von Simon Sutterlütti und Stefan Meretz
Der folgende Text ist ein Auszug aus dem Buch „Kapitalismus aufheben. Eine Einladung, über Utopie und Transformation neu nachzudenken“, erschienen im VSA-Verlag. Das Buch ist online frei erhältlich unter commonism.us. Sutterlütti und Meretz fassen Utopie in ihrem Buch als Raum menschlich-gesellschaftlicher Möglichkeiten, der historisch noch nicht ausgeschöpft wurde. Im folgenden Auszug begründen sie, warum und wie Utopie jenseits von „Bilderverbot“ und „Auspinselei“ wissenschaftlich entwickelt werden kann. |
Der Begriff Utopie wird von einer Reihe von Metaphern umkreist: gute Gesellschaft, Fantasie, Hoffnung, Freiheit, unerreichbare Perfektion. Das Wort selbst ist eine Schöpfung des Utopisten Thomas Morus (1516). Es verbindet den „Ort“ (griech. topos) mit der Vorsilbe „nicht“ (griech. ou) zum „Nicht-Ort“. Wird Utopie positiv verstanden, dann funktioniert auch die Vorsilbe „gut“ (griech. eu) als „Eutopie“, negativ wird sie dagegen zur „Dystopie“.
Von vielen Gesellschaftskritiker*innen wurde die Utopie als leere, hilflose Zukunftsmusik verabschiedet. So stellten Karl Marx und Friedrich Engels den „utopischen Sozialisten“ den „wissenschaftlichen Sozialismus“ entgegen und beanspruchten, den Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft zu entwickeln (Engels 1891). In diesem Kapitel wollen wir zum einen die permanent implizite und unausgewiesene Präsenz von Utopien zeigen, zum anderen ihre Notwendigkeit für eine Transformationstheorie begründen. Unser Ziel ist es, den Gegensatz zwischen „negativem“ Bilderverbot auf der einen und „positiven“ beliebigen Wunschträumen und klassisch sozialistischen Bildern auf der anderen Seite mit dem Begriff einer kategorialen Utopie zu überschreiten. Eine kategoriale Utopie lotet auf einer begrifflichen Ebene das Menschenmögliche aus. Sie ist eine Möglichkeitsutopie.
Utopie jenseits von Verbot und Wunschtraum
Heutzutage meint die Aussage „Das ist doch utopisch“ in etwa das Gleiche wie „Das ist doch unmöglich“. Dieser Alltagsgebrauch des Utopiebegriffs verweist auf ein inhaltliches Problem. Utopien sind oft willkürlich. Sie behaupten, dass eine harmonische, freie und glückliche Welt möglich ist, und zur Verdeutlichung und Plausibilisierung illustrieren sie diese Welt. Diese attraktiven Bilder der Zukunft dienen dann oft der Mobilisation und Motivation. Doch als bloße Behauptungen sind Utopien unglaubwürdig, unbegründet und willkürlich. Sie bestimmen keine Möglichkeit, sondern beschreiben einen Traum, ein Nicht-Mögliches-Erträumtes. Oft basieren diese romantischen Wunschutopien auf ethischen Forderungen und beschreiben, was sein soll. Ethisch fundierte Sollensvorstellungen sind jedoch beliebig. Der romantische Utopismus landet im Reich der Wunschphantasien, da er grenzenlos denken darf.
Dieser utopistische „Überschuss“, der über derzeitige Verhältnisse hinausgeht, ist wichtig. Wir treffen ihn immer wieder in der Kunst, selbst in Hollywood-Blockbustern, die von einer Welt ohne Krieg oder von einer Welt der Liebe träumen. Er ist ein Ausdruck davon, dass das, was ist, nicht genug ist. „Etwas fehlt“, so Bertolt Brecht in der Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“. Doch dies sind erträumte Utopien, keine Möglichkeitsutopien. Sie verweisen auf das Bedürfnis nach etwas Anderem, begründen aber nicht, warum das Andere möglich sein soll.
Mit dem Scheitern der sozialistischen Anläufe scheint die Utopie für das emanzipatorische Denken verloren zu sein. Nach der historischen Niederlage des Realsozialismus ist Perspektivlosigkeit Normalzustand. Diese Perspektivlosigkeit wird durch jenen Teil emanzipatorischer Theorien befördert, welcher Utopien grundsätzlich ablehnt und ein „Bilderverbot“* ausspricht. Ihre Vertreter*innen argumentieren (etwa Behrens 2009), dass jede Vorstellung („Bilder“) einer befreiten Gesellschaft durch unsere heutigen Erfahrungen und Erkenntnisse und somit heutiger herrschaftlicher Zustände bestimmt sei. So sei es unmöglich, die heutige Herrschaft nicht in die Utopie zu verlängern. Eine freie Gesellschaft sei daher heutzutage nicht denkbar. Sie könne nur als das „ganz Andere“ gedacht werden, über das sich heute nichts aussagen lasse. Abstrakte und damit inhaltsleere Anrufungen wie „Für den Kommunismus“ (Parole auf einem Demonstrationstransparent) drücken das aus. Die Utopie wird zum unbestimmbaren paradiesischen Jenseits.
Wir stimmen dieser Kritik zu, jedoch kann die Antwort darauf nicht sein, sich von der Utopie abzuwenden, sondern ein Denken über Utopie vorzubereiten, dass seine Grundlagen benennt und reflektiert. Ja, wir können die freie Gesellschaft heute nicht vorwegnehmen, wir können uns nicht ausmalen, wie es sich anfühlen wird, in ihr zu leben. Doch so ähnlich verhält es sich mit der Wahrheit. Keine Wissenschaft kann die Wahrheit im absoluten Sinne bestimmen, und doch können wir versuchen, uns ihr anzunähern. Genauso bedarf es auch einer wissenschaftlichen Reflexion zum Thema Utopie.
Doch wie kann der Raum des noch nicht Existierenden, aber Möglichen aufgeschlossen werden? Utopie wird gesetzt und begrenzt durch das, was uns Menschen an gesellschaftlicher Entwicklung möglich ist. Anders ausgedrückt: Der utopische Raum wird bestimmt und beschränkt durch die menschlich-gesellschaftliche Potenz. Genau diese Potenz gilt es zu ergründen. Die Utopie als Möglichkeitsutopie überschreitet sowohl die Weigerung des Bilderverbots als auch die Willkür der Wunschutopie.
Fortdauern der alten sozialistischen Bilder
Da sich die moderne Utopiediskussion mit dem Bilderverbot gleichsam in ein Denkverbot manövriert hat, leben im utopischen Raum weiter traditionell-marxistische Vorstellungen fort. Egal wie die realsozialistischen Länder beurteilt werden, es gab sie zumindest, und damit können wir uns an ihnen orientieren, kritisch absetzen und in jedem Fall gedanklich abarbeiten. Tatsächlich verlor der Sozialismus zunehmend den Status einer echten Utopie, da er mit dem Etappenmodell nur eine Durchgangsgesellschaft zur freien Gesellschaft, zum Kommunismus, war. Die kommunistische Zielutopie blieb hingegen weitgehend unbestimmt. Es finden sich zwar allgemeine Hinweise – Arbeit als Selbstzweck, Vergesellschaftung des Eigentums, Staatsfreiheit etc. – aber genau besehen handelt es sich um einfache Negationen: Arbeit ist nicht einem fremden Zweck unterworfen, Eigentum ist nicht privat, Staat ist nicht allgegenwärtig etc. Diese Probleme der Utopie wurden auch mit dem Niedergang des Realsozialismus nie hinreichend aufgearbeitet. So konnten vielfach Bilder eines „verbesserten“ Realsozialismus selbst zum utopischen Ziel mutieren (wie in vielen reformistischen Ansätzen, etwa mit mehr Demokratie). Eine solche „Utopie“ mit Eigentum, Arbeitsprinzip und Staat verbleibt jedoch gedanklich bei einer Gesellschaft, die ihre Vergesellschaftung über die Arbeit(szeit) herstellt, wie der Kapitalismus.
Möglichkeitsutopie
Alle Menschen, die sich in irgendeiner Form über eine bessere Zukunft Gedanken machen, haben utopische Vorstellungen. Allein der Grad der Explikation und der Fundierung unterscheidet sich. Genau darum geht es in der kategorialen Utopie: Explikation und Fundierung. Sie zeigt den Raum möglicher menschlich-gesellschaftlicher Entwicklungen auf, sie ist eine Utopie menschlich-gesellschaftlicher Möglichkeiten. Ihr Ziel ist, die Frage zukünftiger möglicher gesellschaftlicher Entwicklungen diskutierbar zu machen. Die kategoriale Utopie, wie wir sie in Kapitel 6 inhaltlich entwickeln, wollen wir nicht als eine „Wahrheit“ missverstanden sehen, sondern als eine Einladung, sie zu kritisieren, weiterzuentwickeln oder alternative kategoriale Bestimmungen zu entwickeln. Durch Kritik, Weiterentwicklung und Auseinandersetzung kann Utopie zur Wissenschaft werden. Eine kategoriale Möglichkeitsutopie hat zwei Voraussetzungen: eine Kritik des Bestehenden und eine Bestimmung des Möglichen.
Kategoriale Kritik des Kapitalismus
Wir halten den Einwand, dass unsere Erfahrungen mit der kapitalistischen Wirklichkeit unser Denken, Fühlen und Handeln formieren und es daher keine Möglichkeit der Überschreitung gibt, für gewichtig. Unser Gegenargument basiert vor allem auf der Überlegung, dass die kapitalistische Formierung nicht geschlossen ist, sondern ebenso wie Einbindung und Unterordnung auch die Überschreitung enthält. Unser Denken, Fühlen und Handeln ist zwar kapitalistisch geformt, aber darin eingeschlossen befinden sich auch jene Momente der allgemeinen menschlichen Potenz, die der Kapitalismus nur in einer unzureichenden oder verfremdeten Form entfaltet. Sie gilt es freizulegen.
Wir haben uns in diese Gesellschaft hineinentwickelt und ihre Funktionsweise mehr oder weniger erfolgreich gelernt. Wir erzeugen jeden Tag die gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen wir leben. Wir sind der Kapitalismus. Gleichwohl sind wir nicht mit allem zufrieden, sehen die kapitalistisch erzeugten Verwerfungen und kritisieren sie. Diese Kritik ist jedoch, genauso wie unser alltägliches Funktionieren, vorerst auf den gegebenen Rahmen bezogen. Unsere Kritik ist zunächst immanent. Sie verläuft im Rahmen der kapitalistischen Kategorien, bezieht sich auf sie und bestätigt sie dadurch. Eine solche immanente Kritik akzeptiert beispielsweise die tauschförmige Geldvermittlung, verlangt aber eine fairere Verteilung des Geldes. Diese immanente Kritik ist wichtig, denn sie ist der Anfang der individuellen Abstoßung von dem, was falsch läuft, und der Suche nach Alternativen.
Es ist jedoch ein Unterschied, das Falschlaufen im bestehenden Rahmen zu kritisieren oder den Rahmen selbst in die Kritik zu nehmen. Es ist der Unterschied zwischen immanenter und kategorialer Kritik. Die immanente Kritik wendet sich gegen einzelne Fehler, die kategoriale Kritik gegen den systemischen Zusammenhang, der die Fehler hervorbringt. Immanente Kritik kritisiert einzelne Symptome, kategoriale den systemischen Ursachenzusammenhang. Der systemische Zusammenhang kann nur kategorial begriffen werden. Auch eine noch so genaue Beschreibung und Kritik der Verwerfungen des Kapitalismus – und davon gibt es unermesslich viele – bietet keinen Aufschluss über die Funktionsweise des Kapitalismus als System. Kategoriale Kritik hat den Anspruch, zu begreifen, was den Kapitalismus im Inneren hervorbringt und zusammenhält. Sie begreift Kapitalismus als sich selbst erzeugendes und erhaltendes System, als Ganzes. Die Kritik richtet sich auf das Ganze und damit auch auf die Denk-, Fühl- und Handlungsformen, die es uns ermöglichen, unter den gegebenen Bedingungen zu handeln, um unsere Existenz zu sichern. Kategoriale Kritik schließt somit die Kritiker*innen ein, sie ist immer auch Selbstkritik. Es gibt keinen Standpunkt außerhalb. Die Grundzüge dessen, was wir als kategoriale Kritik des Kapitalismus fassen würden, haben wir zu Beginn des Buches dargestellt. Sie ist ein vorausgesetzter gesellschaftstheoretischer Baustein für die kategoriale Utopie. Dem Anspruch nach wissen wir damit, was aufgehoben werden muss, aber noch nicht, wie es aufgehoben werden kann.
Menschlich-gesellschaftliche Möglichkeiten
Jede Utopie kann nur realisieren, was der Möglichkeit nach existiert. Daher brauchen wir allgemeine Bestimmungen, Kategorien, was im Raum menschenmöglicher Entwicklung liegt. Das leistet die allgemeine Individualtheorie und die allgemeine Gesellschaftstheorie. Diese Theorien bestimmen nicht historisch-spezifische Ausprägungen konkreter Menschen in einer konkreten Gesellschaft, sondern was Menschen und Gesellschaften in der Geschichte allgemein, also immer sind. Sie bestimmen nicht die kapitalistische oder feudale Gesellschaft, sondern was Gesellschaften insgesamt ausmacht – und somit auch, was die Utopie mit der Wirklichkeit verbindet.
Hierbei kommen schnell Unsicherheit und Widerstand auf. Dieses Unwohlsein ist begründet. Denn zu häufig lief und läuft das Sprechen über „den“ Menschen auf seine Reduktion, Einschränkung, Festnagelung hinaus. Zu oft werden die Menschen als „Triebwesen“, „biotische Egoist*innen“ oder „natürlich gut“ festgezurrt. Wir müssen hier sehr vorsichtig sein. Die Antwort emanzipatorischer Theorie auf die Frage nach dem allgemeinen Menschlichen kann jedoch nicht Schweigen sein. Dadurch werden wir unfähig, über die Zukunft nachzudenken, und auch unsere Bestimmung der Gegenwart bleibt begrenzt.
Wir können diese Überlegung noch zuspitzen: Kritik braucht nicht nur eine Gesellschafts-, sondern auch eine Individualtheorie, um das Leiden von uns Menschen zu begreifen. Eine Kritik könnte bei der Feststellung stehen bleiben, dass sich viele Menschen im Kapitalismus nicht wohl fühlen. Doch sobald sie diese Feststellung überschreiten und genauer bestimmen will, worunter wir Menschen leiden – ob nun Stress, Vereinzelung, Angst etc. –, trifft sie damit implizit individualtheoretische Aussagen. Im Umkehrschluss stellt sie dabei fest, was Menschen bräuchten, um besser leben zu können. Sobald dieses bessere Leben eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse verlangt, wird die individuelle Kritik zum gesellschaftlich allgemeinen Anspruch. Wenn wir z.B. feststellen, dass Menschen im Kapitalismus die Angst, von anderen Menschen auskonkurriert oder übervorteilt zu werden, als existenziell bedrohlich erleben, nehmen wir implizit Bedürfnisse nach einem Leben frei von Existenzangst an. Oder wenn das egoistische Menschenbild der neoklassischen Wirtschaftswissenschaften kritisiert wird, wird damit implizit bestätigt, dass Menschen nicht immer egoistisch handeln. Doch bei den Beispielen handelt es sich nur um implizite Erkenntnisse. Solange sie nicht als Individualtheorie expliziert und somit begründet werden, besteht die Gefahr, dass die aufgedeckten Problematiken unerkannt stets nur dem Individuum als persönliches Defizit zugeschrieben werden.
Wir schlagen daher vor, sowohl die Individual- als auch die Gesellschaftstheorie zu explizieren. In diesem Prozess müssen wir sie begründen, sodass ihre Annahmen prüfbar und diskutierbar werden. Damit können wir sie auch weiterentwickeln und präzisieren und dabei unsere kategorialen Utopien verbessern. Verständlicherweise ist nicht jede Individual- oder Gesellschaftstheorie dafür geeignet, und Explikation alleine reicht nicht aus. Viele Individualtheorien begreifen Menschen als vom gesellschaftlichen Zusammenhang getrennte Wesen. Das Individuum ist das Vertraute („hier drinnen“), die Gesellschaft das Fremde („da draußen“). Befasst sich eine Individualtheorie mit einem bloß in sich eingeschlossenen Individuum, für das die Gesellschaft bestenfalls ein äußerer „Faktor“, eine weitere „Variable“ ist, dann verdoppelt sie nur, was im Kapitalismus als gesellschaftliche Entfremdung erlebt wird. Damit kann sie aber nicht begreifen, wie ein Zusammenhang hergestellt werden könnte, in dem sich Menschen nicht als fremd gegenüber der Gesellschaft empfinden. Wir versuchen es an einem Beispiel zu erläutern.
In manchen Ansätzen beispielsweise aus dem Umfeld solidarischer Ökonomie, Degrowth und alternativen Lebensformen wird die Entfremdung von der Gesellschaft erkannt. Allerdings wird diese Entfremdung als bloß interpersonale Erscheinung erfasst: Wir fühlten uns mit anderen Menschen nicht verbunden, und ohne Verbundenheit könnten wir keine gesellschaftliche Veränderung erreichen. Also müssten wir uns zunächst mit anderen verbinden. – Diese Überlegung ist nicht falsch, nur greift sie zu kurz. Sie übersieht, dass wir bereits mit allen Menschen verbunden sind – und zwar transpersonal. Wir sind also nicht zuerst unverbundene Einzelne, die „nach draußen“ gehen müssen, um sich zu verbinden – die Verbindung ist schon da. Wir erleben sie nur nicht. Wir müssen Verbundenheit nicht erst interpersonal herstellen, sondern uns fragen, warum die bestehende transpersonale Verbundenheit als Trennung, Fremdheit oder Anonymität erfahren wird. Eine bloß interpersonale Kritik an Entfremdung richtet sich nicht gegen die kapitalistische Form der Verbindung, die sich nur als Trennung zeigen kann, sondern versucht eben diese erlebte Trennung interpersonal zu reparieren. Damit scheinen aber Fremdheit oder Anonymität Gesellschaften generell immanent zu sein. Und die kapitalistische Verbindung der Vereinzelten über Märkte, Verträge, Geld und Gewalt scheint dann die gleichsam „natürliche“ Weise zu sein, gesellschaftliche „Verbundenheit“ herzustellen.
Wie ist aber die paradoxe Erfahrung, die Verbundenheit als Trennung erlebt, zu erklären? Die Ursache dafür ist in der kapitalistischen Exklusionslogik zu finden. Danach erzeugt jede Verbindung gleichzeitig den Ausschluss von anderen. Es handelt sich um eine exkludierende Verbundenheit – interpersonal und transpersonal –, die struktureller Art ist. Wenn wir erkennen, dass die Entfremdung strukturelle Ursachen hat, dann ist die nächste Frage, wie wir Bedingungen herstellen können, unter denen sich Formen struktureller Verbundenheit ausbilden, die wir auch als solche erleben. Um die Frage beantworten zu können, ob diese Möglichkeit überhaupt realisierbar ist, benötigen wir sowohl eine angemessene Individual- wie Gesellschaftstheorie. Unsere Sicht auf den Raum des Menschenmöglichen entwickeln wir in Kapitel 5. Sie erlauben uns eine Annäherung an die Beantwortung der Frage: Was können wir können – individuell und gesellschaftlich? Anders gefragt: Welche individuell-gesellschaftlichen Potenzen besitzen wir?
Utopie als Wissenschaft
Mit der kategorialen Utopie wollen wir eine neue Form des Nachdenkens über Utopie eröffnen. Kritik ist eine Möglichkeit, kategoriale Utopien weiterzuentwickeln. Diese Kritik sollte jedoch keine abstrakt-negierende sein, keine bloße Abwehr** der Art: „Das geht doch nicht“. Sondern sie sollte eine konkrete, bezugnehmende Kritik sein, die sagt, was geht. Diese Kritik kann unserer Meinung nach auf drei Weisen erfolgen: Erstens kann sie die zugrunde liegende theoretische Basis – die Individual- und Gesellschaftstheorie – kritisieren. Zweitens kann sie das Verhältnis zwischen dieser theoretischen Basis und der inhaltlich ausgeführten Utopie hinterfragen. Passen beide überhaupt zusammen? Ist die Utopie überhaupt durch die Individual- und Gesellschaftstheorie gedeckt? Drittens kann eine Kritik die begriffliche Entfaltung innerhalb der kategorialen Utopie aufs Korn nehmen. Werden hier implizit oder explizit zusätzliche Annahmen eingefügt?
Beschreibung und kategoriale Bestimmung
Die meisten existierenden Utopien sind Beschreibungen eines hoffnungsvollen Zustands. Sie beschreiben, wie die Menschen in dieser zukünftigen Gesellschaft wohnen, wie sie ihre Kinder aufziehen, wie sie arbeiten, sich fortbewegen etc. Sie beschreiben das alltägliche Leben der Menschen relativ genau, um es verständlich zu machen, um es zu plausibilisieren, um zu zeigen, dass es funktioniert. Dabei können die Utopien verschiedene Qualitäten besitzen.
Die Ansätze des Frühsozialisten Charles Fourier mögen uns etwas seltsam erscheinen, wenn er erklärt, wie viele Personen die kleinste Gruppe umfasst und wie sich diese organisieren sollen (vgl. Fourier 1829, 146 ff.). Ebenso kann die Erziehungsutopie des Frühsozialisten Robert Owen nur auf Stirnrunzeln treffen, der hoffte, Menschen zu ihrem Glück erziehen zu können (vgl. Owen 1827, 105). Dagegen scheint eine Beschreibung der anarchistischen Utopie in Ursula K. Le Guins Roman „The Dispossessed“ (1974) vielversprechender zu sein, auch wenn die dort vertretene Kapitalismuskritik auf eine personalisierte Kritik an Ungleichheit hinausläuft. Jedoch teilen alle ein gemeinsames Problem: Sie beruhen auf bestimmten Vorstellungen und Theorien über Menschen und die Gesellschaft – und bestimmten Kritiken an der bestehenden Gesellschaft. Auf Basis dieser Theorien und Kritiken kommen sie zu ihren Moralregeln oder zu ihrer Idee einer algorithmischen Arbeitsteilung mittels Computern o.ä. Weder Theorien noch Kritiken sind offen benannt, sie bleiben implizit. Einem Roman ist dies kaum vorzuwerfen, doch trifft dieser Vorwurf auch die meisten theoretischen Utopien. Beim Lesen drückt sich diese Nichtexplikation v.a. als Gefühl des Aus-der-Luft-Gegriffenen, Willkürlichen und Behaupteten aus. Viele theoretische Vorannahmen bleiben im Dunkeln, unklar und unhinterfragbar. Weshalb sollen X Personen in Fouriers Kerngruppe sein? Erlaubt ein Computerprogramm eine herrschaftslose Organisation der Arbeitsteilung?
Wir behaupten, dass alle Utopien eine theoretische und kritische Fundierung haben. Jede Utopie entsteht innerhalb einer bestimmten Weltvorstellung. Sie leben von einem bestimmten kategorialen Rahmen. Mit der kategorialen Utopie fordern wir eine offene Benennung und Prüfung dieses Rahmens und seines Zusammenhangs mit der Utopie ein. Hierbei nehmen wir an, dass sich zeigen wird, wie viele detailgenaue Beschreibungen von Utopien unhaltbar sind. Wir können die Zukunft nicht exakt beschreiben. Wir können kein Bild der Zukunft malen. Wir können nur einige Wirkungsmechanismen, einige Formen benennen, welche in der Utopie wichtig sein könnten.
Wir wissen hingegen nicht, wie Menschen konkret „arbeiten“ werden – unser kategorialer Rahmen wird uns keine Auskunft darüber erlauben. Aber wahrscheinlich können wir sagen, dass niemand in einer freien Gesellschaft zur „Arbeit“ gezwungen werden kann – und damit können wir vermuten, dass Tätigkeiten kaum hierarchisch organisiert sein werden und z.B. auch Fließbandarbeit sich geringer Beliebtheit erfreut und ersetzt werden muss.
Die Gestalt, die Utopien durch die Orientierung an einem kategorialen Rahmen bekommen, kann hier erahnt werden. Wir werden weniger „auspinselnd“ Details beschreiben, sondern uns mit grundsätzlichen Dynamiken in der Gesellschaft beschäftigen. Wir werden weniger fertige Bilder der Zukunft bilden, als rahmensetzende Überlegungen vertiefen. Die kategoriale Utopie zielt nicht auf ein Abbilden von Phänomenen der Zukunft, sondern auf ein Begreifen ihrer wesentlichen Strukturen. Damit wird der utopische Traum zur menschlichen Möglichkeit. Und eine solche Möglichkeitsutopie kann die Praxis verbessern und schärfen.
Utopie first!
Utopien erscheinen uns oft als etwas Grenzenloses, als Traum, als Raum, in dem alles möglich ist. Diese Vorstellung verschüttet ihren grundsätzlich beschränkten Charakter. Utopien gehen immer aus bestimmten Theorien hervor, aus Vorstellungen über die Wirklichkeit. Während der Beschäftigung mit Transformationsideen kamen wir immer wieder zur gleichen Erkenntnis: Die Transformation ist fundamental beschränkt durch die zugrunde liegende Utopie. Einfach ist dies beispielsweise bei Lenin (1917) zu erkennen. Die Vorstellung des Sozialismus als staatlich geplanter Wirtschaft prägt die Vorstellung der Transformation. Erik Olin Wrights Utopie eines Markts mit starken staatlichen Regeln und prägendem kollektiven Eigentum ist ebenfalls mit seinen Vorschlägen einer reformistischen Veränderung erreichbar (Wright 2017, vgl. dazu das Zusatzkapitel online unter https://commonism.us/). Wieder und wieder zeigt sich die enorme Bedeutung der Utopie für die Transformation.
Ein Gegenentwurf zu einer Utopie-first-Haltung drückt das Motto „Fragend schreiten wir voran“ der Zapatistas in Mexiko aus. Diese Herangehensweise schließt eine wichtige Wahrheit ein: Wir können die Utopie nicht vollständig bestimmen, und darüber hinaus kann sie und ihre Theoriebasis falsch sein. Zum einen bedeutet das, dass die Utopie erst im praktischen Prozess der Aufhebung klarer und detailreicher wird. Durch neue Erfahrungen sowie Lernprozesse und der dadurch veränderten Theorie gewinnt die Utopie immer mehr an Schärfe. Zum anderen können unsere neuen Erfahrungen eine Veränderung der grundlegenden Vorstellungen der Utopie selbst erfordern.
Aber so wenig die Transformation auf ein fertiges Ziel hinauslaufen kann, so wenig kann sie ziellos sein. Ein fragendes Voranschreiten ohne vorherige ausreichende Zielbestimmung wird höchstwahrscheinlich scheitern. Wenn wir uns Gedanken über unser Ziel machen, dann könnten wir darauf kommen, dass uns eine politisch-staatliche Transformation niemals ans Ziel bringen kann. Dann können wir noch so lange fragend diesen politisch-staatlichen Transformationsweg entlang schreiten – er wird uns niemals in die freie Gesellschaft bringen. Auch ein fragendes Voranschreiten benötigt grundlegende Überlegungen zur Utopie, welche dann auch grundlegende Aussagen zur Transformation erlauben, sonst bleibt es ein hoffnungsvolles Tappen im Nebel der Möglichkeiten.
*Bilderverbot ist kein Denkverbot
Theodor W. Adorno gilt als der Verteidiger des Bilderverbots – und tatsächlich wendet er sich gegen jede „Auspinselei“. Adornos Bilderverbot ist jedoch kein Denkverbot. Utopie ist nicht nur ein zentrales Thema, um das sein Denken kreist, und das als Folie, als Gegenbild sein Denken lenkt, sondern ein Gegenstand, über den er begriffliche Bestimmungen entwickelt. In einer utopischen Gesellschaft gäbe es die „angstlose, aktive Partizipation jedes Einzelnen: in einem Ganzen, welches die Teilnahme nicht mehr institutionell verhärtet, worin sie aber reale Folgen hätte“ (Adorno 1966, 261). Notwendig sei „die Befreiung des Geistes vom Primat der materiellen Bedürfnisse im Stand ihrer Erfüllung. Erst dem gestillten leibhaften Drang versöhnte sich der Geist“ (ebd., 207). Adorno denkt über die Utopie nach, und wir lesen ihn so, dass sein theoretisches Fundament auch Ausgangspunkt seiner utopischen Reflexionen ist. Seine utopischen Bestimmungen sind also nicht willkürlich, sondern überprüfbar, kritisierbar und ein Ansatz für Weiterentwicklung – unserer kategorialen Utopie nicht unähnlich.
**Abwehr
Es kann kaum verwundern, dass die meisten Menschen nichts von emanzipatorischen Ideen halten. Bei jedem zweiten Gespräch mit Kritiker*innen stoßen wir schnell auf die Aussage: „Nette Ideen, aber das ist unmöglich.“ Die emanzipatorischen Bewegungen haben ein grundlegendes Problem. Ihr Streben nach Befreiung basiert auf einer Grundannahme: Eine herrschaftsfreie Gesellschaft ist möglich. Doch warum? Ist der Kapitalismus nicht die beste aller schlechten Gesellschaften? Hierauf kann eine emanzipatorische Bewegung ohne kategoriale Utopie keine Antwort geben. Die Hoffnung kann nicht begründet werden. Doch die Hoffnung muss – und kann – begründet werden. Sonst verbleiben emanzipatorische Bewegungen in den religiösen Nebeln des Glaubens. Die Frage nach der Begründung der Hoffnung ist die Frage nach der Utopie. Erst wenn wir für uns die Hoffnung begründet und die menschlich-gesellschaftliche Potenz zu einer freien Gesellschaft ausreichend gezeigt haben, kann die emanzipatorische Bewegung mit Überzeugung für ihre Hoffnung eintreten und vielleicht auch andere davon begeistern.
Literatur
Adorno, Theodor W. (1966): Negative Dialektik, Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Behrens, Roger (2009): Kommunismus. Dreißig Thesen, in: phase 2 Nr. 31.
Engels, Friedrich (1891): Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, in: MEW 19, Berlin: Dietz (1973).
Fourier, Charles (1829): Die neue Welt der Industrie und der Gesellschaft, in: Burckhard, Martin (2006, Hg.), Der Philosoph der Kleinanzeige. Ein Fourier-Lesebuch, Berlin: Semele (2006).
Le Guin, Ursula K. (1974): The Dispossessed. An Ambiguous Utopia, New York: Harper & Row.
Lenin, W.I. (1917): Staat und Revolution, Berlin: Dietz (1978).
Morus, Thomas (1516): Utopia (Orig.: Vom besten Zustand des Staates und der neuen Insel Utopia), Stuttgart: Reclam (1964).
Owen, Robert (1827): Über ein neues Gesellschaftsystem II, in: Jauch, Liane & Marie-Luise Römer (1988, Hg.), Robert Owen – Das soziale System, Leipzig: Reclam.
Wright, Erik Olin (2017): Reale Utopien. Wege aus dem Kapitalismus, Berlin: Suhrkamp.