Auszucken und auszuckeln

Steht die Wiener Regierung erst vor dem Aus oder agiert sie schon nach ihrem Ende?

von Franz Schandl

Früher waren Krisen die Ausnahme. Inzwischen ist das nicht mehr so. Zumindest hat man in Österreich das Gefühl, dass Streit und Gezänk, Chaos und Campaigning mittlerweile dominieren. Das ist zwar auch der medialen Übertreibung geschuldet, aber nicht nur. Die Nerven liegen blank, Taktik beherrscht das Terrain. Welche Unfreundlichkeiten können wir ausrichten, wen schießen wir das nächste Mal an oder gar ab? Die Krise ist chronisch geworden, gelegentlich unterbrochen durch bemühte PR-Runden der Regierung, die Harmonie und Arbeitsfähigkeit suggerieren sollen. Doch das sind Intermezzi. Kein Phrase ist so ausgeleiert wie „Koalition neu“. Sie ist eine Drohung, die Fortsetzung verheißt. Vieles scheint aus dem Ruder zu laufen, doch wenn jemand ins Ruder greift, wird es meist noch schlimmer als vorher.

Das Spiel der Eskalation ist zum Selbstläufer geworden. Eine Mischung aus Scharfmacherei und Unbeholfenheit dominiert die politische Szene. Von Woche zu Woche wächst der Missmut, sowohl in der Regierung als auch in der Bevölkerung. Mit der Übernahme der SPÖ durch Christian Kern bzw. der potenziellen Übergabe der ÖVP an Sebastian Kurz hat sich diese Dynamik noch verstärkt. Oft beschleicht einen der Eindruck, die Sache sei schon längst zu Ende, aber niemand traut sich Schluss zu machen, weil sie fürchten von den Wählern abgestraft zu werden.

Kurz gegen Kern

Offensichtlich möchte die Volkspartei Kanzler Kern zwingen, die Koalition zu kündigen und Neuwahlen anzusetzen. Das geht zur Zeit bloß deswegen nicht auf, weil die SPÖ bereit ist, sich inhaltlich, etwa im erneuerten Regierungsprogramm, von der ÖVP vorführen zu lassen. Die Konservativen setzen alles auf ihr vermeintliches Ass, den jungen Außenminister Sebastian Kurz. Alleine der kuriose Umstand, dass ohne ihn der Partei herbe Verluste drohen und keine 20 Prozent prognostiziert werden, mit ihm allerdings fast 35 und Platz Eins, lässt am Verstand bestimmter Wählerschichten doch ernsthaft zweifeln. Was hat Kurz, dass die Wähler einer derartigen Ergriffenheit anheimfallen lässt? Aber die Fiktion führt dazu, dass Kerns Plus schwindet und das von Kurz wächst. Insofern befindet sich die SPÖ in keiner komfortablen Lage. Während die ÖVP auch verlieren kann, kann die SPÖ nur verlieren.

Populistische Plagiate nehmen zu. Ein seltsamer Meister der Rechtswende ist der zum „Jahrhundertalent“ ausgerufene Kurz. Sinngemäß ließ er vor Wochen mitteilen, dass, würde man in Seenot geratene Flüchtlinge im Mittelmeer nicht retten, weniger kommen würden. Das mag stimmen. Wenn sie merken, dass wir sie ertrinken lassen, werden sie es sich gut überlegen. An Zynismus und Menschenverachtung ist diese berechnende Logik kaum noch zu überbieten. Aber das tut dem Kult um Kurz keinen Abbruch. Im Gegenteil. Diverse Rücktrittsaufforderungen hat er einfach weggesteckt.

Mediale Hagiographien des Stars lesen sich so: „Die Passanten scheinen von Kurz wie magisch angezogen. Sie filmen ihn mit ihren Handys, machen Fotos, sprechen ihn an oder rufen ihm Freundlichkeiten zu.“ (Kurier, 2. April 2017) „Gott sei Dank haben wir keinen Sebastian Kurz“, sagte der Wiener Bürgermeister Michael Häupl (SPÖ) noch vor zwei Jahren und meinte das ernst. (Die Presse, 15. 11. 2015) Seine inhaltliche Geringschätzung ist schwer widerlegbar, aber er liegt, was Bedürfnisse und Affekte des Wahlvolks betrifft, damit völlig daneben. An der Marke Kurz wird fleißig gearbeitet, Likes werden lukriert, Events inszeniert, Fans akkumuliert.

Charismatische Phantome treten auf als kollektive Halluzinationen. Selbst wenn man sich drüber lustig macht, es ist ernster, als man meint, insbesondere deutet es an, dass die große Verzauberung (jenseits allen Aufklärungsgezwitschers) nicht nur vorherrschend ist, sondern übermächtig wie noch nie.

Scharf nach rechts

Versucht die ÖVP die FPÖ rechts zu überholen, so überholt nun die SPÖ die ÖVP ihrerseits rechts. Als Rechtsaußen ist der aus dem Burgenland stammende Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil ganz in seinem Metier. In einem Porträt in der konservativen Wiener Tageszeitung Die Presse lesen wir: „Geschult – als Polizist – im richtigen Leben, nicht in Karl-Marx-Lesezirkeln“ (Die Presse, 23. April 2017, S. 3). Das richtige Leben hat’s schon in sich. Was ist „Das Kapital“ gegen eine Polizeiverordnung? So agiert er auch.

Doskozil will unbedingt aus dem EU-Relocation-Programm aussteigen, was meint, keine zugeteilten Flüchtlingskontingente mehr aufzunehmen. Ob Italien oder Griechenland darauf sitzen bleiben, was geht das uns an. Die sollen gefälligst die Außengrenze „schützen“. Bundeskanzler Kern hat auch artig ein dementsprechendes Ersuchen nach Brüssel geschickt, das aber letzte Woche von Jean-Claude Juncker relativ harsch zurückgewiesen wurde. Eine Ausnahme aus der EU-Flüchtlingsumverteilung käme nicht in Frage, hieß es. Das vorgeschobene jedoch zentrale Argument der Österreicher ist, dass sich die anderen ja auch an nichts halten wollen. Falsch ist das nicht, fatal aber doch.

„Wer führt die SPÖ noch? Doskozil? Kern?“, unkte Innenminister Wolfgang Sobotka, Provokateur Nummer Eins der ÖVP-Mannschaft. Die beim letzten Heurigenbesuch ausgerufene Regierungsfreundschaft erweist sich einmal mehr als Makulatur. Europäische Vereinbarungen stehen zur Disposition, werden jedenfalls nationalen Egoismen und Vorteilen untergeordnet. Diese Haltung scheint auch in Wien mehrheitsfähig zu werden. Isolieren wird sich Österreich deswegen nicht. Das Land liegt im Trend.

Die SPÖ Wien, die stärkste und bisher stabilste Landesorganisation der Sozialdemokratie desavouiert sich gerade selbst, indem sie ohne Not ihren Vorsitzenden, Bürgermeister Michael Häupl (67) demontiert. Der gilt nun als Linker, will eh abtreten, aber erst übermorgen. Die Parteirechten um Wohnbaustadtrat Michael Ludwig wollen aber nicht warten. Dass sie möglicherweise ihren Einfluss überschätzen, will ihnen nicht kommen. Der Zug der Zeit spült diese Tendenzen überall nach oben.

Aber auch die Opposition ist in die multiple Krise miteinbezogen. Den Platz links von Kern wissen die Grünen nicht einmal in Ansätzen zu füllen, noch dazu, wo es keine ernsthafte linke Konkurrenz gibt. Sie sind wie sie wirken: bieder und angepasst. Vor einigen Tagen haben sie ihre Jugendorganisation aus der Partei ausgeschlossen. Niemand weiß so genau warum. Es ist nicht nachvollziehbar, warum obligate Zurechtweisung und Demütigung nicht ausreichten und gleich zum Rausschmiss gegriffen wurde. Mittlerweile ist die Parteichefin, Eva Glawischnig, schwer angeschlagen.

Das Team Stronach wiederum hat sich inzwischen völlig erledigt, fünf Abgeordnete von elf sind aus dem Klub ausgeschieden, drei davon in den Besitzstand der ÖVP-Parlamentsriege übergegangen. Und auch bei den liberalen Neos bröselt es. Ein wegen Homophobie auffällig gewordener Abgeordneter – eine Adoption durch Homosexuelle nannte er „abartig“ – hat nun ebenfalls zur Volkspartei gewechselt. Wenn es ihrem Klubobmann, dem notorischen Zündler Reinhold Lopatka gelingt, noch zwei Nationalräte zu ködern, dann hat sie ganz nebenbei die SPÖ an Mandatsstärke überholt. Ohne Neuwahlen.

Glaubte man im Frühherbst 2015 noch, das Land sei in einen Willkommenstaumel gefallen, so entwickelt sich seither alles in ungeheurem Tempo nach rechts. Es herrscht der Wettbewerb der Scharfmacher. Vor allem in der sogenannten Ausländerfrage, aber auch in der Sozialpolitik ist Restriktion angesagt: Wem streichen wir was runter, wo schränken wir was ein, welche Auflagen sind zu erfüllen? Dem Einfallsreichtum scheinen keine Grenzen gesetzt. Der Aufbruch der österreichischen Mitte verheißt nichts Gutes. Insofern hat der aktuelle Rechtskurs durchaus Rückhalt in der Bevölkerung. Immer mehr schwimmen im Strom der Regression.

So absurd es klingt, die FPÖ erscheint zur Zeit als der stabilste und berechenbarste Faktor der österreichischen Innenpolitik. Sie sagen das, was sie immer schon sagten. Zwar stehen die Spitzen der ehemaligen Kärntner Landesorganisation fast alle mit einem Fuß im Kriminal, indes das schadet nicht. Zu den kommenden Nationalratswahlen, die aller Wahrscheinlichkeit um ein Jahr auf den November 2017 vorverlegt werden, kann man heute festhalten: Weil alle Luft draußen ist, ist bei den Wahlen alles drinnen. Prognosen werden zusehends unseriös.

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