Eingesessen und ausgesessen

Über den Stammtisch und seine Knotzer. Ruf. Verruf. Nachruf

von Franz Schandl

Immer wieder ist die Rede von ihm. Die einen meinen ihn zu haben, die anderen möchten sich auf ihn berufen, und die dritten wollen ihn zurückerobern. Doch wovon reden sie, wenn sie von ihm reden?

Nicht jeder Besuch im Gasthaus ist der Rubrik des Stammtischs zuzuordnen. Man kann essen gehen, man kann Zeitung lesen, einfach herumhängen, sich betrinken, man kann Karten oder Schach spielen, man kann sich mit Freunden und Bekannten treffen, Geschäftstermine oder Verabredungen wahrnehmen etc.- Der Stammtisch verspricht hingegen etwas Besonderes. Bereits die erste Deutung des Wortes legt dies offen. Stamm! Da stamme ich ab, da gehöre ich hin, da will ich nicht weg! Es dominiert ein affines und rituelles Verhältnis zu den eigenen Bedingungen und eine abwehrende Haltung gegenüber allem Ungewohnten, Fremden und Neuen. Tisch! Da sitze ich gern, da sitzen die Kumpels, da sitzen wir, also wir! Am Stammtisch sind Herkunft und Zukunft an die Tischbeine gekettet. So aneinandergekettet, ist Stallgeruch die logische Konsequenz. In der Regel sitzen am Stammtisch Stammgäste. Es geht um die Kontinuität der dort Eingesessenen.

Stamm und Tisch

Stamm und Tisch suggerieren die sitzengebliebene Einheit der sich gegenseitig zur Kenntnis gebrachten Gehörigkeiten. Man hört sich nicht nur zu, gehörig meint weiters sowohl zugehörig als auch gefällig. Man gehört also zusammen und es gehört sich auch so. Zusammengehörige hören Zusammengehöriges. Der Stammtisch versteht sich als Bollwerk des Soseins gegen das Anderssein. Man labt sich an Selbstvergewisserungen. Und zwar nicht nur an affirmativen, sondern an überaffirmativen. Konservativ bis reaktionär ist des Stammtischs Grundhaltung. Da er abwehren will, und noch dazu suggeriert, immer wieder zu verlieren, ist die Enttäuschung stets zugegen, schreit „das Handfeste“ nach griffigen Händen, nach Ordnung, nach Machern, die da endlich reinen Tisch machen. So hätte er es gern. Das Gehörige meint daher auch ungehörig sein zu müssen.

Sitzengebliebene erheben sich zur ideellen Tat. Gerne würden sie was anstellen. Geschickt anstellen sie sich freilich nicht. Die Verschworenen sind keine Verschwörer. Der Rat, der die Tat beflügeln soll, säuft oft schon im dritten Getränk ab, und das ist auch gut so. Knotzer bleiben knotzen. Wenn sie aufstehen, ist kein Aufstand in Sicht, da gehen sie dann bloß heim. Knotzen ist übrigens mehr als ein Synonym für sitzen. Knotzen bedeutet auch ein beharrliches Hängenbleiben, ein Nicht-Aufstehen-Wollen. Wenn man knotzt, hat man nicht einfach Platz genommen, man setzt sich nicht nur nieder, man will und wird hocken bleiben. Die Platzeinnahme ist ausdrückliches Bekenntnis, nicht zufälliges Ereignis. Noch deutlicher wird das, wenn wir vom Verb zum Substantiv wechseln. Hauptwörtlich gebraucht, definieren sich Knotzer nicht bloß als Sitzer (auch wenn sie gelegentlich einen sitzen haben). Sie möchten außerdem auch bedient und bewirtet werden, was ihre Aufstehschwierigkeiten zusätzlich fördert. Meist haben wir es hier mit Männern zu tun, die nicht nach Hause gehen wollen. Zumindest nicht gleich oder bald, sondern später. Das Kommen fällt stets leichter als das Gehen.

Trotz mancher scharfen Konturen, haben sich Stammtische in den letzten Jahrzehnten als weitgehend durchlässig erwiesen. Man trifft sich mit zwar mit Seinesgleichen, aber deren Korsett schnürt nicht die Klasse. Klasse ist ein untergeordneter Aspekt, es dominiert vielmehr eine gemeinsame ideologische Zurichtung und Weltanschauung, ein Hausverstand, der nicht unbedingt als einer der sozialen Interessen zu dechiffrieren ist, sondern kulturindustrieller Konditionierung folgt. Er ist medial geformt, nicht sozial bestimmt. Es geht mehr um Gesinnung und Haltung als um Schichtung. Klassenunterschiede sind am Stammtisch flacher gehalten als etwa in Fabriken oder Büros, Medien oder Universitäten. Die Distinktion ist nicht allzu groß, da mögen die Teilnehmer noch so unterschiedlich ausgestattet sein. Der Stammtisch nivelliert. Seine Selektion erfolgt primär nicht nach sozialen Kriterien. Nur Deklassierte (Arbeitslose oder gar Obdachlose) tun sich übermäßig schwer mit der Eingliederung, was in erster Linie vom finanziellen Defizit her rührt und zweitens mit gesellschaftlicher Ächtung zu tun hat, wie sie ebenfalls gerade auch innerhalb der sozial Schwächeren anzutreffen ist.

Am Stammtisch geht es um das Wiederherstellen des mentalen Gleichgewichts der dort versammelten Exponate. Sie stellen sich nicht in Frage, sie bringen sich in Stellung und versichern sich der Antwort. Es geht um Bestätigung und Übertragung geläufigen Unbehagens, das sich meist hurtig zu Vorurteilen und Ressentiments verdichtet. Das ist kein Zufall, sondern essenziell prädestiniert. Stoff dafür ist ein Rohstoff, der roh bleibt, weil er nicht wirklich verarbeitet wird. Das Unbehagen, das wir hier nicht disqualifizieren wollen, folgt einem Nicht-Zurechtkommen, das sich als einfacher Widerspruch manifestiert.

Der Schritt zur Kritik ist schwierig, weil verstellt, der zum Ressentiment leicht, da offen. Der Weg, der am Stammtisch eingeschlagen wird, ist der kürzeste. Anstatt sich analytischen Mühen zu unterziehen oder sich gar dialektischer Widrigkeiten auszusetzen, benennt man gemeinhin Schuldige, sieht sich als Opfer und wäre gerne Täter. Oft regiert die (alkoholisierte) Ohnmacht. Diese Ohnmacht gebärdet sich allerdings als Übermacht, als Lufthoheit und Flächenbombardement. Zustimmung macht die Runde. Die Apologeten des „So und nicht anders“ sind unter sich. Sie halten sich in Schach und bringen sich auf Trab. Am Stammtisch agieren aber weniger politisch Aktive als politisch Reaktive. Über den spezifischen Zusammenhang von Alkohol und Stammtisch, Politik und Männlichkeit wäre noch eigens zu referieren. Auf jeden Fall gibt es Kohärenzen, die nicht vom Tisch zu wischen sind, sondern geradezu auf den Stamm verweisen.

Stamm meint anhalten können, Tisch meint dabei sein. Der Stammtisch ist eine biologisch-ideologische Rückversicherung. Da nicht nur ich so denke, kann nicht dumm sein, was ich meine. Das ist eine bestechende, um nicht zu sagen: bestochene Logik. Analytische Askese ist hingegen strukturell. Es ist nicht der Versuch, zu verstehen, es herrscht die trotzige Ansicht, schon immer alles verstanden zu haben. Und daher weiß man auch alles besser. Theorie ist verpönt. Eine Atmosphäre des Soseins und eben nicht anders, weder anders wollen noch anders können, prägt diese Zusammenkunft. Der banale Gedanke, dass das Dasein kein Sosein sein muss, er fehlt völlig. Und so er nicht fehlt, ängstigt er. Das eingeengte Repertoire, die stets gleiche Choreographie und Phraseologie, die Endlosschleifen der Konvention, folgen einem ehernen Ritual. Heute könnte gestern gewesen sein, und morgen wird es nicht anders sein.

Nur selten erhebt der Stammtisch sich über die sinnliche Vernunft dieses praktizierten Hausverstands. Auf jeden Fall erkennt er an Tatsachen keine Verhältnisse, er bestätigt sich bloß in seinen kruden Vorstellungen von Ursache und Wirkung. Dass Missstände an Zuständen hängen, ja mit ihnen verwoben, nahezu identisch sind, will diesem Zugang nicht in den Sinn kommen. Man kommt über erste Regungen, die Erregungen ohne Befriedigungen sind, nicht hinaus. Das Gesagte verendet als Sudern, Sumpern, Nörgeln, Schwätzen, Meckern, Raunzen, Pöbeln meist in leeres Gerede. Eine bewährte Ansage jagt die nächste. Das Jammern wird nicht als Aufstand gegen den Jammer verstanden, sondern als Einstimmung auf diesen. Man weiß nicht so recht, was man will, aber man sinnt auf Revanche, auch in der Wahlzelle. Der Denkzettel betritt sodann die Bühne. Stimmen werden zu Gegenstimmen. Wut wählt. Diese Mischung aus Ratlosigkeit und Verärgerung wird instrumentalisiert durch Politiker, die behaupten, einen entschiedenen Kurs fahren zu können. Sie sprechen dabei ganz die Sprache der Stammtische. Stammtische sind ein Reservoir, aus dem der Populismus schöpfen kann.

Am Stammtisch herrscht beizeiten ein virales Vokabular, eine abgekartete, somit dunkle Gewissheit. Dauernd steckt man sich gegenseitig an. Am Jargon erkennen und ergötzen sich die seinen.Zusammenhänge interessieren kaum. Der Stammtisch ist stets für sich, ohne allerdings bei sich zu sein und zu sich zu kommen. Er ist der permanent niedergeschlagene Putsch, ein Aufstand selbstermächtigender Ohnmacht. Unlust führt nicht zur Verneinung, sondern zur Überhöhung derselben. Leiden soll durch Leiden korrigiert und kuriert werden. Oft suhlt man sich im Schmerz, den man nicht tilgen oder zumindest lindern will, sondern verallgemeinern. Man nimmt sich als Opfer wahr, das dauernd benachteiligt wird. Angenehmer wäre es, Täter zu sein, und damit liebäugelt man auch. Nicht, dass man sich als Opfer sieht, ist übrigens das Problem – wir alle sind in unterschiedlichem Ausmaß Opfer und Täter in unseren bürgerlich konstituierten Zusammenhängen. Die Frage ist, wie dieses Opfer begründet, wie es dimensioniert und was daraus abgeleitet wird.

Stamm und Mann

Der Stammtisch ist ein Der-Der. Der Stamm. Der Tisch. Der Stammtisch ist als gemeinsamer Tisch der männlich-bestimmten Abstammungsgemeinschaft zu entziffern. Der Stammtisch ist ein Ort projektierter Überheblichkeit und produzierter Überlegenheit maskulinistischer Selbstbestätigung. Eine Instanz des Absicherns ideeller Herrschaft imaginierter Herren. Es ist schwer, dort aus der Rolle zu fallen, weil nur eine Rolle vorgesehen ist, die der gegenseitigen Ratifizierung. Es ist eine fetischistische Zeremonie der Stoßgebete an einem religiösen, also verzauberten Ort. Ritualisiertes Reden in Rotation. Da wird weniger diskutiert als proklamiert und deklamiert. Man weiß Bescheid. „Ich sag dir…“ Das serielle Gerücht wird geradezu hoch gezüchtet und heiß gekocht. Man will nicht über sich hinausgehen, man will unter sich bleiben. „Unter uns gesagt“ begeben sie sich tatsächlich „unter sich“. „Über uns“ wird dort abseits der Charaktermasken nicht gesprochen, aber für dieses „unter uns gesagt“ ist das auch gar nicht nötig, es verweist vielmehr auf eine eherne Gemeinschaft von Verschworenen. „Wir“, das sind nicht Individuen, sondern Exponate eines sich gleichschaltenden Typs. Eine Art ideeller Reservearmee von Herrschaft und Konvention. Das Unten ist das Unten des Oben.

Am Stammtisch unterbieten dessen Teilnehmer sogar ihr eigenes Niveau, gefallen sich in der kollektiven Beschränktheit des Eh-Schon-Wissens. Es ist wie eine Rückkehr, ein Abfeiern der Regression im Zeichen diverser Gewissheiten. Es herrscht das Mitgerissen-Sein. Indes, der Stamm resümiert nicht bloß, er resigniert, ohne es zu wissen. Defensive wird überspielt und verdrängt. Resignation wird nicht als trauriger und armer Reflex wahrgenommen, sondern umgekehrt als entschiedenes Insistieren aufgefasst. Zum Trotz! Trotzdem! Nichtsdestotrotz! Man erhebt und ertüchtigt sich durch ständige Projektionen. Der Trotz steht nicht zur Disposition, er hält zusammen.

Der Stammtisch neigt zur einfachen Losung wie zur einfachen Lösung. Daher wird schnell und scharf geschossen. Die männliche Instanz setzt auf Entladung, nicht auf Entwicklung. Es ist der (real wie irreal) zu kurz gekommene Männerbund, der als lose Bande dort zu sich kommt, indem er außer sich gerät, aber dann doch hocken bleibt. So ein richtiges Racket wird er nicht. Typische Floskeln sind: „Ich hab’s immer schon g’sagt.“ „Das sieht ja ein Blinder!“ „Das weiß doch jeder!“ „Eh klar!“ „Ganz genau!“ „Völlig richtig!“. Neuerdings auch „Kein Thema!“ Im Ausrufezeichen ist er in seinem Element. Das Narrativ erscheint als Imperativ. Doch dieser illustriert nur die Schwächen, er ist Bluff, verliert sich regelmäßig in Angeberei. Gemeinsames Halluzinieren entfaltet sich. Zu den Stammtischen sind die Männer aus ihren Familien geflohen. Zumindest für eine Auszeit. Sie sind den Anforderungen und Verbindlichkeiten entronnen, können für wenige Stunden der Unverbindlichkeit frönen und sich ihre Überzeugungen durch Überredungen bestätigen lassen. Aussagen werden mächtig, wenn sie nicht nur ins Gerede kommen, sondern zum Gerede werden. Man erkennt das an der Kumulation gängiger Phrasen. An den Tischen wird ein Jargon des Soseins gepflegt. Es ist keine Sprache, die sich sucht, es ist ein Spruch, der sich immer wieder findet. Je gängiger, desto eingängiger. Angebetet wie angeboten werden Versatzstücke bürgerlicher Essentials. Der Stammtisch ist der ausgelagerte Stammsitz der kleinen Männer, eine Burg für Bürger oder besser noch eine kleine Burg für Kleinbürger. Es herrscht ein ungeschriebenes Statut, es hat sich eingesessen und eingebürgert.

Während Frauen zu Hause wirklich aufräumen, träumen Männer oft vom großen Aufräumen da draußen. Was selbst traditionell sich unterordnende Frauen mächtig ärgert, das sind die vielfach herausgenommenen Überzeiten. Da hat sie nicht nur gekocht, geputzt und vorgesorgt, und dann erscheint der Typ nicht einmal pünktlich zum Essen. Der überzogene Frühschoppen verdirbt so manchmal die Laune des Familiensonntags, sintemal da wieder einer knotzen geblieben ist. Zusätzlich zur selbstverständlichen Zuweisung der Rolle folgt auch noch deren Missachtung. Solch Verhalten ist doppelt degradierend.

Man meint hier also dezidiert Männer, wobei diese Definition nicht nur biologisch zu verstehen ist. Frauenstammtisch sagt, dass Frauen jetzt auch etwas haben wie Männer und sich auch so verhalten dürfen. Solch Emanzipation verläuft auf den Schienen des männlichen Vorbildes. Solch Emanzipation huldigt schlechterdings der männlichen Figur als Leitfigur, bestätigt sie als unüberwindbare Hürde des Gesellschaftlichen. Solch Emanzipation ist zutiefst unkritisch, ein Abziehbild. Hörig ist sie schon, zugehörig möchte sie werden. Und zwar gerade deswegen. Das Männliche wird nicht vom Sockel gestoßen, der Sockel wird verbreitert. Herrschaft steht nicht zur Disposition, sondern jene Position soll von und für uns Frauen erobert werden. Konkret nennt man das dann in unserem Fall Geschlechtergerechtigkeit. Alle demokratischen Bewegungen lechzten übrigens genau danach, nach Gerechtigkeit. Mehr als einen Fanatismus der Gleichstellung haben sie nicht aufzubieten. Vorhaben dieser Sorte wenden sich nicht gegen Unterdrückung, sondern nur dagegen, selbst unterdrückt zu werden. Der Punkt ist bloß, dass jene einen trifft, nicht dass sie überhaupt statthat.

Die Norm der Normalität wird nicht denunziert, ihr soll vielmehr entsprochen werden dürfen. Die eigene Abwertung wird als Makel und Defizit empfunden, daher steht Aufwertung im Forderungskatalog. Dass Wertung und Verwertung, Wert und Werte grundsätzlich ein Problem sein könnten, wird als Erwägung nicht in Betracht gezogen. Männliche Typologien werden plagiiert, keineswegs destruiert. Sie werden nicht in Frage gestellt, lediglich ihrer Exklusivität gilt der Einwand. Die diskriminierende Diskrepanz wird zum alles überragenden Problem, deren Aufhebung zum vorrangigen, ja oft einzigen Ziel. Benachteiligte wollen zu Beteiligten werden. Teilhaberin, ja Anteilhaberin, das ist es, was interessiert.

Dieser Ansatz ist an Immanenz kaum zu übertreffen. Inklusion wird eingefordert, keine Alternative vorgeschlagen. Bei aller Kritik der Herrschenden („Die da oben“), wird der herrschende Standpunkt keineswegs negiert, er soll partout eingenommen werden dürfen. Solch Emanzipation hat mit Transformation nichts zu tun, bestenfalls geht es um Gleichberechtigung. Um ein „Wir auch!“. Das Männliche wird so als Idealtypus betrachtet. Wer derlei Aktivitäten gar als Frauenbefreiung begreift, gibt zu verstehen, dass die Männer diesen Status bereits erreicht hätten, aber ihn akkurat nicht teilen wollen. Der Sockel wird nicht als Problem gesehen, sondern bloß, dass nur die Gockeln ein Anrecht haben, darauf zu stehen, nicht die Hennen. Alles wird einmal mehr zu einer Frage von Gleichheit und Gerechtigkeit, d.h. es wird bürgerlich aufgefasst und bürgerlich abgehandelt.

Informell und implizit

Der Stammtisch ist ein Hort des Zu-Kurz-Gedachten, er offenbart das Trottoir der Gefühle. Es regiert das Vorschnelle, Unbedachte, Eingeprägte, der unmittelbare Reflex, dem keine Reflexion vorangeht oder folgt. Man redet, wie einem der Schnabel gewachsen ist. Zu loben ist allenfalls seine Inkonsequenz. Das Gerede der Knotzer bleibt meist folgenlos, freilich transformiert es in aller Regel das Unbehagen ins Ressentiment, kanalisiert Unwillen in Unmut. Der Stammtisch wird sich dessen, was er angreift, gar nicht bewusst. Dafür generiert er durch einen Schuss an Aggressivität auch immer einen Überschuss an Aversion. Trotzdem ist der Stammtisch weniger ein Ort der Aggression als dessen Vorort. Er stößt folglich nicht ins Zentrum vor, weder ideell und noch weniger reell. Eher funktioniert der Stammtisch wie ein Ventil. Er dosiert, hält den Verdruss in Grenzen, weil er an vertrautem Platz geäußert werden kann. Entwicklung ist da keine auszumachen, er gleicht eher einem Fluss, der in sich selbst zurückfließt. Der Kleinheitswahn hat so seine inneren Schranken, allerdings ist er populistisch formbar und auch formierbar. Diese Kraft wächst dem Stammtisch indes von außen zu, ist keine innere Substanz, aber doch eine als akkumulierte Energie abrufbare Potenz.

Stammtische stehen zumeist nicht in Hinterzimmern, sie stehen in den Gaststätten an gesondertem aber nicht abgesondertem Platz. Was dort gesprochen wird, kann, ja soll auch über den Tisch hinweg gehört werden. Das Unter-Sich-Sein hat nichts Geheimnisvolles. „Wir haben nichts zu verbergen“, könnte ein Motto sein. Über den Stammtisch hinaus agieren die Beteiligten aber nicht als Gruppe. Sie sind kein Verein und auch keine Vereinsmeier. Deren Tische stehen auch eher in separierten Räumen. Am Stammtisch sitzt keine Masse, sondern bloß eine Gruppe mit begrenzter Teilnehmerzahl und Haftung. Die Größe des jeweiligen Tischs ist entscheidend. Stammtische sind auch nicht als Stammtische vernetzt. Für die Leute, die da sitzen, behauptet der Begriff Freunde zu viel und der Begriff Friends zu wenig. Die Knotzer sind eher Kumpels, die sich kennen, bessere Bekannte, Haberer.

Der Stammtisch ist halböffentlich und halbprivat. Diese hybride Zwischensphäre ist für dieses seltsame Medium durchaus eine seiner Spezifitäten. Obwohl nicht wirklich öffentlich, stellt er doch seinen öffentlichen Anspruch zur Schau. Zumindest will er zur Kenntnis genommen werden, verlangt nach Aufmerksamkeit und erheischt Interesse. Er ist also nicht mit einem privaten Kellerstüberl zu verwechseln, er ist auch nicht klandestin oder konspirativ im eigentlichen Sinne, man möchte gesehen werden und auffallen, aber alles dosiert. Auch wenn blöd geredet wird, strebt er nicht die Weltherrschaft an, er ist eher provinziell als imperialistisch. Weitgehender Konsens besteht darin, dass die Anderen draußen bleiben sollen. Doch selbst die grassierende Ausländerfeindlichkeit ist mehr latent als potent. Ganz allgemein gilt: Er ist weniger ernst, als er redet. Darin liegt einer seiner Vorzüge, auch wenn die Teilnehmer wohl auf solch ein Kompliment dankend verzichten würden.

Der Stammtisch ist ein Ort konzentrierter Beschränktheit. Die lebt er intensiv auf halboffener Bühne aus. Kritik verträgt er jedoch nicht. Darauf reagiert er allergisch. Die ist überhaupt nicht sein Metier, geschweige denn seine Stärke. Die Leidenschaften des Stammtisches sind regressiv. Selbstvergessenheit mutiert zur Größe. Kleinheitswahn versetzt sich in Größenwahn. Die Unzufriedenheit treibt den Stammtisch nie zu der Frage Was ist? oder gar Was ist warum?, z.B. Warum kommen die?, stattdessen bloß zu jener Was ist los?, Was nervt? oder Wie stellen wir das ab? Die Macher sind wahre Ausmacher. „Das darf doch nicht wahr sein!“ ist ein typischer wie bezeichnender Ausruf.

Der Stammtisch ist eine affirmative Instanz, die nie zufrieden ist. Er ist dagegen, weil er dafür ist. Das unterscheidet ihn grundsätzlich von der Kritik, die dagegen ist, weil sie dagegen ist. Der Stammtisch ist zufrieden und unzufrieden in einem. Zufrieden ist er, weil er sich seiner Gewissheiten sicher ist. Unzufrieden ist er, weil er feststellt, dass die Welt partout nicht so spurt und tickt, wie die Knotzer meinen, sie sich vorstellen zu müssen. Aus diesem Zwiespalt schöpft der Stammtisch seine Motivation. Energie entsteht durch wechselseitiges Aufladen der Teilnehmer. Man ist nicht allein sondern Teil, besser noch: geladenes Teilchen. Das fühlt sich auch besser an, mindert die persönliche Verlorenheit.

Der Stammtisch ist eine Instanz, aber keine Institution. Am Stammtisch sitzen gemeinhin meist Stammgäste. Zaungäste sind selten. Es herrscht eine geringe Fluktuation, die Zusammensetzung bleibt weitgehend konstant, weist nur eine zähe Dynamik auf. Termine werden nicht fixiert, sind aber relativ fix. Sie werden selten ausgemacht, sie ergeben sich. Man weiß Bescheid, ohne dass eine ausdrückliche Einladung erfolgt. Der Stammtisch offenbart sich als implizites und informelles Treffen, es wurde nicht verabredet, aber doch wissen alle, wann er zusammen tritt. „Bis zum nächsten Mal.…“ Sitzungen sind zwar nicht formell, sie folgen aber einem ritualisierten Programm. Sie kennen keine Tagesordnung und sie haben auch keine Regeln und Beschränkungen. Sie sind uferlos, aber sie kommen doch immer wieder auf dasselbe zu sprechen.

Es ist eine in sich geschlossene Gemeinschaft, was bedeutet: man kann nur dabei sein oder draußen sein. Vorbestimmung determiniert das Geschehen. Informell und implizit bedeutet weiters: Es werden keine Beschlüsse gefasst, keine Resolutionen erstellt, keine Verträge unterfertigt, ja nicht einmal Abmachungen getroffen, geschweige denn Verschwörungen angezettelt. Niemand wird sagen: „Das haben wir am Stammtisch ausgemacht.“ Solange die Stimmung so ist, bedarf es keiner Abstimmung. So sehr die Form frei erscheint, so sehr sind ihre Inhalte verbindlich, will man dazugehören. Und es geht um Zugehörigkeit, die, nimmt man das „Zu“ weg zur Gehörigkeit wird und eliminiert man das „Ge“, schlussendlich nur noch als blanke Hörigkeit firmiert. Trotzdem ist der Stammstich nicht per se faschistisch, auch wenn es dezidierte Nazi-Tische geben mag. Eins ist er freilich auch nicht: antifaschistisch.

Als Konventionsüberprüfungsstätten sind Stammtische Proberäume gegenseitiger Einstimmung. Es gilt diese bis hin zur Übereinstimmung zu steigern, aber auch wenn man gelegentlich scheitert, ist das kein Malheur. Kleinere Differenzen am Tisch sind symptomatisch, ohne sie würde Kommunikation erst gar nicht in die Gänge kommen. Der Stammtisch ist ein Komparativ des Gewöhnlichen. Die Getriebenen werden synchronisiert. Doch auch hier muss man wieder einschränken: Drill und Disziplin bestimmen die Verständigung keineswegs. Die Sozialisierung am Stammtisch verläuft meistens amikal, es herrscht weder strenge Zucht noch soldatische Pflicht. Man sitzt nicht stramm und man folgt auch keinen Befehlen. Gedacht wird autoritär, einander begegnet wird recht locker. Nicht zum Stammtisch wird gesprochen, sondern am. Die Beisitzer oder Knotzer reden miteinander. Sie lauschen (trotz mancher Unterschiede) nicht der Rede eines Vorsitzenden oder eines Vorbeters. Sie wollen bestätigt, nicht kommandiert werden. Die Hierarchie der Teilnehmer wird während jeder Séance noch zusätzlich eingeebnet. Soziales Gefälle wird kurzfristig sistiert, wobei größere Diskrepanzen sowieso eher selten anzutreffen sind.

Der Stammtisch wird also nicht einberufen. Man geht hin, wenn man will und man geht nach Hause, wenn man möchte. Und wenn man nicht oder nimmer will, geht man erst gar nicht hin. Das Herrschaftliche wird dort zwar nicht administriert, aber dem Herrschaftlichen wird folgenreich ministriert. Permanent. Zustimmung ergibt sich aus der informellen Geselligkeit, nicht aus einer formalisierten Struktur. Zweifellos fühlt man sich freier, da man die Zumutungen kaum spürt. Man ist sozusagen im Reservat. Aber deswegen ist die Kneipe, das Beisl, das Café nicht ein Prototyp oder gar die Vorwegnahme eines herrschaftsfreien Diskurses.

Lufthoheit als Hegemonie oder: Tick und Ticket

„Ein linker Populismus nach Chantal Mouffe muss Forderungen nach einer politischen, sozialen und ökonomischen Demokratisierung zu einem kollektiven Willen bündeln“1, so Nikolaus Dimmel und Roland Fürst in ihrem Artikel „Den Stammtisch links erobern“. Systemkonformität ist in dieser Überlegung kein Kennzeichen, sondern bloß eine Variante. Dass der Stammtisch eben für Ressentiments geradezu prädestiniert ist, rechte Inhalte gebiert, weil er eine rechte Form ist, will hier als Gedanke gar nicht erst kommen. Die konstitutionelle Essenz wird völlig ausgeblendet. Der Stammtisch hat keine Schlagseite, der Stammtisch ist von einem bestimmten Schlag, der eben nur einen bestimmten Menschenschlag präferiert oder besser nur Typen dieses Schlags können dort erfolgreich agieren, sonst wird man abgestoßen und ausgeschieden. Die Frage ist nicht, ob die Person, die am Tisch sitzt, so tickt, sondern wie der Tisch tickt. Er stellt die Tickets aus, er entscheidet, ob man zum Stamm gehört oder nicht. Wer den Stammtisch umpolen will, wird selbst umgepolt. Wer die Leute abholen will, wo sie sind, wird abgeholt.

Wenn man den Inhalt der Form nicht problematisiert, verkennt man den spezifischen Charakter dieser Art von Zusammenkunft. Der Stammtisch wird dann zu einem neutralen, apriori unbestimmten Kampffeld, einnehmbar von diesem oder jenem. Anders als vonseiten der Liberalen ergeht an die Linke nun nicht der Vorwurf, dass sie populistisch ist, sondern dass sie zu wenig populistisch sei. Chantal Mouffe ist die Großmeisterin dieses Vortrags. Hier denkt eins auf der Ebene des Aneignens, in den Kategorien „besitzen“ und „besetzen“. Doch für diese vermeintliche Habe fehlt jede Handhabe. Das Agieren ist keine Frage gewiefter Sozialtechnik und kommunikativer Brillanz, also keine einer ausgeklügelten Strategie. Der Stammtisch ist eine Trutzburg. Autoritäres Denken ist Grundbestandteil seiner Beschaffenheit und somit Haltung. Dimmel/Fürst fragen gar nicht erst nach der Verfassung des Stammtisches, seiner vorbestimmten Form, sondern gehen einmal mehr davon aus, dass dieser einfach mit unterschiedlichen Inhalten bespielt werden kann, verhielte man sich nur geschickt genug. Geschickt, das sind mitunter die Rechtspopulisten, daher habe der fällige Linkspopulismus nun vom Rechtspopulismus zu lernen, wie man das politische Terrain richtig beackert. Indes ist das Verhalten der Rechtspopulisten nicht geschickt, sondern adäquat, es kann nicht einfach kopiert werden. Die unterstellte Trennung von Form und Inhalt trägt nicht.

Das zentrale Problem ist demnach nicht, dass „sich dieses Narrativ aus Dilettantismus, Oberflächlichkeit, Selbstgefälligkeit sowie reaktionären Versatzstücken speist“ (Nikolaus Dimmel/Roland Fürst, Den Stammtisch links erobern, Der Standard, 8. Jänner 2019.), sondern dass die Beschränktheit dieses Gehäuses kein Jenseits davon zulässt, ja stets dieses elende Diesseits hervorbringen muss. Hegemonie kann also nicht erobert, sondern bloß gebrochen werden, indem die Form selbst Gegenstand der Kritik und der Transformation wird. Ansonsten landet man unweigerlich bei dem, was man eigentlich nicht wollte. Das ist auch die Krux des gesamten Linkspopulismus. Je mehr es ihm gelingt, Fuß zu fassen, desto verwechselbarer kommt er daher. Mit diesem Populismus lässt sich vielleicht ein linker Orbán züchten, doch mehr als eine Spielart des Peronismus ist nicht drin. Politik, die so dachte, und linke Realpolitik dachte fortwährend so oder so ähnlich, reklamierte und realisierte immer die hier angeführte Variante. Nur nicht volksfremd werden! Derweil ist der gemeine Vorwurf, weltfremd zu sein, sowieso absolut lebensfeindlich. Die Welt zu kennen, heißt nicht mit ihr zu können. Das Gegenteil gilt: Wer dieser Welt nicht fremd ist, hat keine bessere verdient. Im Ernst: Man hat dieser Welt fremd zu sein. Was sonst?

„Die Frames der Linken und Oppositionsparteien erzählen den Leuten derzeit gar nichts“, schreiben unsere Autoren. Tatsächlich, die Geschichten sind ihnen ausgegangen, es hat ihnen förmlich die Sprache verschlagen. Da ist keine Erzählung mehr, nirgendwo, es geht in der Politik (egal welcher Spielart) primär um die Technik der Stimmenakkumulation und folglich um Taktik und Reklame. Aber auch Dimmel/Fürst erzählen und wählen Vergangenes, indem sie sich offensiv auf die Bürgerlichkeit berufen anstatt sie in Frage zu stellen. „Heute ist mit ‚links‘ zwingend eine bürgerliche, konstitutionalistische Position gemeint, die auf Grundrechten, Gewaltenteilung, einem von Hannah Arendt geprägten Demokratiebegriff und einem normativen Säkularismus beruht. Die Linke verteidigt den aufgeklärten bürgerlichen Rechtsstaat gegen die postbürgerlichen Parteien der türkis-blauen Clique.“ Zwingend? Der Zwang, den Dimmel/Fürst hier konstatieren, ist selbst ein Konstrukt, prädestiniert dafür in einem bürgerlich verkürzten Linkstraditionalismus zu landen. Roland Fürst als Landeparteisekretär der burgenländischen SPÖ hat auch nichts anderes vorzuweisen. Dass gerade sein Landeshauptmann Hans-Peter Doskozil den Stammtisch erobert habe oder gar hätte müssen, wird wohl niemand behaupten. Er ist immer dort gesessen und hat nie etwas anderes gesagt. Das ist der gleiche Stall.

Da ist keine offene Form, die unterschiedliche Inhalte zuließe. Da ist ein geschlossenes Gehäuse, das Inhalte auf die Entsprechung zur Form kontrolliert, nur diese akzeptiert und alles andere exkludiert. Die Frames sind vorgegeben. Der Stammtisch ist prädestiniert für das hier Gesagte, d.h. er ist durch seine Formbestimmung vorgegeben, nicht einfach mit anderen Inhalten anzufüllen. Es geht also nicht um die Lufthoheit, sondern einmal mehr um die Überwindung einer spezifisch inhärenten Form. Das ist keine Attacke gegen geselliges Zusammensitzen, wohl aber eine Zurückweisung aller Gelüste, die da verheißen, sie könnten, wären sie bloß raffiniert genug, den Stammtisch übernehmen. Bestenfalls können sie sich als Personal zur Verfügung stellen und die Besetzung als strategischen Gewinn halluzinieren. Der Stammtisch beschreibt nie und nimmer ein neutrales Gelände, das Gebiet ist vermint. Ähnliches gilt übrigens auch für das Netz. Die Vorstellung, Formen seien apriori inhaltslos, ist ein gar zäher Irrglaube. Alle Formen, die der Kapitalismus hervorbrachte, sind ihm immanent, keine einzige hat transformatorische Potenz. Es kann mitunter nur sein, dass bestimmte Formen nicht mehr zu leisten vermögen, wozu sie geschaffen wurden. Aber sie transformieren sich auch dann nicht von selbst, wenn sie zusammenbrechen.

Schreiben linke Antipopulisten die Normalbürger einfach ab, so rufen linke Populisten sie regelrecht an. Hilfreich ist beides nicht. Man muss die Bürger durchaus wahrnehmen in ihrem Sosein, aber man muss deswegen deren Beschränkungen, denen sie anhängen, nicht Tribut zollen. Menschen sind nicht so zu nehmen wie sie sind, sondern wie sie sein könnten. „Menschenmenschen“2 nannte Hugo Sonnenschein diesen Typus. Man darf also nicht der Menschen Demütigungen und ihre Demut adeln, sondern muss diese tadeln, weil sie sind wie sie sind, selbst wenn sie dazu gemacht worden sind, ja selbst ihre Renitenz führt in keine Gegensouveränität, sondern ist Bestandteil der Unterwerfung. Menschen sind dementsprechend gegen diese ihre Prägungen aufzustacheln. Das hat mit Interessenpolitik freilich fast nichts mehr zu tun. Genau hier liegt der Sprung von der Politik zur Antipolitik. Darunter geht nichts, was den Namen Alternative und Emanzipation heute noch verdienen würde. Vor allem darf man die Reduktion auf die Position der Charaktermaske nicht anerkennen oder gar gutheißen. Das, was ihnen schadet, bedarf keiner Befürwortung, sondern der Überwindung. Interesse hin, Interesse her. Hegemoniebestrebungen der vorgestellten Art kapitulieren vor dem gesunden Menschenverstand und seinen Emanationen. Ziel ist vielmehr, das Gegenüber zum Staunen zu bringen und in weiterer Folge ein Erkennen und Empfinden auszulösen, das über den Alltagspositivismus hinauswill, also nicht von dieser Welt ist, sondern gegen diese Welt sich richtet. Erstaunen meint, sich zu fragen, wie man dazu kommt so und nicht anders zu denken und zu fühlen. Nur so können Beschränkungen gebrochen und überwunden werden. Anschlussfähigkeit, für traditionelle Politik unumgänglich, ist für die Vorhaben der radikalen Linken der Untergang.

Inhalt und Form sind jedenfalls zusammenzudenken. Jede Form ist ein Inhalt und jeder Inhalt eine Form. Inhalt und Form sind notwendige Gedankenabstraktionen, die aber nirgendwo lose für sich selbst stehen, sondern immer schon a priori Konstellationen (ver)bergen. Die Formprinzipien des kapitalistischen Gesellschaftsformation sind keine neutralen Strukturen, die erst im Zuge sozialer Auseinandersetzungen Inhalte empfangen. Sie sind in keiner Weise wertfrei, sondern wertbesetzt. Kurzum: Formen initiieren und limitieren Inhalte. Der Kapitalismus als krisenhafter Formzusammenhang produziert zwar stets gravierende Widersprüche, seine Stärke bestand aber bisher darin, diese permanent einzuhegen.

Der Stammtisch ist ein Ort der Regression, wo ein ehernes Programm abläuft. Dieses kann nicht umgedreht, sondern nur abgedreht werden. Der Stammtisch erzeugt demnach einen Sog, dem man sich lediglich entziehen kann, wenn man sich nicht daran beteiligt, d.h. nicht dazu setzt. Natürlich mag man den Provokateur geben, aber das wird dann ein einmaliger Auftritt gewesen sein, der dem Charakter des Tisches nichts anhaben kann. Es gibt jedenfalls keine Evidenz, dass die Bearbeitung von Stammtischen zu positiven Ergebnissen geführt hätte. Derlei Phantasien tragen nicht. Der Stammtisch ist eine Einrichtung dieser Welt für diese Welt. Er funktioniert bloß als ein Betriebssystem der bürgerlichen Gesellschaft. Mehr geht nicht. Mehr ist nicht. Mehr wird nicht. Die Orte gesellschaftlicher Verrückungen und somit Entwicklungen liegen anderswo. Nicht darin, dass man sich dort einsetzt, sondern dass man sich von dort absetzt. Jede Eroberung des Stammtisches ist eine Illusion, die programmatische Absicht kann somit nur darin bestehen, diese Form der Kommunikation zu überwinden, aufzulösen. Weglocken statt andocken!

Der Hausverstand

Ideelle Grundlage des Stammtisches ist der gesunde Menschenverstand, landläufig auch Hausverstand geheißen. Er steht, gerade jetzt auch wieder, hoch im Kurs. Sich auf ihn zu berufen, ist eine Selbstverständlichkeit. Wer sagt, das sagt der Hausverstand, glaubt schon ein gewichtiges Argument vorgebracht zu haben. Wer jenen heute prinzipiell in Frage stellt, setzt sich dagegen dem Vorwurf aus, verrückt zu sein.

Das einfache Gemüt tritt in Erscheinung, aber nicht in bescheidener, sondern in forscher Form. Dieses Forsche hat nichts mit Forschen zu tun, im Gegenteil, nirgendwo wird weniger geforscht als mit dem gesunden Menschenverstand. Ignoranz gibt sich ganz selbstbewusst und hält sich für selbstverständlich. Die naheliegende Frage nach diesem Selbst wird gar nicht erst aufgeworfen. Wozu auch? Die Ignoranz ist aber weniger überheblich als unterirdisch. Sie versteht sich als fester Boden, keineswegs als gemeiner Bodensatz. Geistige Hilflosigkeit verkleidet sich als Machtphantasie. Sie ist überzeugt, sintemal sie viele Zeugen hat. Das macht sie stark. Der kleine Mann wird in der Massierung geradezu größenwahnsinnig. Wir könnten, wenn wir täten, was wir wären. An den Stammtischen halluzinieren sich Amateure als Politabenteurer, aber dort sitzt noch keine Masse. Dazu müssten sie das Feld wechseln.

Fertigkeiten sind entwickelter als Erkenntnisse. Die Leute mögen heute über sehr vieles Bescheid wissen, über gar manches sinnieren, sie kommen aber nicht dazu, ihre Gedanken zu ordnen, sie zueinander und zur Welt in Beziehung zu setzen, zu relativieren oder zu festigen, zu hinterfragen und zu systematisieren. So bleibt dieses Denken in den Erfahrungen des Alltags hängen, verfängt sich in seinen Maschen, ist befangen und reicht kaum über die Möglichkeiten des Unmittelbaren hinaus. Ganz stolz sind die Leute auf ihren Realismus, der nichts anderes ist als willige und tüchtige Affirmation. Wie die Logik des Kapitals ist auch der gesunde Menschenverstand als ideologische Ausbrütung des Alltags blind. Diese Blindheit versteckt sich allerdings hinter der routinierten Bewältigung des Trotts, woraus dann ja auch gleich voreilig auf die Gesundheit der Betrachtungsweise geschlossen wird. Die Kategorie unterstellt weiters, dass alles von ihm abweichende Denken krankhaft und eine zu bekämpfende Infektion sei. Linda Lilith Obermayr hat das sehr präzise zusammengefasst: „Im gesunden Menschenverstand findet eine Naturalisierung der unmittelbaren Überzeugungen und Vorstellungen der Menschen statt, die ideologisch mit dem Prädikat ‚gesund‘ attribuiert werden. Dass der gesunde Menschenverstand daher schon begrifflich nicht imstande ist, über die je besondere Ordnung, der er als gesund gilt, hinauszudenken, ist ihm kein Mangel, vielmehr verkehrt er diese seine Unfähigkeit in das moralische Urteil, dass die bestehende Wirklichkeit, so wie sie sich unmittelbar darbietet, also die Positivität der staatlich gesetzten Zwangsnormen und sittlichen Konventionen, zu bewahren ist. Der gesunde Menschenverstand ist daher auch gleichgültig gegen das zu Legitimierende, weil er nur Ausdruck der herrschenden Gedanken seiner Zeit ist.“3

Doch selbstbewusst ist er, zweifelsohne. Wenn der gesunde Menschenverstand auf die Bühne tritt, attestiert er sich und dem Publikum, alles sei klar. Sein Erklären ist ein Klären, dem jede Widersprüchlichkeit abgesprochen wird: „In dem Erklären ist eben darum so viel Selbstbefriedigung, weil das Bewusstsein dabei [um] es so auszudrücken, in unmittelbarem Selbstgespräche mit sich, nur sich selbst genießt, dabei zwar etwas anderes zu treiben scheint, aber in der Tat sich nur mit sich selbst herumtreibt.“4 Unsicherheit ist seine Sache nicht, wo er doch zu versichern meint, was als sicher gilt – so seine felsenfeste Überzeugung. Er diskutiert nicht, er konstatiert. Er bewegt sich ganz auf der Ebene der sinnlichen Gewissheit, eines Verständnisses ohne Vernunft. Die Konstitution des Wissens wird auf die Intuition reduziert. Der synthetische Reflex wird der analytischen Reflexion vorgezogen. Wirkliches Denken ist jedoch kein Reflex, es ist mehr als ein Reproduzieren, es ist ein Erkennen, somit auch Denken über das Denken, kurzum: Reflektiertes Reflektiertes. Es ist ein Aufraffen, ein Ausharren, ein Hingeben, ein Auseinandernehmen, ein Zusammenfügen, ein Scheiden und Entscheiden. „Die öffentliche Meinung verdient daher ebenso geachtet als verachtet zu werden, dieses nach ihrem konkreten Bewusstsein und Äußerung, jenes nach ihrer wesentlichen Grundlage, die, mehr oder weniger getrübt, in jenes Konkrete nur scheint. Da sie in ihr nicht den Maßstab der Unterscheidung noch Fähigkeit hat, die substantielle Seite zum bestimmten Wissen in sich heraufzuheben, so ist die Unabhängigkeit von ihr die erste formelle Bedingung zu etwas Großem und Vernünftigem.“5

Antonio Gramsci nannte das Alltagsbewusstsein einen „schrecklichen Sklavenhändler des Geistes“.6 Dem gesunden Menschenverstand liegt die Verallgemeinerung unmittelbarer Erfahrungen zugrunde. Erfahrung ist lediglich ein passives Hinnehmen, ein In-Sich-Aufnehmen des Geschehens, ja noch mehr: ein Darin-Aufgehen. Erfahrung verlässt die Form des Passivs niemals als Negation, sondern bloß als sich ständig wiederholende Positionierung des Vorgefundenen. Als Repetition. Es ist ein Charakteristikum der Erfahrung, dass sie über das Herkömmliche nicht hinauswill und auch nicht hinauskann. Erfahrung ist Beschränkung des menschlichen Geistes auf das, was sich ihm täglich aufdrängt. Nützlich zur unmittelbaren Bewältigung des Alltags, aber nicht zu mehr. Ihr Denken ist ein Registrieren, ein Kapieren, ein Speichern. Der Alltag als der erscheinende Rest, der das Wesentliche sinnlich überdimensionierenden objektiven Tatsächlichkeiten und subjektiven Vollzugspflichten, ist die träge Aufdringlichkeit schlechthin. In seiner penetranten Art des Soseins lässt er kein Entfliehen zu. Einmischung funktioniert dann als Eingemischt-Werden. Jedem Entzug folgt die Heimholung. Die Frage ist: Gilt es ans Alltagsbewusstsein anzuknüpfen oder dieses zu zersetzen? Anknüpfen läuft durch Betätigen stets auf Bestätigen hinaus. Das Alltagsdenken ist nur zu berühren im Sinne von an(zu)greifen. Man lässt sich bloß gegen es mit ihm ein, ansonsten wird man akkordiert.

Leo Kofler schreibt: „Dieser Alltagsverstand bewegt sich auf der Oberfläche der Alltagserfahrung, auf der Ebene des ‚Tatsachen’scheins, der das Wesen und das Wesentliche verschleiert, für den Alltagsmenschen unkenntlich und unverständlich macht. Sowohl für diese Alltagshaltung wie für deren theoretische Reflexion trifft der – auf eine nicht zu leugnende, oft subtile Weise – von den theoretischen Akteuren selbst gewählte Begriff des ‚Positivismus‘ zu. Der Alltagsmensch, erst recht der in das empiristische Räderwerk eingespannte Arbeiter, ist notwendiger- und gezwungenermaßen Positivist. Das Durchschauen des Alltagsscheins ist ihm fremd, es würde das Bestehende transzendieren und dem Menschen die Fähigkeit rauben, sich anzupassen, mitzumachen, zu funktionieren, wie es ihm die ihm angetane Funktion in einem System der Selbstreproduktion der repressiven Ordnung abverlangt. Ein auf Totalitätsdenken beruhendes Durchschauen der Verhältnisse würde die für das Funktionieren unerlässliche Bedingung der Identifikation mit wesentlichen Einrichtungen der bestehenden Ordnung unmöglich machen. Identifikation in irgendeiner Form ist in jeder Gesellschaft unvermeidlich und notwendig (….).“7

Völlig zurecht war der gesunde Menschenverstand bei bedeutenden Philosophen äußerst schlecht angeschrieben. „Dich auf Beistimmung der allgemeinen Menschenvernunft zu berufen, kann dir nicht gestattet werden; denn das ist ein Zeuge, dessen Ansehen nur auf dem öffentlichen Gerüchte beruht“,8 schrieb Immanuel Kant in seinen „Prolegomena“. Laut Georg Wilhelm Friedrich Hegel ist es dezidiert so, „dass in dieser Wissenschaft ganz andere Bestimmungen vorkommen als im gewöhnlichen Bewusstsein und im sogenannten gemeinen Menschenverstande, der nicht gerade der gesunde, sondern auch der zu Abstraktionen und zu dem Glauben oder vielmehr Aberglauben an Abstraktionen heraufgebildete Verstand ist.“9 Über dessen Beschränkungen schrieb er: „Dagegen im ruhigen Bette des gesunden Menschenverstandes fortfließend, gibt das natürliche Philosophieren eine Rhetorik trivialer Wahrheiten zum besten. Wird ihm die Unbedeutendheit derselben vorgehalten, so versichert es dagegen, dass der Sinn und die Erfüllung in seinem Herzen vorhanden sein müsse, indem es überhaupt mit der Unschuld des Herzens und der Reinheit des Gewissens und dgl. letzte Dinge gesagt zu haben meint, wogegen weder Einrede stattfinde, noch etwas weiteres gefordert werden könne.“10 Der gesunde Menschenverstand ist das „bewusstlose Urteilen“,11 er „ist daher etwas End- und Bodenloses, das nie dazu kommen kann zu sagen, was es meint, weil es nur meint und sein Inhalt nur Gemeintes ist.“12 Karl Marx bescheinigte ihm einen „grobianischen“ Charakter, er sei „plebejische Form für spießbürgerlichen Inhalt“13. Und Theodor W. Adorno resümierte einen gerade „durch seine Gesundheit erkrankte(n) Menschenverstand“14. Man beachte das „durch“!

Der gesunde Menschenverstand mobilisiert einen niederen Instinkt gegen eine höhere Diversität. Der Appell an ihn hat inzwischen an Dichte gewonnen, ohne dass jemand den Kopf schüttelt. Die Anrufungen werden regelmäßig abphrasiert: „Das sagt doch der Hausverstand“, heißt es allerorten. Indes ist der Hausverstand Folge einer ungemeinen Komplexitätsreduktion. Diese ist im Alltagsleben objektiv notwendig wie subjektiv obligat. Der gesunde Menschenverstand verdeutlicht jedenfalls keine Vielschichtigkeit, sondern kapriziert sich auf Oberflächenphänomene. Er steht weder besonders hoch, noch geht er besonders tief, er ist seicht und platt. Er ist eine Grundrechnungsart der primitiven Sorte, Zusammenzählen erscheint ihm als hohe Kunst. Ständig kommt der gesunde Menschenverstand mit den Grundrechnungsarten. Man muss 2 und 2 zusammenzählen können, behauptet er. Ja schon, muss man, aber wie weit kommt man damit? Gerade mal in das zweite Semester der 1. Volksschulklasse. Dass einfache Anforderungen des Alltags mit ihm tadellos gelöst werden können, sagt nichts über seine Qualität aus, sondern nur über sein Gebiet.

Der gesunde Menschenverstand ist in seine Schranken zu verweisen. Demobilisierung ist angesagt. Wenn etwas der Hausverstand sagt, dann sollten eigentlich die Alarmglocken läuten. Gerade der Stammtisch agiert jenseits aller Ambivalenzen. So etwas wie Grenzen der eigenen Beschränktheit gibt es für ihn nicht. Gravierende Rücksichtslosigkeit setzt sich gegen lavierende Rücksichtnahme. Der Hausverstand ist uferlos auf seine eigene Art. Ganz den Alltagsphänomenen verfallen, kommt er über sie nie hinaus. Gesellschaftliches Unglück erscheint ihm stets als Verunglückung, sei es die eigene, aber noch deutlicher irgendein Fremdverschulden. Die anderen sind es. Irgendjemand hat Schuld zu sein, an reellen wie an eingebildeten Missständen. Dass das Unglück die eigene Verstrickung ist, dass es also weder eindeutig subjektiver noch objektiver Natur ist, will und will und darf und darf nicht kommen. Das wäre Dialektik, und die wird gescheut wie verscheucht. Sie würde dem kruden Identitäts- und Zuordnungswahn auch zuwider laufen. Verstrickt ist man weniger, weil man sich mit etwas eingelassen hat, sondern weil man so hineingeboren wurde und aufgewachsen ist, in die Verhältnisse via Alltagspraxis eingemischt wurde und sich nichts mehr anderes vorstellen will. Was freilich nur eine Erklärung ist und keine Entschuldigung. Denn keins muss letztlich akzeptieren, was eins so alles widerfährt.

Dass alles, was erhebend und erhellend ist, nicht am Bürgersteig genannten Trottoir zu finden ist, sondern höheren Etagen menschlicher Regungen entspringt, seien es Erkenntnisse oder Empathien, ist zu ergänzen. Das Geistige und das Mentale werden jedoch in die Gosse gezerrt, sie werden minimiert, ohne dass dies als Manko erscheint. Schaurig wie traurig. Ein gepanzertes Rudel streicht als Kollektiv das Individuum durch, auch, ja insbesondere das eigene. Autoaggression führt geradewegs in die Selbstverstümmelung. Der Hausverstand ist ihr Überträger.

Tisch und Netz

Stammtische sind Bestandteil der analogen Welt. Sie mögen seriell aufgestellt sein, aber sie sind nicht als solche vernetzt, geschweige denn können sie sich retwitten. Der Stammtisch bleibt in seinem Raum gefangen, er tagt auch nicht in Permanenz, und er ist angewiesen auf ein physisches Gegenüber. Die Botschaften treffen sich nicht ohne die Menschen, die zu ihnen gehören. Daher stimmt das eingangs behauptete „Alle reden von ihm“ nur noch bedingt. Die Rede wird seltener. Die täglichen Erfordernisse des Erwerbslebens und des Konsums, inklusive der von der Kulturindustrie bestimmten Freizeit, erlauben kaum, sich diese Auszeit zu nehmen, ja sie sich überhaupt genehmigen zu können. Die Hochblüte der Stammtische ist vorbei. Die Knotzerei dauert einfach zu lange. Diesem Trend postmoderner Hurtigkeit Rechnung tragend, ist vor allem an den Theken der Tankstellencafes aus dem Knotzen ein Hocken, ja Stehen geworden. Diese könnte man durchaus als Rückzugsgebiete zweiter Ordnung begreifen.

Das Prinzip „Gach geht gar nix“, ist im Niedergang. Wo alles flott zu sein hat, alles prompt zu erledigen ist, wirken solch behäbige Treffen zusehends anachronistisch. Träger Trott ist Schrott von gestern. Nicht ausgeschlossen, dass es nicht mehr lange dauert, bis es sich ausgesessen hat für die Eingesessenen. Die Terminkalender lassen das nicht zu. Das Tempo der neuen Zeiten zerstört Gemächlichkeit und Gemütlichkeit, sie sind an den Stammtischen immer weniger praktizierbar, sieht man vielleicht von den Pensionisten ab. Doch auch die befinden sich zunehmend in einem Unruhestand. Außerdem steigt die Gefahr, dass man sich etwas holt. Der direkte Kontakt ist in Verruf gekommen, nicht erst seit Corona. Digital ist alles sicherer. Solange Computerviren nicht auf Menschen überspringen können, ist kein Trojaner für die Lunge des Users eine Gefahr. Der Leib bleibt auf den ersten Blick unversehrt. Aber bloß auf den ersten, sieht man, wie sehr Kränkung und Störung zu Ergebnissen digitaler Kommunikation aufgestiegen sind.

In ihrer Gesamtschau besaßen Stammtische eine informelle Wucht, aber kein formelles Gewicht. Im Netz jedoch geraten das Informelle und das Formelle, das Private und das Öffentliche, völlig durcheinander. Als getrennte Einheiten sind sie kaum noch wahrzunehmen. Die Bedeutung des Stammtischs ist durch das Überhandnehmen und die Ausstülpungen des Internets mittlerweile entschieden zu relativieren. So wenig Stammtisch war noch nie. Die Pandemie beschleunigte die Erosion. Die Hochstimmung ist verflogen. Der Ruf gerät als Verruf zum Nachruf und erhält so ungewollt eine fast wehmütige Note. Die digitalen Alternativen zu ihm sind kein Fortschritt. In der Dimension sind sie sogar monströser, weil es die Beschränkungen des Stammtischs in der virtuellen Welt nicht mehr gibt. Der Stammtisch steht in einem behüteten Bereich, im Netz hingegen sind alle Flanken offen. Inklusive Arsch. Die digitale Okkupation ist viel umfassender. An allen Ecken und Ende poppt es auf, kein Raum, kein Zusammenhang, der dem entgehen kann. Es marschiert ein, sobald der Rechner läuft oder das Mobiltelefon läutet. Stets ist man zugegen. Wo man auch weilt, die Botschaften sind an allen Orten zu empfangen. Man kommt nicht aus. „Ich bin nicht erreichbar!“, war schon gestern ein lächerlicher Satz von vorgestern. „Ich bin mal weg!“ wird zusehends unmöglich. Und selbstverständlich hat man nicht nur zu empfangen, sondern auch zu senden. Des Bürgers Recht ist des Bürgers Pflicht!

Der Stammtisch braucht eine Stätte, meist eine Gaststätte. Das Internet benötigt keine solche Stätte mehr, weil es invasiv in alle Räume eingedrungen ist und überall intensiv genutzt wird. Wenn es denn doch eine Stätte ist, dann eine Richtstätte, nicht nur weil Videos von Köpfungen und Todessprüngen ins Web gestellt werden. Das Virtuelle eröffnet eine zweite, ganz eigene Matrix, dort braucht man sich gar nicht mehr körperlich zu konfrontieren. Zum Stammtisch muss man noch hingehen, sich aufraffen. Um ans Handy oder ins Netz zu gelangen, bedarf es keines reellen Ortswechsels. Man schaltet ein, ist angeschlossen und dabei. Beim Mobiltelefon muss man nicht einmal einschalten um eingeschaltet zu sein. Man wird eingeschaltet. Es läutet und summt, es klingelt und piepst. Schon ist man parat, steht „Habt Acht!“

Der Stammtisch ist ein besonderer, beinahe antiquierter Ort, das Netz dagegen verströmt kosmopolitische Universalität. Es ist raumübergreifend aber raumlos, weil überall. Man ist zwar nicht überall, aber man ist allerorts erreichbar. Unspezifische Ortlosigkeit bedeutet: Punkte werden von Netzen abgelöst. Das Dasein schlägt seltsame Kapriolen. Um uns zu treffen, benötigen wir keinen Ort mehr, verfügen wir bloß über die entsprechenden Geräte und Programme. Nicht nur Präsenz wird obsolet, auch Absenz wird nicht geduldet. Man hat da zu sein und gleichzeitig dort zu sein, und man hat dort zu sein, ohne fort zu sein. Man muss nicht da sein, aber trotzdem zugegen. Da geht zusammen, was sich früher ausgeschlossen hat. Das Virtuelle wird zum Modus der Welt, das Reelle gerät in eine museale Sonderzone. Auch hier beschleunigt das aktuelle Virus und seine absehbaren Nachfolger diese Tendenz. Das Besondere und das Allgemeine tauschen Platz. Auch die Zeiten geraten übrigens durcheinander. Da alles jederzeit aufgerufen werden kann, wird aus Vergangenheit nicht Geschichte, sondern virtuelle Reprise. Die Chronologie wird beschädigt. Vorher und nachher geraten durcheinander, Zeiten und Geschwindigkeiten kollabieren.

Am Stammtisch wird jeder Unsinn dosiert, weil faschiert. Anders im Netz: Da geht er ungefiltert auf Sendung. Der Stammtisch mag zwar nicht vertrauenseinflößend sein, aber er ist doch in sich wie nach außen halbwegs vertraulich. Somit auch aufgrund der Portionierung verdaulich. Die Kolportage mag anmaßend sein, sie ist aber nicht vermessen. Ihre Inputs hängen an kleinen Glocken, und die oft sich widersprechenden Gerüchte bringen manchmal mehr durcheinander als auf Linie. Getätigte Aussagen sind nicht nur verschwommen, sie verschwimmen auch. Am Stammtisch dominiert außerdem ein versöhnlerischer Hang zum Konsens, nicht ein eherner Zwang zum Schlag, wie es die Hits (nomen est omen!) im Netz erfordern. Das Verhältnis der Knotzer zueinander ist freundlich, lässig bis schlampig, nicht cool und straight. Der reelle Knotzer ist kein virtueller Killer. Lässig heißt nachlässig wie durchlässig. Das Verhältnis ist zwar nicht wirklich transparent, aber auch nicht richtig opak.

Digitale Kloake

Der Stammtisch exkludiert, das Netz inkludiert. Am Stammtisch wird man kooptiert. Der Einstieg bedarf der Protektion. Es herrscht eine implizite Gesichtskontrolle, aber kein formelles Aufnahmeverfahren. Ins Netz wiederum darf jede und jeder rein, dort verfängt und verheddert man sich leichter, weil es zugängiger ist als der Stammtisch. Am Stammtisch wird eins noch direkt konfrontiert, nichts ist anonym. Weggehen ist leichter als Ausschalten. Das Netz kennt keine Prozedur der Aufnahme, wer rein möchte, ist drinnen. Aber auch wer nicht rein will, hat rein zu wollen. Netzzwang versteht sich als Nutzzwang. Wer nicht möchte, wird relegiert. Das Netz hat nun gar nichts mehr von einem Reservat. Es ist keine Zone, eben weil es sich über die gesamte Gesellschaft spannt. Um dabei zu sein, muss man dezidiert nicht an einem gemeinsamen Tisch sitzen. Um zugegen zu sein, kann man überall sein. Außerdem gibt es eine Unmenge Platz, genauer gesagt Speicherplatz, so sind auch diverse, ja unendlich viele Aborte vorhanden, wo man sich so richtig entäußern, also auskotzen und ausscheißen kann. Der in die Kotkanäle des Netzes eingespeiste Dreck addiert sich nicht nur, er multipliziert sich, eben weil kopierfähig. In der digitalen Kloake geht zwar (schon aufgrund der unfassbaren Menge) mehr unter als in den analogen Pfützen, aber das, was nicht untergeht, strahlt und prahlt in voller Impertinenz, kann sich buchstäblich in phantastisch-irre Dimensionen potenzieren.

Kein Netz ist so vernetzt wie das Netz. Und die Maschen der asozialen Medien werden enger. Man weiß mitunter nie, wer alles mitliest und mithört. Unterwirft man sich am Stammtisch noch eines konventionellen und kontrollierten Auftritts, so ist jener im World Wide Web weitgehend ungeregelt, wenn auch nicht unkontrolliert. Diese Kontrolle liegt nicht in der Selbstbegrenzung, sondern in der wechselseitigen Fremd- oder gar Feindbeobachtung. „Das geht nicht“ schlägt um in „Alles geht!“. In den virtuellen Welten kann man wirklich rauslassen, was man immer schon rauslassen wollte. Solch Auftritt kann zwar untergehen, aber er wird nie verschwinden. Er ist aufrufbar und abrufbar. Was ein veritables Problem darstellt, da man nun ad infinitum darauf festgelegt werden kann. Die Punzen sitzen. Jeder Auftritt eine Aufzeichnung, die verfügbar gemacht werden kann und nach einigen Kopiervorgängen, Downloads und Uploads auch nicht mehr beseitigbar ist. Aufstieg und Relevanz der Suchmaschinen verdeutlichen das. Alles kann transparent gemacht werden. Das Untergegangene ist nicht perdu. Es kann immer wieder auftauchen. Adäquate Suchbefehle bringen es an die Oberfläche. Die Frage von Fritz an Hans, was Otto über Karl vor vier Wochen am Stammtisch genau gesagt haben soll, scheitert bereits an den verschiedenen Erinnerungen, Vorstellungen, Haltungen, Interessen.

Vieles, was an den Tischen gesprochen wird, wird in Vergessenheit geraten, vor allem diverse Details und Verbalinjurien. Das ist auch gut so, sowohl für die Sprecher als auch für die Angesprochenen, insbesondere für die Ausgerichteten. Es mag vieles nicht so ernst gemeint sein, und auch das ist gut. Was hingegen im Netz geäußert wird, kann jederzeit im Netz wieder nachgeladen werden. Löschen ist schwierig, stets bleiben Spuren. Zum Ernst wird auch das, was gar nicht so ernst gemeint gewesen ist. Einmal im Netz gelandet, ist es fortan immer da, weil irgendwo abgespeichert. Volatile Virtualität bedeutet, dass alles zwar schnell entschwindet, ohne dass es freilich reell verschwindet. Auch wenn es vergessen schien, kann es auf- und abgerufen werden, es ist nicht verloren. Reanimation ist auf Knopfdruck möglich. Das Tote wird zombiotisch. Die weltumspannende Maschine, das Web, vergisst nichts, es hat via Speicher ein unendliches und unheimliches Gedächtnis. „Vergiss es!“ muss man vergessen.

Das „Unter-uns-gesagt“ des Stammtischs, das Objekten wie Subjekten gleichzeitig Schutz gewährt, ist im Netz nicht mehr realisierbar. Unter sich bleibt nichts. Gerücht und Nachrede erreichen zahlreiche Adressaten, auch wenn die Absender das gar nicht gewollt haben oder mittlerweile nicht mehr wollen. Zwischen Blöd-Reden und Blöd-Senden ist mehr als ein gradueller Unterschied. Privates Schimpfen ist unabdingbar für die eigene Psychohygiene, das in die Vervielfältigungsmaschinen geratene öffentliches Geifern coram publico ist unerträglich und grauslich. Vor allem weil und wenn Multiplikatoren multiplizieren. Es ist schon tolerierbar, die blöde Pappen nicht halten zu können und heiße Luft abzulassen. Es ist aber abstoßend, dies in alle Welt zu posaunen.

Jeder und jede hat unter diesen Bedingungen den Anspruch verloren, nicht abgekanzelt und somit verletzt zu werden. Umgekehrt: Vorsätzliches Beleidigen wird zum Menschenrecht. Niedertracht lauert überall. Die Pranger sind aufgestellt. Ihre virtuelle Form, die den historischen Ausgangsstücken weit entrückt ist, erreicht ungeheure und unfassbare Dimensionen. Der Rufmord wird zur Normalität. Das Blöd-Senden verlässt den Tisch, der nun ein Schreibtisch ist (aber zunehmend nicht einmal mehr ein solcher sein muss!), auch wenn es gar nicht beabsichtigt war. Digitale Einsamkeit ist dabei, die (klein)bürgerlich gestutzte Geselligkeit zu überwinden. Jeder Rempler ist vernehmbar, da alles medial verwertet werden kann. Transparenz vernichtet die wechselseitige Protektion. Im Netz ist der Abort nun universell geworden. Er ist kein stilles Örtchen mehr, und das ist der Stammtisch zweifellos, trotz allem Gepolter. Während man am Tisch gelegentlich in die Scheiße treten kann, hagelt es im Netz regelrecht Kot. Noch eins: Öffentlich ist die Sendung, intransparent der Sender, der sich hinter zahlreichen Pseudonymen verstecken kann und das auch weidlich nutzt. Am Stammtisch gerät die Botschaft keineswegs zur seriellen Sendung, außerdem ist klar, wer was gesagt hat. Besagte Personen sitzen Gesicht zu Gesicht am gemeinsamen Tisch. Dokumentation und Transparenz betreffend Tisch und Netz sind jedenfalls völlig unterschiedlich akzentuiert. Was ist ein reeller Kobold gegen einen virtuellen Troll? Man lese Postings.15

Wie vorhin bei Dimmel/Fürst der Stammtisch, so kommt nun das virtuelle Wesen bei vielen Autoren ganz neutral daher, etwa bei Timo Daum: „Digitale Plattformen sind inhaltsleere, leblose Strukturen, die von uns allen mit Inhalten gefüllt und dadurch erst zum Leben erweckt werden. Facebook, Twitter oder YouTube produzieren selbst keine Inhalte, das unterscheidet sie von klassischen Medienunternehmen. Die User füttern ein System, das es ohne sie nicht gäbe, haben aber kein Mitbestimmungsrecht über dessen Form und keine Kenntnisse über dessen Struktur.“16 Es ist schon interessant wie hier wieder einmal einer simplen wie rigiden Trennung von Form und Inhalt der Mund geredet wird. Doch was nun? Gibt es Struktur, oder ist sie leblos, also tot? Und gilt Ähnliches auch für die Plattform geheißene Form? Ist sie wirklich leer, bevor sie gefüllt wird? Fragen sind das, die in solch blanker Affirmation regelrecht untergehen. Das beschriebene Kommunikationsgehäuse ist keineswegs leblos und inhaltsleer, es gibt vor, was es spiegeln möchte. Gerade eben üben die „neutralen“ Medien des Internets sich zusehends wieder im Ausschließen und Sperren. Digitale Megamaschinen determinieren, was zulässig ist und was nicht.

„Der Informationsgehalt eines Zeichens ist durch seine statistische Auftrittswahrscheinlichkeit bestimmt“,17 weiß unser Autor weiters zu berichten. Was vorkommt, ist, was nicht vorkommt, ist nicht. Der Gehalt wird gemessen an Klicks und Quoten. Also muss eins mitmachen, will es nicht keins sein. Es ist wohl kein Zufall, dass Daum hier die ökonomiefizierte Kategorie Gehalt der des Inhalts vorzieht. Ohne Zahl keine Existenz. Wie viel? hat Was? weitgehend abgelöst. Der Gehalt und das Gehalt werden zusehends identisch. User haben darauf zu schauen, geliked und gefollowed zu werden. Statistik ist ihr täglich Brot. Indes, was eine Information hergibt, kann gar nicht von der Summe der Rezipienten abhängig sein. Da weiß ich höchstens, wie viele diese Botschaft gehört oder gesehen haben. Ich weiß nicht einmal, wie die scrollenden Visitanten sich damit befasst haben, geschweige denn, was sie sich gemerkt haben. Die Güte der Notiznahme ist in der Situation weder feststellbar noch überprüfbar. Die Relevanz einer Aussage ist im Wesentlichen qualitativ zu ermitteln, nicht quantitativ abzulesen.

Die deliberative Potenz der digitalen Welt ist bisher auf jeden Fall geringer als die negativen Sequenzen, die sie in den verschiedensten Lebensbereichen (Alltag, Umwelt, Beruf, Freizeit, Infotainment, Entertainment…) verursacht. Es ist nicht ersichtlich, warum sich das ändern soll, auch wenn ihre Propagandisten von rechts bis links alles Mögliche versprechen. Es ist eine dieser uns anlabernden Tiraden, das ob ihrer unentwegten Erzählung zum sozialen Narrativ geworden ist und als Vision des Daseins erscheint. Perspektive, die diesen Namen verdient, kommt aber nicht aus den Maschinen, sie verschwindet vielmehr dort. Doch derlei Einsichten wirken mitunter wie antiquierte Ansichten. Da wir nicht mehr anders können und in naher Zukunft auch nichts mehr anderes kennen, ist derlei Kritik wohl schon in Bälde Streusalz von gestern. Vorgetragen sei sie trotzdem.

1 Nikolaus Dimmel/Roland Fürst, Den Stammtisch links erobern, Der Standard, 8. Jänner 2019. Die folgenden Zitate stammen aus diesem Beitrag.

2 Hugo Sonnenschein, Der Bruder Sonka und die allgemeine Sache oder das Wort gegen die Ordnung (1930); in: Peter Haumer, „Judenjunge, Slowakenkind, Kulturbastard.“ Versuch über das Leben von Hugo „Sonka“ Sonnenschein, Berlin 2020, S. 159.

3 Linda Lilith Obermayr, Die „Drachensaat“ des Hegelianismus. Widerspenstigkeit und Kritik spekulativen Denkens; Jahrbuch für marxistische Gesellschaftstheorie #1: Staatskritik, Marxistisches Denken, Wien und Berlin 2022, S. 79.

4 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807), Werke 3, Frankfurt am Main 1986, S. 134.

5 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), Werke 7, Frankfurt am Main 1986, S. 485-486.

6 Antonio Gramsci, Gefängnishefte, zit. nach Umberto Cerroni, Gramsci Lexikon. Zum Kennen- und Lesen lernen. Hamburg 1980, S. 45.

7 Leo Kofler, Zur Kritik der „Alternativen“, Hamburg 1983, S. 41.

8 Immanuel Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik die als Wissenschaft wird auftreten können (1783), Werkausgabe Band V, Frankfurt am Main 1988, S. 137.

9 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik I. (1812), Werke 5, Frankfurt am Main 1986, S. 85-86.

10 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807), Werke 3, Frankfurt am Main 1986, S. 64.

11 Ebenda, S. 241.

12 Ebenda, S. 242.

13 Karl Marx, Die moralisierende Kritik und die kritisierende Moral (1847), MEW, Bd. 4, S. 331.

14 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik (1966), Frankfurt am Main, 7. Aufl. 1992, S. 295.

15 Vgl. ausführlich: Franz Schandl, Vom Weiden in den Eingeweiden. Ausgewähltes zur Phänomenologie des Netzes, Streifzüge, Nummer 83, Herbst 2021, S. 3-9.

16 Timo Daum, Das Kapital sind wir. Zur Kritik der digitalen Ökonomie, Hamburg 2017, S. 122.

17 Ebenda.

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