Am Ende des Metabolismus

Über die irre Himmelfahrt des Kapitalozäns

von Nikolaus Dimmel

Warum Leute reich werden und bleiben ist bereits hinlänglich gesagt. Brechts Diktum, dass Armut und privater Reichtum miteinander funktional verbunden sind, dass der private Reichtum Einzelner auf der relativen Verarmung der Vielen beruht, ist allgemein geläufig. Marx unterstrich, dass das Kapital, dargestellt durch die Charaktermasken der Eigentümer, von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend zur Welt gekommen ist. Und T.J. Dunnings Befund, dass das Kapital ausschließlich durch Profit stimuliert wird, es bei 20 % kühn, bei 50 % waghalsig wird, bei 100 % das Recht bricht und bei 300 % kein Verbrechen mehr existiert, das es nicht riskiert, wurde von den Robber Barons der „gilded age“ über die Industriekapitäne als Financiers des Faschismus, die russischen Oligarchen der Jelzin-Ära bis hin zu den modernen Plutokraten empirisch unterlegt. Seit knapp 40 Jahren beruht der Modus der Akkumulation privaten Reichtums zudem auf einer material-neokolonialistischen, imperialistischen Landnahme durch IWF, Weltbank oder Troika, abgebildet in agrarischen Monokulturen (Palmöl, Soja, Orangen, Kaffee), systematischer Übernutzung (Überfischung, Austrocknung durch hypertrophe Grundwasserentnahme) und Ressourcen- bzw. Weltordnungskriegen (Irak, Syrien).

Dynamische Ungleichheit

Seit der neolithischen Revolution – nämlich der Entstehung von Eigentum, Ungleichheit, Recht, Geld und Schulden – treibt privater Reichtum den sozialen Konflikt voran. Denn Reichtum bedeutet dynamische soziale Ungleichheit: wer hat, dem wird gegeben. Überwiegend gilt ungeachtet aller Legitimationsmärchen der Reichtumsverteidigungsindustrie: Reich wird man nicht, reich ist man von Geburt an. Seinen gesellschaftlichen Ausdruck findet der private Reichtum in Arrogation, Ausgrenzung (Ausschluss) und Distinktion, abgesichert durch die Verfügung über Geldkapital, Boden, Produktionsmittel und ausbeutbare Arbeitskraft. Bis zur Protoindustrialisierung spielt privater Reichtum als Bodenvermögen, ab der industriellen Revolution als Eigentum an Produktionskapital, ab Ende des 19. Jahrhunderts als Finanzkapital der Banken, ab den 1980er Jahren als Geldreichtum der Investoren die jeweils dominante Rolle.

Nach dem Ende des fordistischen Manager-Kapitalismus (stabile, moderate Wachstumsraten, Beschränkung des Einkommensdifferentials, realwirtschaftlicher Fokus der Banken) wird privater Reichtum beinahe ausschließlich auf Aktien- und Immobilienmärkten „erwirtschaftet“, besser: herbeispekuliert. Folgerichtig treten neben die ErbInnen in den Dynastien alten Geldes (Robber Barons, Bankhäuser, Industrie-Clans wie BMW) nunmehr auch Self-Made-Milliardäre, die schnelles Geld durch kreditfinanzierte Wetten machen. Realiter bleibt deren Anteil minimal. Bestand haben jene Reichen, deren Reichtum wie in Italien über Jahrhunderte dynastisch gewachsen ist und von Vermögensverwaltern differenziert „gehedgt“ wurde.

Zentrale Akteure der Reichtumsproduktion sind im finanzmarktgetriebenen Kapitalismus Investment-Fonds (Aktien, Renten, Immobilien). Diese erzwingen in Unternehmen kurzfristige Strategien der Profitmaximierung, in Staaten Politiken der Privatisierung, Austerität und Vermarktlichung der Daseinsvorsorge. Ihre Interventionen sind abstrakt, anonym und sachlich. Hinter dem Geldverhältnis als Ausbeutung, Aneignungs- und Akkumulationsverhältnis von Reichtum verschwindet jeder Anschein personifizierter Klassenherrschaft. Nunmehr regieren anonyme und globale Marktkräfte auf einem deregulierten Finanzmarkt. Dieser ist substantiell auf kollektiven Wahnvorstellungen aufgebaut und ermöglicht es institutionellen Anlegern, risikolos und durch staatliche Ausfallshaftung abgesichert nach „greater fools“ für ihre riskanten Finanzinstrumente zu suchen.

Bewegungskrieg des Kapitals

Dieses Regime des Finanzkapitals bzw. der Geldreichen beruht auf einer explosionsartigen Aufblähung des Geldvermögens durch eine Politik des billigen Geldes, dem „bail-out“ von Finanzmarktakteuren, einer Umschichtung von Kapital aus dem realwirtschaftlichen in den finanzwirtschaftlichen Bereich sowie auf einem System „generalisierter Monopole“ als Ergebnis der Zentralisation des Kapitals. Dadurch wird nicht nur den imperialistischen Monopolen eine von der Mehrwertmasse abzuzweigende Monopolrente durch den Staat garantiert, sondern kommt es auch zu einer fortschreitenden Konzentration von Einkommen und Vermögen, sozial eingefasst in oligarchisch-plutokratischen Elite-Netzwerken einer „transnational capitalist class“, wechselseitig verflochtenen Aufsichtsräten und Elite-Universitäten, die mit der Produktion von sozialem Kapital befasst sind.

Auf eben diesem Weg hat sich der Geld-Nexus als institutionelles Arrangement der Share-Holder durchgesetzt, in dem finanzieller Reichtum geschaffen werden kann, ohne mit realwirtschaftlichen Produktionsprozessen verbunden zu sein. Privater Reichtum entsteht folgerichtig durch die Zerstörung von Produktionsanlagen, die „Freisetzung“ doppelt freier Lohnarbeitskraft, die Filetierung von Unternehmen und die Durchsetzung einer Shareholder-Value-Leitideologie im Management der Unternehmen. Billionen an dergestalt erwirtschaftetem „fictitious capital“, welches nur in Form von elektronischen Buchungszeilen ohne irgendeinen korrespondierenden materiellen Wert existiert, werden in die Ausweitung des Kredit- und Anlagegeschäftes mit sozial absteigenden Privatkunden gepumpt (Konsumentenkredite, Hypotheken, private Altersvorsorge). Privater Reichtum basiert heute auf einer globalen Verschuldungsökonomie, einem „privatisierten Keynesianismus“. Daher sind Konzerne längst dazu übergegangen, neben ihrem Produktionszweig einen Banken- und Versicherungszweig zu etablieren. Fortwährend wird im produzierenden Bereich desinvestiert, um im Spekulationsgeschäft (Finanzprodukte, Rohstoffe, Immobilien) höhere Renditen zu erzielen.

Dieser Bewegungskrieg des Finanzkapitals und seiner Geldreichtümer beruht auf zentralen Eigenschaften des Geldes. Denn Geld generiert auf paradoxe Weise als soziales Verhältnis Gleichgültigkeit und Entgrenzung. Während der Sklavenhalter seinen Sklaven paternalistisch versorgt, der Feudalherr seinen Hintersassen am prekären Leben lassen muss, der (Produktions-)Kapitalist spätestens seit der Human-Relations-Bewegung um die Motivation, Innovationsbereitschaft und Selbstorganisationskompetenz seiner MitarbeiterInnen bemüht ist, kann es dem Investor gleichgültig sein, wer die Vermehrung seines Reichtums zu welchen sozialen und ökologischen Kosten besorgt. Er ist institutionell abgesicherter Experte der Externalisierung von Folgekosten.

Solcherart generiert der Reichtum an Geld Gleichgültigkeit, weil es zwar ein soziales Verhältnis ist, aber zugleich auch soziale Verhältnisse auflöst, in dem es Menschen zu Trägern von Waren und damit zu Charaktermasken des Marktverkehrs verwandelt. Es wirkt entgrenzend, weil Geld als allgemeines Äquivalent beliebig aufhäufbar ist, zumal der Statuswettbewerb nach „oben“ hin keine funktionale Grenze kennt. Akkumuliertes Geld generiert also Gier. In der Tat wird das Streben nach Geld mit Teilnahmslosigkeit, Mitleidlosigkeit, Rücksichtslosigkeit, also Bindungslosigkeit, den Merkmalen eines narzisstischen Sozialcharakters assoziiert, entfaltet gesellschaftliche Zersetzungskraft, gilt als Zerstörer des Gemeinwesens. Unterhalb seiner verhüllenden Oberfläche tendiert das Geld als Schulden(kredit) und soziales Verpflichtungssystem dazu, sich schrankenlos zu vermehren.

Sexualisierung des Geldes

Dem kommt die Biologie zupass. Denn das menschliche Gehirn verarbeitet den Umgang mit Geld ebenso wie die Reflexion der eigenen Statusposition primär emotional. Reichtum, Gewinne und Bonuszahlungen, aber auch Verluste und Einkommenseinbußen werden im Belohnungszentrum des Gehirns verarbeitet. Die euphorische Stimmung der geldreichen Investoren, die in Hype und Hysterie um Geld an Börsen wetten, spiegelt ein Sucht- und Risikodispositiv. Längst hat die Neurobiologie Keynes’ These, dass die meisten getroffenen wirtschaftlichen Entscheidungen keineswegs rational begründet und mathematisch kalkuliert sind, sondern Ausdruck sexualisierter „animal spirits“ sind, bestätigt.

Dies erklärt die affirmative Fixation der Subalternen und Modernisierungsverlierer auf den Geld-Reichtum-Nexus. Auch „Habenichtse“ weisen das Ansinnen einer Vermögensbesteuerung entrüstet zurück, gehen sie doch kontrafaktisch davon aus, im Spiel der Zocker um Geld auch einmal Erfolg zu haben, also Geldreichtum aus (Spiel-)Geld machen zu können. Und für eben den Fall möchte man bitte schön keine Steuern zahlen. In der diesem Fehlgriff zugrunde liegenden Engführung von Geld und Hysterie (als männlicher Projektion auf weibliche Affektivität, Neurosen und Autoaggression) spiegelt sich die Sexualisierung des Geldes. In der Tat sind der Umgang mit Geld und damit auch die gesellschaftliche Akzeptanz der Geldreichen, der Finanzialisierung sowie des privatisierten Keynesianismus von der Kraft des Unbewussten getrieben und entziehen sich einer Vereinnahmung durch die Prinzipien der Logik. Nicht nur Akteure des Finanzmarktkapitalismus, sondern auch die Ausgeplünderten der Finanzialisierungs-Bonanza treffen Entscheidungen substantiell irrational, „aus dem Bauch heraus“. Hinzu kommt, dass privater Reichtum seit Jahrtausenden religiös verbrämt bzw. konnotiert wird. Wie der Calvinismus und die protestantische Ethik gelungene Arbeit und Profitmachen als „Gnadengewissheit“ verstand, so präsentiert der CEO von Goldman-Sachs im Ausschuss des Repräsentantenhauses sein Investment als Gottesdienst. Geldhandelsplätze (Börsen) fungieren als Kirchen, in denen Kursverluste als göttliche Strafen, niedrige Renditen als Fegefeuer daherkommen.

Profitmotive, Zwänge der Kapitalverwertung und die soziale Systematik des Geldes prägen also den Metabolismus des Kapitals, die fortwährende kapitalistische Landnahme als Markterschließung sowie die Umwandlung aller Ressourcen und sozialen Verhältnisse, aber auch der Ideen und Körper in Waren. Im Gefolge der neoliberalen Gegenreformation und des Etappensiegs des Finanzkapitals in einem nunmehr finanzmarktgetriebenen Akkumulationsregime der Share-Holder, Investmentbanken, Hedgefonds und Rating-Agenturen stößt dieser Metabolismus indes an ökonomische, ökologische, soziale und Ressourcengrenzen.

Die drastisch gesteigerte Vermögensungleichheit führt nämlich zur Schwächung jedweder Prosperität, weil Geldreiche ökonomisch parasitär agieren. Sie privatisieren gesellschaftlich erzeugten Reichtum, schlachten bestehende Produktionskapazitäten aus und ab, zerstören gewachsene Infrastrukturen, eignen sich Privatisierungsgewinne an und sozialisieren die jene Gewinne bei weitem übersteigenden volkswirtschaftlichen Verluste, entziehen fortwährend investives Kapital dem realwirtschaftlichen Kreislauf. De facto geht also die rechnerische Reichtumssteigerung der VGR als BIP mit abnehmenden Wohlfahrtseffekten einher. So groß der private Reichtum auch ist – 1 % verfügt über knapp 100 Billionen Euro, 0,001 % der Weltbevölkerung kontrollieren 30 % des Finanzvermögens, 6 Personen eignen so viel wie die untere Hälfte der Menschheit –, er wird bei weitem übertroffen vom Negativvermögen (Schulden) der sozialen Absteiger und der öffentlichen Hand: 2016 betrugen die globalen Schulden 245 % der Wirtschaftsleistung bzw. 214 Billionen US-Dollar.

Es ist zu viel Geld in den Händen von wenigen. Privater Reichtum wird unter Bedingungen der Finanzialisierung daher nicht mehr wie bei Veblens „Leisure Class“ durch Müßiggang, Dandytum, das Erlernen toter Sprachen, Manieren oder „Hochkultur“-Konsum demonstriert, sondern durch extremen Natur- und Ressourcenverbrauch, eine Pathologie nicht mehr nutzbarer Möglichkeiten, wie Gentrifizierungsprozesse, die Privatisierung des vordem öffentlichen Raums, das „Antilia Building“ von Mukesh Ambani in Mumbai, in dem 5 Personen auf 37.000 qm leben, oder Super-Yachten-Wettbewerbe der Ultra High Net Worth Individuals mit Vermögen von mehr als 30 Mio. US-Dollar zeigen.

Pathologie des Reichtums

Derlei demonstrativer Konsum von Luxus(gütern) hat zugleich desaströse ökologische Folgen. Im Metabolismus der superreichen Oligarchen erreicht deren ökologischer Fußabdruck das 10.000-fache des gesellschaftlichen Durchschnitts. Ökologisch hinterlässt die Aggregation privaten Reichtums eine verbrauchte (vergiftete, versteppte, abgeholzte, überhitzte, übersäuerte) Biosphäre. Im aktuellen Klimawandel kündigt sich an, dass die Reichen, selbst wenn sie stet abflugbereite Helikopter auf den Dächern ihrer Investorentempel bereithalten, längst Immobilien auf Neuseeland, in der Schweiz oder Österreich erworben, eine Reihe von Staatsbürgerschaften gekauft und ihre Körper lebensverlängernd optimiert haben, der Verwüstung der Biosphäre nicht entrinnen werden. Die Idee, Kolonien der Geldmacher im Weltall zu errichten, reicht allenfalls bis Hollywood; realistisch umsetzbar ist sie derzeit nicht. Schon wird die phantastische Idee der Reichen, mittels einer „Superintelligenz“ nach Erreichen der Singularität künstliche Intelligenz mit der Schaffung ewigen Lebens durch die Hybridisierung von Mensch und Maschine, synthetisches Leben und die Digitalisierung des menschlichen Gehirns zu beauftragen, durch Klimawandel, Ressourcenerschöpfung und die Irrationalität des neuen (protofaschistischen) Führerkults unterlaufen.

Auf diese Weise fungiert privater Reichtum an Geldkapital als Teil eines ökonomischen Selbstzerstörungsmechanismus und als gesellschaftliches Verhängnis. Er etabliert vermittels Eliten und Märkten eine Zwangsstörung, eine kollektive kognitive Dissonanz, ein ehernes Gehäuse der Hörigkeit, dem die Akteure nicht entrinnen. Er zerstört als Treiber des Kapitalozän Lebensgrundlagen in globalem Maßstab und steuert auf einen klimatischen Kipppunkt zu. Seine Charaktermasken zwingen das Management von Unternehmen kontrafaktisch unter das Prinzip des „Shareholder-Value“ und reduzieren damit reale Wertschöpfung. Das beschleunigt zudem den Fall der durchschnittlichen Profitrate. Sie drängen die ebenso unverständige wie korrumpierte politische Dienstklasse dazu, die gesamte staatlich regulierte Daseinsvorsorge (Pensionen, Spitäler/Gesundheit, Wasser/Strom/Kanal, Straßen, Verkehrsmittel) privaten gewinnorientierten Akteuren zu übertragen, und zwingen die Gesellschaftsmehrheit dazu, weit unter ihren Möglichkeiten zu leben. Digitalisierung und „Surveillance“, Arbeit 4.0 und Kapitalismus 4.0, Robotik und Automatik eröffnen zugleich neue Perspektiven auf künftige Gewaltpraktiken der herrschenden Klasse. Dergestalt steuern der Finanzkapitalismus und seine Geldreichen auf ein Ende des Konzeptes der bürgerlichen Gesellschaft zu.

Blöd nur, dass sie uns dabei ein Stück des Weges mitnehmen.

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