Charaktermaskerade

Goethe und Marx. Allegorien der Warenform im Faust II

von Hermann Engster

Dieser Artikel will eine Erkenntnis wieder ins Bewusstsein rufen, der die Zeit, zu der sie formuliert wurde, nicht günstig war. Es handelt sich um eine Deutung des zweiten Teils von Goethes Faust durch den Germanisten Heinz Schlaffer. Schlaffer ist einer der Scharfsinnigsten seines Fachs und hat im Jahr 1981 im Verlag Metzler ein Buch mit dem Titel veröffentlicht: Faust Zweiter Teil. Die Allegorie des 19. Jahrhunderts.

Seine Analyse des Faust II basiert auf der Marx’schen Theorie. Schlaffers Werk ist eine brillante Analyse, traf aber seinerzeit auf ein ihm wenig gewogenes Umfeld. Sein Publikum hatte gerade die Zumutungen der 68er-Bewegung überwunden oder besser: verdrängt, und der Zeitgeist der Achtzigerjahre war nicht unbedingt von theoretisch-emanzipatorischen Gesellschaftsentwürfen erleuchtet, sondern eher regressiv gestimmt. Heute, wo die fundamentale und globale Krise des Kapitalismus nicht mehr zu übersehen ist und eine auch an der Marx’schen Theorie orientierte Kapitalismuskritik zunehmend öffentlich diskutiert wird, stünde dieses Buch wohl unter einem günstigeren Stern.

Damals hat es in der (etablierten bürgerlichen) Fachwelt nur eine ungnädige Aufnahme gefunden. Bei vielen Germanisten stellen sich, wenn sie von Marx hören, die üblichen Ressentiments ein, Ressentiments, die auf einer verkürzten und grobschlächtigen Vorstellung des „Marxismus“ beruhen. Immerhin liegt offen zutage, dass der zweite Teil des Faust den Wechsel von der feudalen zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft reflektiert, und der Aspekt der Geldwirtschaft ist besonders augenfällig, wenn Faust und Mephisto mit der Erfindung des Papiergelds eine Finanzblase samt daraus folgendem Finanzcrash inszenieren. Das wird großmütig zugestanden, aber damit hat es sich dann auch.

Schlaffer hingegen dringt ins Zentrum der Marx’schen Theorie vor. Um begrifflich zu erschließen, was Goethe in seinem Faust intuitiv erfasst hat, begibt er sich auf die grundlegende Ebene der Warenform-Analyse. Er rekonstruiert dies auf eine so luzide Weise, dass jeder (seiner Fachkollegen) ihn eigentlich verstehen müsste – vorausgesetzt freilich, dass er guten Willens und bereit ist, sich auf diese (zugegeben nicht ganz einfache) Sache einzulassen. Aber nur mit diesem Wissen vermag man Schlaffers Interpretation zu verstehen.

Goethe, ein schriftstellernder Finanzminister

Über welches ökonomische Wissen verfügte Goethe, und welches waren seine praktischen Erfahrungen auf diesem Gebiet?
1775 berief der Herzog Carl August von Sachsen-Weimar den 26-jährigen Goethe nach Weimar und nahm ihn in sein Regierungsgremium auf. Er wurde einige Jahre darauf zum Kammerpräsidenten (Finanzminister) ernannt und sanierte die zerrütteten Staatsfinanzen. Darüber hinaus war Goethe tätig in den Kommissionen der Landwirtschaft, der Landesverteidigung, der Wege- und Wasserbaudirektion sowie der Bergwerkskommission. Man sieht, es war ein arbeitsreiches Leben, das viele ökonomische und technische Bereiche umfasste, und Goethe hat diese Arbeit sehr ernst genommen.

Über sein ökonomisches Wissen sind wir gut informiert. Er war mit den Wirtschaftstheorien seiner Zeit wohlvertraut. Am Ende seines Lebens zählte seine Bibliothek 38 Bücher zur Landwirtschaft, 46 zur Nationalökonomie, 59 zur Staatskunde; zudem hatte er zwei bedeutende französische ökonomie-theoretische Zeitschriften abonniert.

1806 erhielt er eine deutsche Übersetzung von Adam Smiths epochemachendem Werk zur Nationalökonomie von 1776 An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations. Er hatte es durchstudiert, wie man aus den Anmerkungen in seinem Bibliotheksexemplar ersehen kann. Noch im hohen Alter, als er den Faust abschloss, nahm er die Schriften der Frühsozialisten und deren Kritik am Manchester-Kapitalismus zur Kenntnis. Insbesondere setzte er sich mit Saint-Simon auseinander, dessen Ideen er im letzten Akt des Faust II kritisch verarbeitete. Auf den Punkt gebracht, kann man feststellen: Das Wissen, das der junge Marx besaß, als er mit der Analyse des Kapitalismus begann, hatte auch Goethe besessen.

Ökonomisches Gespensterwesen

Setzen wir nun bei Goethes eigenen Erfahrungen an! – Im August des Jahres 1797 unterbricht Goethe eine Reise in die Schweiz, um sich einen Monat lang in seiner Geburtsstadt Frankfurt aufzuhalten. Während dieses Aufenthalts macht er an verschiedenen „Gegenständen“, wie er sich ausdrückt, unerwartete Erfahrungen, Erfahrungen, die ihn tief verstören. Wir Heutigen können das kaum noch nachvollziehen, weil das, was er als befremdlich erlebt, für uns selbstverständlich geworden ist, gleichsam zu unserer zweiten, gesellschaftlichen Natur. Wie diese neuen Erfahrungen auf Goethe wirken und wie er sie zu verarbeiten versucht, darüber schreibt er ausführlich in vier Briefen an Friedrich Schiller.

Goethes Verstörung, die von den ungewohnten Erfahrungen mit diesen „Gegenständen“ ausgeht, ist so stark, dass er sowohl psychisch als auch geistig große Anstrengungen aufwenden muss, um sich darüber Klarheit zu verschaffen. An diesen Bemühungen setzt auch Schlaffers Analyse an, der ich folge. Goethe schreibt:
„Wir würden uns gar übel befinden, wenn uns nicht Gemütsruhe und Methode in diesen Fällen zu Hülfe käme. Ich will nun (…) an Frankfurt selbst als einer vielumfassenden Stadt meine Schemata probieren“. (Brief vom 9.8.1797)

Goethes immerhin zweihundert Jahre alte Sprache erschließt sich uns Heutigen nicht mehr unmittelbar und bedarf der „Übersetzung“. Das Wort „Gemütsruhe“ würde man heute wiedergeben als „psychische Ausgeglichenheit“; der Appell an diese zeigt an, wie verstörend die Erfahrungen für ihn sind, und die Ausdrücke „Methode“ und „Schemata probieren“ besagen, dass er sich bemühen will, die neuen Erfahrungen mit seinen ihm zur Verfügung stehenden kognitiven Mitteln und Kategorien einzuordnen und zu begreifen.

Den Höhepunkt seiner Auseinandersetzung bildet der Brief vom 16./17. August 1797. Nach langwierigen theoretischen Überlegungen bringt er seine Beunruhigung über die neuen „Gegenstände“ auf den Punkt. Er schreibt an Schiller:
„Bis jetzt habe ich nur zwei solcher Gegenstände gefunden: den Platz auf dem ich wohne, der in Absicht seiner Lage und alles dessen, was darauf vorgeht, in einem jeden Momente symbolisch ist, und den Raum meines großväterlichen Hauses, Hofes und Gartens, der aus dem beschränktesten, patriarchalischen Zustande, in welcher ein alter Schultheiß von Frankfurt lebte, durch klug unternehmende Menschen zum nützlichsten Waren- und Marktplatz verändert wurde. Die Anstalt ging durch sonderbare Zufälle bei dem Bombardement zugrunde und ist jetzt, größtenteils als Schutthaufen, noch immer das Doppelte dessen wert, was vor elf Jahren von den gegenwärtigen Besitzern an die Meinigen bezahlt worden. Insofern sich nun denken läßt, daß das Ganze wieder von einem neuen Unternehmer gekauft und hergestellt werde, so sehn Sie leicht, daß es, in mehr als Einem Sinne, als Symbol vieler tausend andern Fälle, in der gewerbreichen Stadt, besonders vor meinem Anschauen, dastehen muß.“

Hier sind einige Erläuterungen zum Textverständnis nötig:
* Der Platz, auf dem Goethe bei seiner Mutter wohnt, ist der Rossmarkt, innerhalb der Stadtmauern des mittelalterlichen Frankfurt gelegen; von dort Blick zur Zeil, dem außerhalb der Stadtmauern gelegenen wirtschaftlichen Zentrum des neuen Frankfurt
* Symbolisch, Symbol: auf Verborgenes, Tieferes, hinweisend
* Beschränktest: sehr einfach, schlicht
* Der patriarchalische Zustand meint die Regulierung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch die Zunftvorschriften und Standesrechte einer patrizischen Regierung
* Die Anstalt: der Gebäudekomplex

Es sind einschneidende und folgenschwere Veränderungen, die Goethe ins Auge gefallen sind. Das, wie er formuliert, in dem „beschränktesten patriarchalischen Zustand“ existierende „großväterliche Haus“ samt „Hof und Garten“ war zum Wohnen bestimmt, hatte daher reine Gebrauchsfunktion. Durch die Bombardierung durch französische Truppen im Vorjahr, also 1796, wurde es vernichtet, sodass nur noch ein Schutthaufen übrig blieb. Die Konsequenz daraus ist durchaus paradoxer Art, denn die Vernichtung hatte eine Wertsteigerung zur Folge. Aber von was? Das Haus existierte ja nicht mehr, und der Schutthaufen war wertlos. Um das sinnlich Nicht-Erfassbare zu benennen, nämlich das, was unversehens so wertvoll geworden ist, behilft sich Goethe mit dem abstrakten Begriff „Raum“. Konkrete Vernichtung hatte zu einer abstrakten Wertsteigerung des „Raums“ geführt, und dieses Phänomen dient ihm als Beispiel – er sagt dazu behelfsweise „Symbol“ – „vieler tausend andern Fälle“, wie damals in Frankfurt und anderswo.

Goethe war nicht nur in Hinsicht der Natur, sondern auch der Gesellschaft ein sehr genauer Beobachter. Im selben Brief an Schiller schildert er, was ihm an seiner Geburtsstadt Frankfurt als neuartig aufgefallen ist:
„Sehr merkwürdig ist mir aufgefallen, wie es eigentlich mit dem Publiko einer großen Stadt beschaffen ist. Es lebt in einem beständigen Taumel von Erwerben und Verzehren, und das, was wir Stimmung nennen, läßt sich weder hervorbringen noch mitteilen. (…) Ich glaube sogar eine Art von Scheu gegen poetische Produktionen, oder wenigstens insofern sie poetisch sind, bemerkt zu haben, die mir aus eben diesen Ursachen ganz natürlich vorkommt.“

Es ist eine fundamentale Veränderung mit Frankfurt vor sich gegangen. Die einstmals ruhige, beschauliche Stadt ist, wie Goethe schreibt, „durch klug unternehmende Menschen zum nützlichsten Waren- und Marktplatz verändert“ worden, zu einer „gewerbreichen Stadt“: einer betriebsamen Handelsmetropole. Das hat auch ihre Bewohner verändert. Es herrscht ein „Taumel von Erwerben und Verzehren“; wir würden heute sagen: von Shoppen und Konsumieren. Das greift bis in die wechselseitigen Beziehungen der Menschen ein. Was Goethe hier in tastender Formulierung als „eine Art von Scheu gegen poetische Produktionen“ umschreibt, hält die Tatsache fest, dass durch die neue Wirtschaftsform der nüchterne Geist der Rechenhaftigkeit, des kühlen rationalen Kalkulierens eingezogen ist, kurz: der „Geist des modernen Kapitalismus“, wie ihn Marx und nach ihm Max Weber beschrieben haben. Goethe hat die grundlegenden Veränderungen seiner Zeit sehr genau wahrgenommen, wie weitere Zitate zeigen:

* „Der Frankfurter, bei dem alles Ware ist, sollte sein Haus niemals anders als Ware betrachten.“ (Aus Goethes Notizen seiner Schweizer Reise, Bd. 12, S. 99) Das konjunktivische „sollte“ klingt hier halb auffordernd, halb resignativ.
* Es herrschen vor die Interessen der „… Frankfurter Bankiers, Handelsleute, Agioteurs (d.h. Börsenspekulanten), Juden, Spieler und Unternehmer“. (Im Brief an Schiller vom 12.8.1797). Spieler: heute „Zocker“.
* „Für das größte Unheil unserer Zeit, die nichts reif werden lässt, muss ich halten, dass man im nächsten Augenblick den vorhergehenden verspeist, den Tag im Tage vertut, und so immer aus der Hand in den Mund lebt (…) Haben wir doch schon Blätter (d.h. Zeitungen) für sämtliche Tageszeiten! (…) Niemand darf sich freuen oder leiden, als zum Zeitvertreib der übrigen; und so springt’s von Haus zu Haus, von Stadt zu Stadt, von Reich zu Reich, zuletzt von Weltteil zu Weltteil, alles veloziferisch.“ (Wilhelm Meisters Wanderjahre, Bd. 8, S. 312. – „Veloziferisch“: Neuschöpfung von Goethe, zusammengesetzt aus lat. velocitas: Geschwindigkeit, und Luzifer.)
* „Alles aber (…) ist jetzt ultra (d.h. extrem), alles transzendiert (d.h. durchdringt, übersteigt) unaufhaltsam, im Denken wie im Tun. Niemand kennt sich mehr, niemand begreift das Element, worin er schwebt und wirkt (d.h. tätig ist), niemand den Stoff, den er bearbeitet. (…) Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt (heute: gestresst) und dann im Zeitstrudel fortgerissen. Reichtum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt; Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle mögliche Fazilitäten (d.h. Einrichtungen, Bereitstellungen) der Kommunikation (…). Wir werden, mit vielleicht noch wenigen, die Letzten sein einer Epoche, die sobald nicht wiederkehrt.“ (Brief an Zelter vom 6.6.1825)
* „So wenig die Dampfmaschinen zu dämpfen sind, so wenig ist dies auch im Sittlichen (d.h. im gesellschaftlichen Leben) möglich; die Lebhaftigkeit des Handels, das Durchrauschen des Papiergeldes, das Anschwellen der Schulden, um Schulden zu bezahlen, das alles sind die ungeheuern Elemente, auf die gegenwärtig ein junger Mann gesetzt ist.“ (Wilhelm Meisters Wanderjahre, letzte Fassung 1829, Bd. 8, S. 313)

Des Dichters Aporie: die poetische Gestaltung einer poesiefeindlichen Welt

Goethes Problem ist, ob und wie diese abstrakten Prozesse dichterisch zu gestalten seien. Er diskutiert das in seinen Briefen an Schiller und fragt: „Möchte nicht also hier selbst poetische Stimmung sein? bei einem Gegenstande, der nicht ganz poetisch ist, wodurch ein gewisser Mittelszustand hervorgebracht wird.“

Beziehen wir das auf das Haus von Goethes Großvater: Das zerstörte Haus wäre wohl mit dem traditionellen Motiv der Vanitas, der Vergänglichkeit alles Irdischen, poetisch zu gestalten – wie aber die Tatsache der Wertsteigerung durch Vernichtung, einer Wertsteigerung zudem, die durch einen anonymen, abstrakten Prozess geschieht? Für Schiller besteht hier ein Gegensatz zwischen der, wie er formuliert, „modernen, gemeinen (d.h. alltäglichen) Welt“ und der „alten poetischen“ Welt, und beide seien grundsätzlich unvereinbar.

Goethe gibt die Sache nicht so schnell verloren. Wenn er fragt: „Möchte nicht also hier selbst poetische Stimmung sein?“, so sieht er doch Möglichkeiten der literarischen Gestaltung. Welche aber wären diese?
Das Problem dieser neuen „Gegenstände“ besteht in ihrer mangelnden Anschaulichkeit. Bestünde das alte Haus noch, so ließe sich sein Wert ermessen. Jedoch ist davon nur noch ein „Schutthaufen“ übrig, und trotzdem hat sich der Wert um das Doppelte erhöht!

Wie das zustande gekommen ist, lässt sich nur durch theoretische Überlegung erklären, nicht aber durch sinnliche Anschauung. Der konkrete, sinnliche Charakter des Hauses ist auf zwiefache Weise vernichtet: zum einen durch das Bombardement, zum andern durch die ökonomische Kalkulation. Das Haus ist Objekt eines gesellschaftlichen Verhältnisses geworden, eines Verhältnisses, in dem sein Tauschwert realisiert worden ist. Die Gegenständlichkeit ist verschwunden, an deren Stelle sind abstrakte Mechanismen getreten, die nun über das einstmals konkrete, sinnliche Objekt herrschen. Um diesem Verhältnis auf die Spur zu kommen, seien, so Goethe, Verallgemeinerung und Abstraktion vonnöten.

Doch bleibt Goethe in seinen Reflexionen stecken. Was ihn hindert, ist, wie Schlaffer zeigt, der klassische Symbolbegriff, der auch Goethes eigener ist. Drei Bestimmungen der symbolischen Gegenstände führt er in seinem Frankfurter Brief auf:

* Sie liegen sinnlich „vor meinem Anschauen“.
* Sie schließen „eine gewisse Totalität in sich“ oder an anderer Stelle: „Einheit und Allheit“.
* Sie sind „Repräsentanten von vielen andern“ oder „Symbol vieler tausend andern Fälle“.

Es tut sich hier ein Widerspruch auf. Wie widersinnig das Festhalten am Symbolbegriff ist, der ja die sinnliche Anschauung zur Grundlage hat, zeigt schon der Umstand, dass ein Schutthaufen doppelt so viel wert sein soll wie ein vollständiges Haus vor elf Jahren – das geht aus der sinnlichen Anschauung nicht hervor.

Goethe beharrt aber zunächst auf seinem Symbolbegriff, und das bedeutet: auf der unmittelbaren sinnlichen Anschauung, aus der heraus sich der Gegenstand in seiner Totalität erschließen soll. Die Totalität, die den Gegenstand beherrscht, liegt aber nicht in ihm selbst, sondern kommt von außen her. Sie herrscht in unsinnlicher Form, und was hier herrscht, ist in letzter Abstraktion die Logik des Kapitals.

Der Weg aus dem Dilemma

Offenbar geworden ist: Der Symbolbegriff ohne gesellschaftlichen Inhalt ist nicht aufrechtzuerhalten. Mit Symbolen ist es nicht möglich, die gesellschaftlichen Erfahrungen dichterisch zu gestalten. Diese sind nicht durch Anschauung, sondern einzig durch den Verstand zu begreifen. In einem langwierigen Prozess, den Schlaffer präzis nachzeichnet, löst sich Goethe von der Vorherrschaft der Symboltheorie. Er rettet die 1797 gemachte Erfahrung für die Dichtung, indem er diese Erfahrungen durch ein anderes Medium gestaltet: die Allegorie.

Zu dieser Zeit herrscht in der deutschen Literaturästhetik ein Streit, welches poetische Mittel als das künstlerisch „höhere“ zu gelten habe: Symbol oder Allegorie. Was unterscheidet beide voneinander?

Die Allegorie fasst das Abstrakte im Bild, sie lässt das Allgemeine im Einzelnen und Besonderen erscheinen; komplexe Sachverhalte werden durch ein einziges Ding dargestellt, z.B. die Liebe durch die Rose, oder durch eine Person wie z.B. das Recht durch die Göttin Justitia mit Augenbinde, Waage und Schwert. Die Allegorie in sinnlicher Gestalt ist das Gemeinte selbst; ihr Bedeutungsraum wird durch die Idee begrenzt; um diesen Raum zu füllen, neigt die Allegorie zu Variationen und Metaphernhäufungen.

Das Symbol geht von der sinnlichen Anschauung aus und verhüllt im Besonderen ein Allgemeines, doch gibt es keinen expliziten Hinweis darauf; die Bedeutung erschließt sich durch die sinnliche Anschauung hindurch, der Prozess der Interpretation wird nie abgeschlossen, sodass das Symbol prinzipiell eine unendliche Bedeutungsfülle aufweist. Das Symbol, so Goethe, ist „eine aufschließende Kraft“, es „spricht ein Besonderes aus, ohne ans Allgemeine zu denken oder darauf hinzuweisen. Wer nun das Besondere lebendig fasst, erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden, oder erst spät.“ (Maximen und Reflexionen, Bd. 9, S. 529)

Nennen wir konkrete Beispiele! Eine allegorische Darstellung in der Malerei ist das berühmte Gemälde Die Freiheit führt das Volk an von Eugène Delacroix mit der Freiheitsgöttin vorneweg auf den Barrikaden. In der Dichtung diene als Beispiel das Gedicht von Andreas Gryphius Es ist alles eitel aus dem Jahr 1643. Schon der Titel bestimmt das Programm: Er ist ein Zitat aus dem Buch Kohelet (Prediger) 1,1, und das Gedicht exemplifiziert es in zahlreichen Metaphern: „Du sihst, wohin du sihst, nur eitelkeit auff erden. / Was dieser heute bawt, reist jener morgen ein: / Wo itzund (d.h. jetzt noch) städte stehn, wird eine wiesen sein, / Auff der ein schäffers kind wird spilen mitt den heerden. (…)“

Beispiele für symbolische Darstellung in der Malerei sind die Gemälde von Caspar David Friedrich, die kein ideelles Programm verkünden, sondern offen sind für eine Fülle unterschiedlichster Assoziationen. Das Bild Zwei Männer bei der Betrachtung des Mondes wäre ein Gegenstück zu Goethes Gedicht An den Mond: „Füllest wieder Busch und Tal / Still mit Nebelglanz, / Lösest endlich auch einmal / Meine Seele ganz; / Breitest über mein Gefild’ / Lindernd deinen Blick / Wie des Freundes Auge mild / Über mein Geschick.“ Die vom Mondenschein sanft überglänzte Landschaft wirkt hier als Symbol für die von weicher Stimmung ergriffene und sich öffnende Seele des Menschen.

Die Allegorie, so zeigt sich, ist eine poetische Darstellungsweise, die sich an den Verstand richtet. Die „Gegenstände“, die Goethe in Frankfurt so irritierten, waren, so erkannte er, nur – und nur allein – durch den Verstand zu begreifen. Bei ihnen ging es nicht um die unermessliche äußere Natur oder die unergründliche innere Natur des Menschen, sondern um Erscheinungsformen ökonomischer Kalkulation. Nur die verstandesklare Allegorie konnte die gesellschaftlichen Erfahrungen in dichterische Formen kleiden. Der Theoretiker der Romantik Friedrich Schlegel bezeichnete die Leistung der Allegorie als „die bewusste und wissende Poesie des Unsichtbaren“ (Schlaffer, S. 22).

Denn es sind unsichtbare, anonyme, subjektlose Prozesse, welche die Lebensformen im Zeitalter des Kapitalismus bestimmen, und diese Prozesse konnten nicht mehr mit dem an Sinnlichkeit und Gefühl sich wendenden Symbol, sondern nur mit den Mitteln der an den Verstand sich richtenden Allegorie dargestellt werden. So kam der Allegoriebegriff, nachdem er als unzulänglich, eng und anachronistisch abgetan worden war, durch Goethe wieder zu neuer poetischer Produktivität.
In einem Exkurs unternimmt es Schlaffer nun, diese unsichtbaren Prozesse zu rekonstruieren, um zu zeigen, wie Goethe kraft seines Genies sie intuitiv erkannt und dichterisch gestaltet hat.

Als Marx über das Phänomen Geld nachzusinnen beginnt, fallen ihm die Verse (V. 1820 ff.) aus dem I. Teil des Faust ein, wo Mephisto zu Faust spricht:

Was Henker! freilich Händ’ und Füße
Und Kopf und Hintern, die sind dein;
Doch alles, was ich frisch genieße,
Ist das drum weniger mein?
Wenn ich sechs Hengste zahlen kann,
Sind ihre Kräfte nicht die meine?
Ich renne zu und bin ein rechter Mann,
Als hätt’ ich vierundzwanzig Beine.

Dazu hat Marx im Jahr 1844 unter dem Titel Auslegung der goethischen Stelle sich Aufzeichnungen gemacht; diese lauten:
„Was durch das Geld für mich ist, was ich zahlen, d.h., was das Geld kaufen kann, das bin ich, der Besitzer des Geldes selbst. So groß die Kraft des Geldes, so groß ist meine Kraft. Die Eigenschaften des Geldes sind meine – des Besitzers – Eigenschaften und Wesenskräfte. Das, was ich bin und vermag, ist also keineswegs durch meine Individualität bestimmt.“ (K. Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: K. Marx/Fr. Engels: Werke, Erg.-Bd., T. 1, S. 564)

Also: Wenn ich eine Kutsche mit sechs Hengsten kaufen kann, verleiht mir das Geld eine Schnelligkeit, als wäre diese meine persönliche Eigenschaft. Diese in den Versen ausgedrückte Verwandlungsfähigkeit des Geldes hat Marxens Geist elektrisiert.

Die Wunderkräfte des Geldes

Mephistos Erkenntnis von der Kraft des Geldes entfaltet im II. Teil des Faust ihre volle – und wie es dem Teufel geziemt – betrügerische Wirkung. Die Szene spielt am Kaiserhof. Der Staat ist bankrott, die Alarmmeldungen der Minister über die zerrütteten Zustände überschlagen sich. Da kommen Faust und Mephisto ins Spiel. So wie der II. Teil des Faust ein völlig anderer ist als der I. Teil – der I. Teil spielt im kleinbürgerlichen Milieu einer engen deutschen Kleinstadt, der II. Teil öffnet sich der ganzen Welt – so sind auch Faust und Mephisto verändert: Mephisto ist nicht mehr derjenige, der, um seiner Wette willen, bestrebt ist, Faust vom „rechten Weg“ abirren zu lassen, sondern beide erscheinen hier als skrupellose Komplizen.

Sie bieten sich dem Kaiser als Retter in der finanziellen Notlage an. Der Kaiser braucht Geld, und das Gold, das zu seinem Staatsschatz gehört, ist aufgebraucht. Gold und Silber sind im Reich zwar üppig vorhanden, allerdings schwer erreichbar, denn sie liegen in der Erde verborgen: als vergrabene und vergessene Schätze und als Metalladern. Nun der Trick: Diese könnte man zu Geld machen, indem man vom Kaiser unterschriebene Scheine unters Volk verteilen lässt, auf denen der Kaiser versichert, dass man mit dem auf den Scheinen angegebenen Geldbetrag sich alles kaufen könne und er dafür einstehe, dass der aufgedruckte Betrag von ihm in Silber oder Gold eingelöst würde. Es ist die Geburtsstunde der Banknote. Dass dieses Papiergeld keine reale Deckung hat, sondern nur eine fiktive – das kümmert die Finanzjongleure damals so wenig wie heute. Wichtig ist, dass man sich mit dem Papiergeld alles kaufen kann. Mephisto versichert dem Kaiser, wozu dieses neue Geld fähig sei: „Zum Silber Gold, dann ist es heitre Welt; / Das Übrige ist alles zu erlangen: / Paläste, Gärten, Brüstlein, rote Wangen“ (V. 4966 ff.) – also alles, was das Herz begehrt, vor allem Luxus und Sex.

So geschieht es: Das großzügig in Umlauf gebrachte Papiergeld führt zu einem allgemeinen Kaufrausch, der am Ende, weil dem Papiergeld die notwendige Deckung fehlt, in einem bösen Erwachen enden wird. Der Kaiser ist jedoch glücklich, dass seine Geldnot so elegant behoben wird und er wieder seiner Vergnügungssucht frönen darf.

Ein großes Fest soll gefeiert werden, ein Karneval, im Faust II die „Mummenschanz“ genannt (das Wort war zu Goethes Zeit noch feminin), in der allerlei Figuren auftreten.
Der Karneval stellt eine verkehrte Welt dar. Auf diese Maskerade des Geldes trifft Marxens Erkenntnis zu:
„Da das Geld als der existierende und sich bestätigende Begriff des Wertes alle Dinge verwechselt, vertauscht, so ist es die allgemeine Verwechslung und Vertauschung aller Dinge, also die verkehrte Welt, die Verwechslung und Vertauschung aller natürlichen und menschlichen Qualitäten.“ (Ökonomisch-philosophische Manuskripte, S. 566)

Das ist eine allegorische Figur par excellence. Den Höhepunkt des Karnevals bildet Fausts Auftritt, angekündigt vom Herold als „Vermummter Plutus, Maskenheld“ (V. 5737). Faust erscheint als die Personifikation des Geldes, als Gott Plutus. Hier trifft der Begriff wörtlich zu, den Marx im Kapital gebraucht: Charaktermaske. Und hier setzt Schlaffer an, um die in der Mummenschanz neben Plutus weiter auftretenden allegorischen Figuren nach den Marx’schen Kategorien zu interpretieren.

Goethes Faust auf den Begriff gebracht

Schlaffer rekonstruiert nun für seine Leser Marxens Denkweg. Er begibt sich dabei ins Zentrum der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie und beginnt da, wo Marx selbst begonnen hat: bei der Analyse der Ware, und er führt sie fort bis zum Marx’schen Konzept des Warenfetischs und der Charaktermaske. Da die Leserinnen und Leser der Streifzüge mit den Grundzügen der Marx’schen Warenanalyse hinreichend vertraut sind, kann ich mich auf das für die Interpretation der Szene Wesentliche beschränken und will es nur thesenartig vorstellen.

1. Was eine Ware wert ist, kann sie nicht durch sich selbst darstellen. Die Ware kann ihren Wert nur an einer anderen Ware darstellen.
2. Sie muss daher in Austausch mit anderen Waren treten.
3. Dazu muss von ihrem konkreten Gebrauchswert abstrahiert werden; d.h. ihre sinnlichen Eigenschaften werden gleichgültig.
4. Der Wert einer Ware liegt in einem gemeinsamen Dritten. Der Wert der Ware ist die durchschnittliche gesellschaftliche Arbeitszeit, die zu ihrer Herstellung aufgewendet wird. (So schon Adam Smith.)
5. Der Wert der Ware ist somit als Abstraktum in ihr enthalten.Der Prozess der Abstraktion erzeugt eine „gespenstige Gegenwart“ (Marx): eine Voraussetzung der Allegorie.
6. Hier findet eine elementare „Maskerade“ statt: der Gebrauchswert als Maske des Tauschwerts. (Dies wird in der Maskeraden-Szene des Faust gewärtig werden.)
7. Die Erscheinung der Ware ist sinnlich, das Wesen der Ware – ihr Wert – ist abstrakt. Die Sinnlichkeit der Waren steht im Dienst der Abstrakta. Im Tauschverhältnis entsteht eine neue, abgeleitete, künstliche Sinnlichkeit der Waren.
8. Der Wert als das Abstrakt-Allgemeine ist nicht eine Eigenschaft des Sinnlich-Konkreten: „Umgekehrt (steht) das Sinnlich-Konkrete als blosse Erscheinungs- oder Verwirklichungsform des Abstrakt-Allgemeinen“ (Marx).
9. Diese „Verkehrung“ spiegelt die Konstruktion der Allegorie: Die Allegorie geht von einem Abstrakt-Allgemeinen aus und stellt sich als Sinnlich-Konkretes dar. Der abstrakte Wert verbirgt sich unter einer dinglichen Hülle.
10. Produktion und Tausch von Gebrauchsgütern gibt es, seit Menschen in Gesellschaften leben. Im Kapitalismus aber werden diese Güter als Waren produziert und wird der Warentausch zu einer neuen, alles beherrschenden Form des gesellschaftlichen Zusammenhangs.
11. Um sich miteinander vergleichen zu können, benötigen die Waren eine allgemeine Ware; diese ist die „Geldware“: das Geld.
12. Im Geld wird das Unsichtbare, die Abstraktion des Werts, sichtbar. Wenn Faust in der Mummenschanz in der Maske des Plutus auftritt, erscheint er als Personifikation: als Allegorie des abstrakten Werts.
13. Da die Waren nicht selbst auf dem Markt in Austausch treten können, müssen es die Menschen für sie tun. Die Waren übernehmen so die Eigenschaften der Menschen, und die Menschen die der Waren.
14. Auftritt der Charaktermaske: „Die Personen existieren hier nur füreinander als Repräsentanten von Waren und daher als Warenbesitzer. (…) … die ökonomischen Charaktermasken der Personen (sind) nur die Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse, als deren Träger sie sich gegenübertreten.“ (MEW 23, 99 f.)
15. In früheren Gesellschaften waren die Abstraktionen fiktiv, in der kapitalistischen Gesellschaft sind sie real. Marx: Während „die Individuen (…) früher voneinander abhingen, (werden) sie nun von Abstraktionen beherrscht“. (Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Frankfurt/Wien o.J. S. 82.)
16. Das Kapital ist eine „Abstraktion in actu“ (Marx, ebd., S. 24, 109). Es ist eine handelnde Abstraktion: „Sie verkörpert sich in wechselnden Personifikationen, sie leiht den Individuen die Charaktermasken, mit denen sie sich auf dem Markt begegnen und lässt eine bunte Welt künstlicher Erscheinungen aus seiner kargen Logik hervorgehen.“ (Schlaffer, S. 62)
17. Die Allegorie ist die poetische Erscheinungsform der ökonomischen Charaktermaske: Abstraktion > Charaktermaske > Allegorie.

Was Marx rational-analytisch erkannt hat: die grundlegenden Strukturen und Mechanismen, welche die Gesellschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu beherrschen begannen, das hat Goethe, auf der Höhe des ökonomischen Wissens seiner Zeit und kraft seines überlegenen Geistes, intuitiv erfasst und poetisch gestaltet: Der Künstler übertrifft den Denker. Die Kategorien der Wertabstraktion werden im Faust II als allegorische Gestalten auf der Bühne erscheinen.

Die Maskerade der Abstrakta

Die wundersame Geldschöpfung soll mit einem großen Fest, einem Karneval, gefeiert werden; stattfinden soll er laut Bühnenanweisung in einem „weitläufigen Saal, verziert und aufgeputzt zur Mummenschanz“.
Hier werden sich die allegorischen Gestalten präsentieren. Der Szenentext macht deutlich, dass es sich um eine doppelte Darstellung handelt: eine bewusste, reflektierte Darstellung. Die Figuren stellen etwas dar und machen zugleich bewusst, dass es eine Darstellung ist, ja, die allegorischen Gestalten selbst weisen den Zuschauer ausdrücklich darauf hin, wenn sie von sich feststellen: „Denn wir sind Allegorien.“ (V. 5531) Das sinnliche Äußere verweist auf die teils offenliegenden, teils verborgenen Bedeutungen. Denn das verlangt die an den Verstand appellierende Struktur der Allegorie vom Interpreten: Er muss bildliches Konstrukt und begrifflichen Inhalt voneinander trennen.

Es ist ein Karneval im italienischen Stil. Die auftretenden Figuren wie z.B. Gärtnerinnen sind nicht wirkliche Gärtnerinnen, sondern sie sowie die mythischen Figuren oder die Objekte wie Olivenzweige und Ährenkränze werden von Mitgliedern des Hofstaats dargestellt. Es geht nicht um das Nachspielen des tatsächlichen Lebens, sondern es ist ein künstliches Spiel, das durch die Maskerade noch potenziert wird.

Jeder nimmt nach Anweisung des Herolds als Regisseurs der Mummenschanz eine ihm fremde Rolle an. Dadurch verstärkt sich die Distanz zwischen sinnlicher Figur und präsentierter Idee, zumal jede Maske die Bedeutung ihrer Rolle sentenzenhaft formulieren soll: „Verkünde jede, wer sie sei (…) Sag von dir selber auch das Was und Wie!“ (V. 5406 u. 5572) Bei diesen Sentenzen geht es nicht um das Individuelle der Rollen, sondern um das Gesellschaftlich-Allgemeine, und damit offenbaren sie ihre Rolle im gesellschaftlichen Zusammenhang. Sie stellen keine Individualitäten dar, sondern verkörpern samt ihren jeweils typischen Attributen abstrakte Funktionen. Das soll am Auftritt der Gärtnerinnen und Gärtner exemplarisch gezeigt werden (V. 5088 – 5177, in Auszügen).

Auftritt der Gärtnerinnen und Gärtner mit ihren Produkten

GÄRTNERINNEN Gesang begleitet von Mandolinen
Euren Beifall zu gewinnen
Schmückten wir uns diese Nacht
Junge Florentinerinnen
Folgten deutschen Hofes Pracht;

Tragen wir in braunen Locken
Mancher heitern Blume Zier
Seidenfäden, Seidenflocken
Spielen ihre Rolle hier.

Denn wir halten es verdienstlich,
Lobenswürdig ganz und gar
Unsere Blumen, glänzend künstlich,
Blühen fort das ganze Jahr.

Allerlei gefärbten Schnitzeln
Ward symmetrisch recht getan;
Mögt ihr Stück für Stück bewitzeln
Doch das Ganze zieht euch an.

Niedlich sind wir anzuschauen,
Gärtnerinnen und galant
Denn das Naturell der Frauen
Ist so nah mit Kunst verwandt.

HEROLD
Laßt die reichen Körbe sehen
Die ihr auf den Häupten traget
Die sich bunt am Arme blähen
Jeder wähle was behaget.
Eilig daß in Laub und Gängen
Sich ein Garten offenbare
Würdig sind sie zu umdrängen
Krämerinnen wie die Ware.

GÄRTNERINNEN
Feilschet nun am heitern Orte
Doch kein Markten finde statt
Und mit sinnig kurzem Worte
Wisse jeder was er hat.

OLIVENZWEIG MIT FRÜCHTEN
Keinen Blumenflor beneid’ ich
Allen Widerstreit vermeid’ ich,
Mir ists gegen die Natur.
Bin ich doch das Mark der Lande,
Und, zum sichern Unterpfande,
Friedenszeichen jeder Flur.
Heute hoff’ ich soll mir’s glücken
Würdig schönes Haupt zu schmücken.

ÄHRENKRANZ golden
Ceres Gaben euch zu putzen
Werden hold und lieblich stehn
Das Erwünschteste dem Nutzen
Sei als eure Zierde schön.

PHANTASIEKRANZ
Bunte Blumen Malven ähnlich
Aus dem Moos ein Wunderflor!
Der Natur ists nicht gewöhnlich
Doch die Mode bringts hervor.
(…)
Mögen bunte Phantasien
Für des Tages Mode blühen,
Wunderseltsam sein gestaltet,
Wie Natur sich nie entfaltet;
Grüne Stiele, goldne Glocken
Blickt hervor aus reichen Locken! –
(…)

Unter grünen Laubgängen putzen die Gärtnerinnen zierlich ihren Kram auf.

GÄRTNER Gesang begleitet von Theorben
Blumen sehet ruhig sprießen
Reizend euer Haupt umzieren
Früchte sollen nicht verführen
Kostend mag man sie genießen.

Bieten bräunliche Gesichter
Kirschen, Pfirschen, Königspflaumen,
Kauft! denn gegen Zung’ und Gaumen
Hält sich Auge schlecht als Richter.
Kommt von allerreifsten Früchten
Mit Geschmack und Lust zu speisen!
Über Rosen läßt sich dichten,
In die Äpfel muß man beißen.

Sei’s erlaubt uns anzupaaren
Eurem reichen Jugendflor
Und wir putzen reifer Waren
Fülle nachbarlich empor.

Unter Wechselgesang, begleitet von Gitarren und Theorben, fahren beide Chöre fort ihre Waren stufenweis’ in die Höhe zu schmücken und auszubieten.

Erläuterungen:

Deutschen Hofes Pracht: in deutsche Trachten gekleidet; Schnitzel: bunte Aufnäher; bewitzeln: bespötteln; feilschen: handeln; markten: mäkelnd herabsetzen; Mark der Lande: Kraftquell, auch ökonomisch als Italiens wichtigstes Exportgut; Friedenszeichen: der Ölbaumzweig; Ceres: röm. Fruchbarkeitsgöttin; putzen: schmücken; nicht gewöhnlich: nicht vorkommend; Flora: röm. Göttin der Blumen; zierlich: schön geordnet; Pfirschen: Pfirsiche; Äpfel: (erotische) Anspielung an die Paradiesesäpfel; anpaaren: erotische Konnotation (zusammen mit den Äpfeln).

„Auftritt der Gärtnerinnen und Gärtner mit ihren Produkten“ heißt die Bühnenanweisung. Es war zu Goethes Zeiten üblich, dass Gärtner ihre Produkte auf dem Markt feilboten, und so auch hier. Im Mittelpunkt der Szene stehen jedoch nicht die Figuren selber, sondern ihre Produkte, die Waren. Die Gärtnerinnen als Dienerinnen der Natur singen aber kein Loblied auf die segenspendende Natur, sondern auf ihre Produkte, die Waren, wie sie selbst diese auch bezeichnen. Die Waren werden mittels zahlreicher schmückender Worte und Wendungen angepriesen oder neudeutsch: beworben. Die Gärtnerinnen wirken nicht durch ihre natürliche, zweckfreie Schönheit, sondern sie haben sich selbst mit allerlei modischen Accessoires zurechtgemacht: mit „Schnitzeln“, „Seidenfäden“, „Seidenflocken“, und sie preisen die Künstlichkeit ihrer Erscheinung ebenso wie die ihrer „aufgeputzten“ Produkte: „unsere Blumen, glänzend künstlich“. Es wird eine künstliche Sinnlichkeit erzeugt, alles steht im Dienst der Reklame und mündet in die Aufforderung „Kauft!“ (V. 5164) Sind die Gärtnerinnen so zu Attributen ihrer Waren geworden, so verselbständigen sich diese auch selber und verwandeln sich in redende Personen: Olivenzweig, Ährenkranz, Blumenstrauß. Präziser und bündiger als Marx selbst kann man den hier zugrundeliegenden Sachverhalt nicht formulieren:
„Die ökonomischen Charaktermasken der Personen sind nur die Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse, als deren Träger sie sich gegenübertreten.“ (MEW 23, S. 99 f.)

Dazu passt eine Feststellung des Mephisto aus der (später folgenden) klassischen Walpurgisnacht. Mephisto ist irritiert, als er lüstern den Lamien – vampirähnlichen Wesen der griechischen Mythenwelt – nachstellt und feststellen muss, um welche bizarren Gestalten es sich bei diesen handelt. Diese Erfahrung erinnert ihn an die vorherige Mummenschanz am Kaiserhof, und er stellt fest:

Ist eben hier eine Mummenschanz
Wie überall, ein Sinnentanz.
Ich griff nach holden Maskenzügen
Und faßte Wesen, daß mich’s schauderte…
(V. 7795 ff.)

An der Analyse dieses kleinen Ausschnitts ist, so denke ich, exemplarisch deutlich geworden, in welcher Weise der tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungsprozess in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts – der Weg in die Herrschaft der Gesetze des Kapitalismus – von Goethes universalem Geist künstlerisch erfasst worden und in die Dichtung eingegangen ist.
Damit möge es sein Bewenden haben. Einen Ausblick auf Schlaffers Untersuchung möchte ich am Schluss geben. Für ihn sind die weiteren Kapitel, ja der gesamte Faust II, eine einzige umfassende Allegorie: Der Faust II als die Allegorie einer von den abstrakten Mechanismen des Kapitalismus beherrschten Welt.

Man hat gerätselt, weshalb Goethe nach Abschluss des Faust II verfügt hat, dass dieses Werk erst nach seinem Tode veröffentlicht werden sollte. Der Faust II ist allein schon rein sprachlich-inhaltlich schwierig genug zu verstehen, viel schwieriger aber noch in Hinsicht der außerordentlich komplexen poetischen Konstruktion. Vielleicht wollte Goethe eine heftige öffentliche literarische Debatte über die von ihm gewählte Darstellungsform, eine Darstellungsform, die nicht nur als ungewöhnlich, sondern geradezu als anstößig, weil als rückständig galt – vielleicht wollte der 82-jährige Alte sich diese Debatte nicht mehr zumuten. Wir aber sollten uns mit unseren entwickelten Begriffen der Kapitalismuskritik dieser Lektüre erneut stellen.

Der Schlussakt des Faust II ahnt im skrupellosem Unternehmertum des Teufelsbündners hellsichtig das künftige Menschheitsverhängnis. „Es wird die Spur von meinen Erdentagen / Nicht in Äonen untergehn“, prahlt er, todverfallen, physisch blind geworden und geistig verblendet. Seine Spur erstreckt sich, zur Hauptstraße verbreitert, bis in unsere Tage. Eine irdische Lösung sieht sein Autor nicht vor. Fausts „Erlösung“, um der Bühnenanschaulichkeit willen mit allerlei christlichen Versatzstücken drapiert, aber bar aller Kreuzestheologie, ereignet sich in einer fernen Transzendenz als mystischer Akt der Läuterung: als eben „das Unbeschreibliche“, das die Dichtung nicht mehr zu beschreiben vermag, das gleichwohl „hier getan“ wird – trotz der Blutspur von Verbrechen und Katastrophen, die Faust, der moderne Mensch, in seinen Erdentagen hinterlassen hat.

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Literatur

Schlaffer, Heinz: Faust Zweiter Teil. Die Allegorie des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1981.
Goethes Werke werden zitiert nach der Artemis-Gedenkausgabe, hsgg.v. Ernst Beutler, Zürich 1949, Nachdruck Zürich/München 1977.
Der Faust wird zitiert nach der Ausgabe von Albrecht Schöne: Faust. Texte, in: Goethe, Sämtliche Werke, Bd. 7/1, Frankfurt a.M. 1994.

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