Erwin Chargaff. Wo bleibt der heilige Zorn?

Vor 20 Jahren starb der Biochemiker und Wissenschaftskritiker. Höchste Zeit, an ihn und seine Einsichten zu erinnern.

von Maria Wölflingseder

Warum wird Wissenschaftskritik zunehmend als Wissenschaftsfeindlichkeit bezeichnet und warum werden abweichende Meinungen immer öfter dämonisiert? Mit dem geradezu inflationär gewordenen Vorwurf, ja mit der Punzierung „Fake“, „Falschmeldung“, „Verschwörungstheorie“ ist ein völlig neuer Ton im öffentlichen Diskurs angeschlagen worden.

Soll damit jede Diskussion im Keim erstickt werden? Da drängt sich die Frage auf, wer wird denn aller zu jenen gezählt, die der Wissenschaftsfeindlichkeit beschuldigt werden. Auch jene in den 1970er und 1980er Jahren noch viel beachteten, heute weitgehend totgeschwiegenen Wissenschafts- und Gesellschaftskritiker wie Günther Anders, Bertrand Russell, Robert Jungk oder Ivan Illich?

Ein weiterer fundierter Kritiker eines blinden Fortschrittsglaubens und seiner fatalen Auswirkungen war der 1905 in Czernowitz geborene und ab 1914 in Wien aufgewachsene Biochemiker Erwin Chargaff. Nach seiner Emeritierung als Professor an der Columbia Universität in New York verfasste er zwischen 1975 und 1995 zahlreiche Essays in präziser, eleganter Sprache – geprägt durch Karl Kraus, dessen beeindruckende theatralen Vorlesungen er als Schüler und Student regelmäßig besuchte.

Luzide Reflexionen

Die Lektüre von Chargaffs Büchern bietet einen selten gewordenen intellektuellen Genuss. Seine scharfsinnigen und luziden Reflexionen über Wissenschaft und Technik, über Massenmedien und Kunst, über Sprache und Sprachen, über Ethik und Ästhetik, über Autobiografisches und Universelles haben auch 20 Jahre nach seinem Tod nichts von ihrer Brisanz eingebüßt.

Zu Chargaffs wichtigster Kritik gehört die Frage, welche Entwicklungen wir überhaupt wollen: „Unter den zahllosen Mehrern und Hütern des Wissens ist kein einziger, der stehenbliebe und fragte, wohin die Reise geht.“ Muss alles gemacht werden, was gemacht werden kann? Und muss alles, was gemacht worden ist, auch verwendet werden? „Der Fluch der Machbarkeit und der Fluch der Verwendbarkeit haben sich beide als pseudoreligiöse Dogmen konstituiert. Nichts hat unsere Welt so vergiftet – auch im wörtlichen Sinn – wie diese Unheilbotschaften.“

Chargaff bezeichnet das 20. Jahrhundert als eines der abscheulichsten der Weltgeschichte. Seit dem Ersten Weltkrieg mit seinen Giftgasangriffen und noch viel deutlicher seit dem Zweiten mit der Atombombe ist ein „Zeitalter mit mörderischer Wissenschaft“ angebrochen, in dem es die „eigentliche Aufgabe der Naturwissenschaft sei, die entscheidenden Waffen zur Menschenvernichtung bereitzustellen“. Heute sind die weltweiten Rüstungsausgaben – nach einem Rückgang im Zuge der Beendigung des Kalten Kriegs – auf Rekordniveau: Von einer Billion Dollar im Jahr 2000 stiegen sie auf 2,1 Billionen 2021.

Für Chargaff ist das Wort Waffe oder Bombe viel zu harmlos. Eine Atombombe „sei das tragbare Jüngste Gericht – allerdings nicht brauchbar als Fresko in der Sixtinischen Kapelle“. Sie sei „die wirksamste Kritik der Zukunft, denn wenn jene einmal ihre schönfärbigen, sanften Wolken entfaltet, wird es diese überhaupt nicht geben“. Wo sind heute rigorose Kritiker von AKWs und Atomwaffen? Wo ist eine Friedensbewegung? Wo ist jemand, der den gigantischen digitalen Ausbau der Militarisierung des Weltraums hinterfragt?

Auch sein eigenes Fach, die Biochemie beziehungsweise die Genforschung, beurteilt Chargaff höchst kritisch. Er vergleicht das Hantieren am Zellkern mit jenem am Atomkern. 1928, nach seinem Studium der Chemie an der Universität Wien, erhielt er ein zweijähriges Forschungsstipendium in Yale, im US-Bundesstaat Connecticut. Seine Habilitation verfasste er am Hygieneinstitut der Universität Berlin. 1933, nach dem Reichstagsbrand, wurde ihm eine Stelle am Pasteur-Institut in Paris angeboten. 1934 ging er wieder in die USA und lebte dort bis zu seinem Tod am 20. Juni 2002. Ab 1935 forschte Chargaff an der Columbia Universität in New York. Als Jude hätte er nicht in Europa bleiben können. Sein Vater war bereits gestorben. Seiner Mutter wurde trotz der Erfüllung aller notwendigen Formalitäten die Ausreise in die USA verweigert. 1942 wurde sie nach Polen verschleppt und ermordet.

Erkenntnisse über DNA

Ende der 1940er Jahre gewinnt Chargaff bahnbrechende Erkenntnisse über die Beschaffenheit der DNA. Die „Chargaff-Regeln“ sind die Grundlagen für Francis Watson und James Crick, die für die Entdeckung der Doppelhelix-förmigen Anordnung des Erbguts den Nobelpreis erhielten. Viele hingegen erachten Chargaffs Beiträge – die nicht einmal Erwähnung fanden – für ebenso nobelpreiswürdig. Als Gentechniker beginnen, die DNA neu zu rekombinieren, steigt Chargaff aus seinem Forschungszweig aus und warnt vor der zunehmenden „genetischen Bastelsucht“. Seine dringendste Warnung gilt einer „Schrecken erregenden Unwiderruflichkeit“. Also jeglicher Unumkehrbarkeit von potentiell schädigenden technischen Entwicklungen.


Die Atomkriegsgefahr ist heute nicht geringer geworden. Und zu den 430 AKWs sollen bald noch 83 hinzukommen. Mit Nachdruck verweist Chargaff auf die oftmals bedenkliche Rolle der Wissenschaften. Die enge Zusammenarbeit von Wissenschaft und Technik erfolge fast immer unter dem Vorwand, die erwarteten Ergebnisse würden dem Wohl der Menschheit dienen. Heute trifft diese Beteuerung besonders auf die Forcierung zahlreicher digitaler Anwendungen zu. Viele warnen jedoch: „Die Digitalisierung entfaltet ihre disruptive Kraft mit großer Geschwindigkeit und globaler Reichweite, während ihre Regulierung größtenteils nacheilend erfolgt.“ So der deutsche Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU). Die Regierung schenkt den umfangreichen Gutachten aber kaum Aufmerksamkeit.

Lauter Zauberlehrlinge

Chargaff lehnt Wissenschaft weder ab noch stellt er die Notwendigkeit und Bedeutung von technischen Errungenschaften in Abrede. Er kritisiert vielmehr den systemimmanenten Zwang zur monetären Verwertbarkeit, der dazu angetan ist, eine menschliche Hybris zu entwickeln, die einem suizidalen Technik-Fetischismus frönt. Bereits vor Jahrzehnten sah Chargaff lauter Zauberlehrlinge am Werk, deren Meister längst geflohen waren.

Diese Zauberlehrlinge haben sich in den letzten 30 Jahren rasant vermehrt. Heute basteln sie mit Hochdruck an künstlicher Intelligenz, schnipseln mit der Genschere; selbst an einer Rezeptur für Unsterblichkeit wird seit zehn Jahren in den brodelnden Küchen im einschlägigen Tal getüftelt.

Der Tod soll besiegt werden, aber was ist mit dem Leben? Warum hungern laut UNICEF 690 Millionen Menschen? Warum stirbt alle zehn Sekunden ein Kind an Hunger. Und selbst in reichen Ländern wie Österreich und Deutschland können sich viele das Lebensnotwendige nicht mehr leisten. All diese menschenverachtenden Verhältnisse haben mit mangelnder Technik indes wenig zu tun. Dennoch ist sie stets der Hauptfokus jeglicher Heilserwartung, die mittlerweile nie dagewesene religiöse Züge angenommen hat.

Wenn, wie stets beteuert, die Ergebnisse von Wissenschaft und Technik ausschließlich dem Wohl der Menschheit dienen würden, bräuchte es sicher keine 97 Millionen Euro pro Jahr, die es sich Big Tech, der mit Abstand größte Lobbying-Sektor in der EU, in Europa kosten lässt, die Politik zu dirigieren.

Chargaff macht sich viele Gedanken über die „Wissensindustrie“. Warum hat sich das „Gelehrtentum“ zunehmend in ein „Spezialistentum“ gewandelt? Natürlich sind Spezialisierungen notwendig, sie sollten aber auf einem breitgefächerten Bildungsfundament aufbauen. Ein solches wurde Chargaff am Gymnasium in der Wasagasse im neunten Wiener Bezirk zuteil. Zahlreiche später berühmt gewordene Söhne aus jüdischen Familien drückten hier die Schulbank. Es gab nicht viele Fächer, aber Chargaff schätzte den Unterricht, der von sehr hoher Qualität war.

Chargaff, stets ein Kritiker der Kommerzialisierung von Wissen, betont: „Spezialwissen ist nämlich überhaupt kein Wissen, sondern eine Lizenz zum Geldverdienen.“ Publizieren in den einschlägigen Fachmagazinen sei das oberste Gebot – in einer Sprache, die bestimmte Codes verwendet, für Laien oder fachfremde Spezialisten meist unverständlich. „Die Fachsprachen sind nämlich keine Sprachen, sondern Gaunerzinken mit Doktortitel, nur für Mitgehangene verständlich. Sie sind auch der beste Denkersatz.“ Chargaff plädiert für ein engagiertes Laientum: „Wirklich lebendig kann die Erbschaft der Jahrtausende nur in einem Laien sein; den Fachmann interessiert das Kleingedruckte.“

Eine Veränderung unseres Daseins, die Chargaff bereits vor Jahrzehnten verdeutlichte, hat heute mit der Digitalisierung aller Lebensbereiche eine weitere Dimension angenommen. „Es ist unwahrscheinlich, dass es je eine Epoche gegeben hat, die so abgeschnitten war von der Wirklichkeit wie unsere Gegenwart.“ Das Lachen ist verschwunden. Genauso die Heiterkeit, jene „aus Festigkeit und Seelenruhe erwachsende Gemütsverfassung“. Und der „unaufhaltsame Entmenschungsprozess“, den Chargaff vor langem erkannte, bekommt heute mit dem angestrebten Transhumanismus eine ganz neue Bedeutung.

Chargaff fragt, warum es keinen „Fortschritt in Dingen des Geistes“ gäbe. Warum hat „die Verdinglichung des Geistes aus seinen Erzeugnissen Spielmarken gemacht in einem grimmigen Spiel um Geld, Macht und Ruhm?“.

Fundierte Kritik wird gern als Kulturpessimismus abgetan und neuerdings als Wissenschaftsfeindlichkeit diffamiert. Wo bleibt der heilige Zorn der alten Propheten, den Chargaff so schmerzlich vermisste? Dieser dauerte bis ins vorletzte Jahrhundert an, dann aber hat eine „Art von epidemischer Aphasie die Menschen mundtot, und daher gefühls- und denktot gemacht“. Offenbar sei jegliche „Kraft zum Widerspruch“ ausgestorben. Heute leben wir in Zeiten drohender Totalüberwachung und Steuerung jedes Individuums, in Zeiten, in denen eine Wende menschheitsgeschichtlichen Ausmaßes nicht mehr weit ist – der Übergang vom Industriezeitalter in ein neues, kybernetisches Zeitalter, im Sinne einer Mensch-Maschine-Verbindung. Wäre da nicht die Frage, welche Entwicklungen wollen wir überhaupt, dringend von Nöten? Erwin Chargaffs Essays und Aphorismen bieten beim Finden von Antworten großartige Inspiration.


Eine Auswahl an Büchern von Erwin Chargaff (im Verlag Klett-Cotta erschienen):

„Kritik der Zukunft“, 1983

„Ein zweites Leben“, 1995

„Das Feuer des Heraklit. Skizzen aus einem Leben vor der Natur“, 1988, vergriffen,
(auch bei dtv erschienen)

„Über das Lebendige – Ausgewählte Essays“, 1993

„Brevier der Ahnungen – Eine Auswahl aus dem Werk“, 2002

aus: Die Wiener Zeitung – EXTRA vom 12. Juni 2022

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