder an das, was unter der Bezeichnung „Geo-Engineering“ läuft (Cloud-Seeding, das sogenannte Solar Radiation Management [Sonnenverdunkelung], oder das Vergraben von Bäumen [Projekte von Bill Gates]), Technologien, deren Auswirkungen auf die Umwelt, das Wetter und vielleicht auch das Klima, noch gar nicht abzusehen sind.
Aber nicht nur die Produktionskräfte, auch die Konsumtionskräfte, wie man sie nennen könnte – Kinder des Profitmotivs –, verlieren nicht nur mehr und mehr an realem Gebrauchswert (weil man sie oft gar nicht braucht oder weil sie sogar überhaupt wirkungslos sind), sondern sie richten nicht minder Schäden an, die bisweilen über das Vorstellbare hinausgehen: Zerstörung der Kreativität durch die KI (im Feld der Musik [Komposition und Performance], des Films, des Designs, der Architektur, ja selbst im Feld der Literatur [Übersetzung und vielleicht noch darüber hinaus]), Unterminierung der Kommunikation auf persönlichem Niveau (Smartphone und Chats, Metaversum und Computerspiele), Obsoletwerden von Fähigkeiten (Fremdsprachenerwerb, Textgenerierung, Textverständnis, abstraktes Denken, dem die Visualisierung auf lange Sicht den Garaus machen kann, haptische Kompetenz [„Wischen“ statt Basteln], Orientierung im Raum [GPS, virtuelle Maps]), Konfusion (Informationsüberflutung) oder aber auch die Folgen der Anwendung von „Medizinprodukten“, die überflüssig sind wie ein Kropf und bisweilen ein Schadenspotential bergen, das sich gewaschen hat (Tests, Masken, mRNA-Injektionen, Pubertätsblocker usw.) – vom Destruktivpotential der Rüstungsgüter (atomare Bewaffnung an vorderster Front) einmal ganz zu schweigen.
5.
Aber nicht nur in der Infrastruktur, in demjenigen Bereich, wo die Produktions- und Konsumtionsmittel hergestellt werden, auch in demjenigen Sektor der Superstruktur der Gesellschaft, der sich auf die institutionalisierten Formen das Verhaltens bezieht, d.h. im Feld der gesellschaftlich sanktionierten Verhaltensweisen, hat die „Progressivität“, das innovative Agieren kontraproduktive Formen angenommen. Denn hier sind „Kräfte“ am Werk, die, sich selbst als definitiv „progressiv“ verstehend, das Zerstörungswerk der frühen Bourgeoisie, was überkommene gesellschaftliche Institutionen und Regeln betrifft, fortzusetzen scheinen, die aber, weit davon entfernt, emanzipativ, wie sie behaupten, zu sein (denn der Punkt, bis zu dem die absurde Ungleichbehandlung, die Beschränkungen der Freizügigkeit usw. auf dem Misthaufen der Geschichte, zumindest in den Metropolen des globalen Systems, entsorgt worden sind, wurde schon längst erreicht), vielmehr flagrant destruktiv operieren. Dabei handelt es sich um Akteure, die eine neue Segmentierung der Gesellschaft in rigide „Schichten“, man könnte vielleicht sogar sagen: in „Kasten“ („Identitäten“), neue Sichtweisen (das „konstruierte Geschlecht“), neue „Lebensmodelle“ (LGBTQ+, Transsexualität, Kinderlosigkeit) und neue Ernährungsweisen vor allem im Namen des Klimas (fleischlos, vegan) aktiv propagieren und überhaupt „neue Regeln“ aufzwingen wollen (Political Correctness, das „Gendern“ und „MeToo“ seien hier stellvertretend für alles andere genannt). Das ist destruktiv nicht zuletzt insofern, als all dies nur Verwirrung stiften kann und die Gesellschaft wirkungsvoll von den echten Problemen, vor die sie sich gestellt sieht, abzulenken vermag.
Indessen dürfte es klar sein, dass das alles nicht lose in der Luft hängt. Denn im Grunde haben wir es hier nur mit den äußeren Erscheinungsformen, den konkreten „Realisierungen“ einer tieferliegenden Tendenz zu tun, nämlich damit, dass die überkommenen Denkkonventionen selbst, als „veraltet“ markiert, unter Beschuss geraten sind. Es handelt sich hier um nichts weniger als um die Entkoppelung des Begriffsapparats sowie der Denkverfahren von der Realität als ultimativer Angriff auf die „konventionelle Sphäre“, ein Angriff, der unter dem Label „De-Konstruktion“ und „Post-Moderne“ Furore gemacht hat und ohne den offenbar kein woker Staat zu machen wäre.
Die Zerstörung der „Tradition“ nimmt auf dieser Basis Formen an, die dahin tendieren, über das einstige Ziel progressiver Kräfte – „Emanzipation“ und „Liberalität“ – weit hinauszuschießen, ja geradewegs in ihr Gegenteil umzuschlagen. Warum aber all dies? Nun, man könnte vermuten, dass, eben weil die Protagonisten dieser Tendenz, als Angehörige der akademischen Schichten, gesellschaftlich gesprochen, bürgerlich sind und sich so zwangsweise innerhalb der gegebenen Grenzen des bürgerlichen Gesellschaftssystems herumtreiben müssen (denn eine gesellschaftliche Klassenalternative gibt es nicht mehr), ihr geistiger Horizont somit aber auch nur bürgerlich ist, sie eben nur, sofern sie überhaupt als progressiv gelten oder auftreten wollen, das reproduzieren können, was mit dem Aufstieg der Bourgeoisie als Klasse begann – den Impetus der Zerstörung traditioneller Formen –, in neuer, eben post-moderner Gewandung, da ja das Zerstörungswerk moderner Prägung schon längst erledigt ist.
Dass sie aber überhaupt in diesem Sinn agieren, hängt offenbar damit zusammen, dass diese akademischen Schichten, eben weil sie akademisch sind, sich als kritisch begreifen (das gehört sozusagen, zumindest im Bereich der Gesellschaftswissenschaften, zu ihrer professionellen self-conception, zu ihrem Habitus und Ethos), d.h. sich verpflichtet sehen, das Überkommene prinzipiell zu verwerfen. Da ihr Horizont jedoch, wie gesagt, bürgerlich beschränkt ist, kann ihr „kritischer Geist“ das Kapitalsystem selbst, d.h. das Privateigentum an den Produktionsinstrumenten, nicht einer grundlegenden Kritik unterziehen, sondern er kann eben nur auf dem Terrain der Prolongation der bürgerlichen „Befreiung von der Tradition“, der systemimmanenten „Innovation“ mit Bezug auf die Denkkonventionen, die Beziehungsgefüge und Verhaltensweisen, ein Betätigungsfeld, wie absurd es auch sein mag, finden. – Die „Wert-Konservativen“ dagegen, die sich als genauso bürgerlich beschränkt wie die „Progressiven“ erweisen, schwelgen in der Illusion, dass man zu einem Zustand der Gesellschaft zurückfinden kann, in dem sie sich, realistisch betrachtet, nie befunden hat.
6.
Wir können also sagen: Das, was das bürgerliche System seit jeher gekennzeichnet hat, das ist die „Innovation“ auf allen Niveaus, einerseits was die Produktiv- und die Konsumtivkräfte angeht, andererseits aber auch mit Bezug auf das „Regelwerk“ in der Superstruktur, in der Sphäre der Konsumtion im weitesten Sinn. Was nun letzteres betrifft, so liegt der Witz geradewegs darin, dass die Überwindung überkommener Standards in diesem Bereich schon immer den sekundären Effekt gehabt hat, der Aufnahme neuer Warenkategorien einen günstigen Boden zu bereiten und damit zugleich neue Kapitalanlagefelder aufzuschließen, was im Rahmen der Konkurrenz (und insbesondere auch der monopolistischen) als nicht unwesentlich erscheint. Objektiv also spielen die post-modernen, systemkonformen „progressiven Kräfte“ hier nur das Spiel der Bourgeoisie, ohne es freilich auch nur zu ahnen. Die „Progressiven“ sind gewissermaßen der Vortrupp, der die Barrieren hinwegräumt, die der Kapitalexpansion auf immer neue Warenfelder gleichsam im Wege stehen: Man hat es gesehen im Fall von Corona (mRNA-, Test- und Maskengeschäft), im Fall von CO2 und Klimaagenda („erneuerbare Energien“, Elektro-Mobilität, Würmer- und Insektennahrung) oder im Falle von Gender im weitesten Sinn (Pubertätsblocker und in ihrem Gefolge: Antidepressiva). In allen diesen Fällen spielte die post-moderne Eliminierung „überkommener“ Regeln, Verfahrensweisen und Kategorien (primum non nocere, empirische Kontrolle, biologische Fakten)eine nicht unwesentliche Rolle.
Es versteht sich freilich von selbst, dass das Kapital sich bei all dem als extrem flexibel erweist: Geht der Versuch schief oder ist das Geschäft schon gemacht, so war es dann eben nur ein ephemerer „Ausflug“ auf neue Absatzfelder. Man kann indessen gewiss sein, dass wiederum „Neues“ nicht lange auf sich warten lässt.
7.
Wir erleben somit den Triumph der Epimetheik auf allen Niveaus (in der Infrastruktur und der Superstruktur der Gesellschaft): „progressiv“ zu sein – was von progredior kommt, ein lateinisches Wort, das nichts anderes heißt, als „vorwärtszugehen“, wohin letzten Endes das auch immer führen mag –, also blind und bewusstlos vorwärtszustolpern, ohne auch nur einen Gedanken an die Konsequenzen verschwenden zu wollen, die sich daraus zwangsläufig ergeben, ohne abzuwägen, ob es auch sinnvoll, ob es, für die Gesellschaft als solche, auch notwendig ist, was man macht – eben wie Epimetheus zu handeln, der nicht vorher, sondern, wenn überhaupt, erst dann denkt, wenn es zu spät ist.
Demgegenüber wäre es heute mehr denn je angebracht, anstatt „progressiv“ sein zu wollen, prometheisch zu sein: bewusst und planmäßig zu handeln, d.h. überlegen, bevor man agiert; darüber nachzudenken, ob überhaupt das, was gemacht werden kann, sich als sinnvoll erweist, und in weiterer Folge, wenn man glaubt, dass dem wirklich so sei, die Konsequenzen in all ihren Aspekten in Betracht zu ziehen, um dann, wenn sich ergibt, dass diese nicht günstig oder geradewegs ungünstig sind oder, was genauso zutreffen kann, im Dunkeln liegen und nicht eruiert werden kann, worin sie womöglich bestehen, darauf zu verzichten, innovativ sein zu wollen, insbesondere aber davon abzusehen, Dinge der Anwendung auf breiter Front zuzuführen, die man, und das ist entscheidend, in der Tat gar nicht braucht, da die Technologie des Status quo nunmehr durchaus hinreichend ist, das zu gewährleisten, was mit Bezug auf die menschlichen Belange in ihrer Gesamtheit notwendig ist. Ganz abgesehen davon, dass diese „Neuheiten“ fatale Effekte zeitigen können. Kurz: Nicht alles, was machbar ist, muss auch verwirklicht werden. Das heißt nun nicht, dass nicht weiter wissenschaftlich geforscht werden soll, es soll nur nicht das praktisch angewandt werden, dessen Gebrauchswert gleich Null ist und/oder schädlich oder von dem man nicht weiß, was daraus alles hervorgehen kann – und dann wäre es ratsam, so lange die Anwendung hinauszuzögern, bis die Sache geklärt ist.
Allerdings, die unbedingte Voraussetzung dafür, dass auf breiter Front, gesellschaftlich gesprochen, prometheisch gedacht und gehandelt werden kann – die Büchse der Pandora nicht immer wieder von neuem aufgemacht wird –, ist die Eliminierung des Prinzips des Profits – also des Privateigentums an den Produktionsinstrumenten –, das aber heißt: die Verwandlung der autonomen Sachen in Instrumente der Gesellschaft selbst. Kurz: Um prometheisch handeln zu können, muss die Gesellschaft zuerst einmal die Kontrolle über ihr Handeln erlangen, sie muss planungsfähig sein, d.h. das System, die Umstände, innerhalb deren sie handelt, so weit, wie es nur irgendwie geht, dominieren, anstatt von ihnen, wie bisher, blind gesteuert zu werden.
Nicht Progression mithin, sondern, wenn man so will, Transgression – die Überwindung der Systemimmanenz, die Überschreitung der historischen Grenze, die zwei differente Systeme von Produktions- und Konsumtionsweisen trennt.