Ivan Illich – „Jüdischer Wanderer und christlicher Pilger“

von Maria Wölflingseder

Aus dem Buch „Ivan Illich – Sein Leben, sein Denken“ von Martina Kaller-Dietrich, Professorin für Geschichte an der Universität Wien, lernen wir auch seine bis dahin wenig bekannte Kindheit und Jugend kennen. 1926 in Wien geboren, wuchs er die ersten sechs Jahre im dalmatinischen Split und auf der Insel Brač auf. Dort besaß die Großfamilie seines Vaters, ein katholischer Zivilingenieur, ein Anwesen und Ländereien. Über viele Generationen hatten die Ilićs gute Kontakte zum italienischen Großadel und zum Vatikan. Seine Mutter mit jüdischen Wurzeln, geborene Regenstreif, wurde protestantisch getauft und trat im Zuge der Eheschließung zum Katholizismus über. Wie stark ihn diese mediterrane Welt geprägt hat, erzählte Illich später gerne. Aber 1932 verließ die Mutter mit Ivan und seinen beiden jüngeren Zwillingsbrüdern aufgrund der beginnenden Judenvertreibungen im Königreich Jugoslawien und der Trennung von ihrem Mann Dalmatien und zog nach Wien in die Villa ihrer Eltern. Es wurde, bis auf kurze Besuche, ein Abschied für immer. Kroatisch war die Vatersprache, Deutsch die Muttersprache des höchst Sprachbegabten, der sich mühelos in zahlreichen jezici (kroatisch für Sprachen und Zungen) schriftlich und mündlich verständigen konnte. Illich hat, wie er betonte, nie mehr einen Platz gefunden, den er als sein Zuhause bezeichnet hätte. Wien sei ihm schon „als Bub wie ein nördliches Exil erschienen, weil seine dalmatinischen Sinne am weißen Karst, an den Oliven und an der Adria der frühen Kindheit hingen“. Ein „jüdischer Wanderer und christlicher Pilger“ wurde aus ihm.

Denunzierung am Piaristengymnasium

1942 musste die Familie schließlich auch aus Wien fliehen. 1938 – Illich besuchte das Piaristengymnasium im achten Bezirk (dieses liegt nur wenige Schritte von unserem Redaktionstreffpunkt entfernt) – muss er, 11-jährig, vor die Klasse treten, um seine Nase im Profil zu zeigen, die laut Deutschprofessor seine „dynamisch jüdische Belastung“ verrate. Die Matura legte Illich in Florenz ab, wo er auch Anorganische Chemie und Kristallographie an der Universität studierte. Von 1945 bis 1950 besuchte er das vatikanische Collegium Capranicum, an dem er seine Priesterausbildung erhielt. Mit summa cum laude schloss er die Fächer Geschichte, Philosophie und Theologie an der päpstlichen Lehranstalt, der Gregoriana, ab. 1951 promovierte Illich an der Theologischen Fakultät in Salzburg.

David Cayley schreibt in „In den Flüssen nördlich der Zukunft“, Illich wäre für eine Karriere als Kirchenführer prädestiniert gewesen. Er stammte aus einer aristokratischen Familie mit alten Verbindungen zur römischen Kirche, er war charismatisch, intellektuell brillant und fromm. Unter denen, die ihn gerne weiterhin in Rom gesehen hätten, waren der Philosoph Jacques Maritain und Giovanni Montini, der spätere Papst Paul VI, beide Vertreter progressiver kirchlicher Kräfte. Aber Illich mochte die päpstliche Bürokratie nicht. – 1951 wanderte er mit seinen Geschwistern und seiner Mutter nach New York aus. Sein Vater ist 1942 eines natürlichen Todes gestorben. Vom großväterlichen Heim in Wien war kaum etwas geblieben. Die Villa Regenstreif in Pötzleinsdorf wurde völlig zerstört restituiert.

In New York erfuhr Illich von einem Freund seines Großvaters über die sozialen Spannungen zwischen den puertoricanischen Einwanderern – quasi Fremde im eigenen Land, die oft nur kurz von der nahe gelegenen Karibikinsel zum Geldverdienen kamen, und den „alteingesessenen“ europäischen Zuwanderern, etwa den Iren. Nach einigen Tagen unter den Puertoricanern meldete er sich beim Kardinal. So begann er 25-jährig seine Tätigkeit als Seelsorger in einer New Yorker Pfarre. Die jährlich stattfindende „Puerto Rican Day Parade“ in New York geht ursprünglich auf eine Initiative Illichs zurück. Zur ersten „Fiesta Patronal“ trafen sich 1956 35.000 Puertorikaner.

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