Kapitulation 2

von Roger Behrens

Die Popmusik in ihren profitablen Segmenten der Kulturindustrie: in den Vereinigten Staaten waren das Soul und Rock’n’Roll, in Großbritannien der Beat und in Deutschland der Schlager. Wie das englische „Beat“ oder „Hit“ verweist das Wort Schlager auf die Konvergenz von musikalischer Eingängigkeit und kommerziellem Erfolg: Die künstlerischen Merkmale des Schlagers – die eingängige Melodie oder die gefälligen melodischen Floskeln („Hit“) und der durchgehend „schlagende“ Rhythmus im treibenden Takt („Beat“) – sind mit den ökonomischen Eigenschaften solcher Musikproduktionen weitgehend gleichbedeutend: Was beliebt ist, wird verkauft; was verkauft wird, ist beliebt. Freilich lässt sich jede Musik, auch der Schlager, nach Kriterien des ästhetischen Urteils rezipieren; tatsächlich verlangt diese Musik nur die unmittelbare Reaktion, das Gehörte eben als Schlager zu identifizieren. Komposition und Arrangement des Schlagers sind Verfahrensweisen, ein musikalisches Schema mit zwar wenigen, aber effektvollen Variationen. Diese auszuschöpfen obliegt dem „Interpreten“, wobei es nicht um eine musikalische Interpretation geht, sondern um die Stilisierung des Interpreten selbst – als Persönlichkeit, die ihm überdies in der Funktion des Stars die nötige Nahbarkeit verleiht und ihn mit dem Schlagerpublikum gemein macht: Anders als die originären und originellen Rock- und Popstars repräsentiert der Schlagerstar stets den gesellschaftlichen Durchschnitt des Allgemeinen, das sich mit dem Besonderen verwechselt. Mehr als in anderen Sparten sammeln die Fans Autogramme; typisch ist auch die öffentliche Inszenierung der Schlager-Persönlichkeit mit deren Privatleben.

Zum Beispiel: Heino, geboren am 13. Dezember 1938 als Heinz Georg Kramm in Düsseldorf. In Frank und Ingrid Laufenbergs Rock- und Pop-Lexikon, Band 1, München 1998, hat Heino – ebenso wie, ihm gleich danach folgend, Heintje – einen Eintrag (denn, ebd., S. 2: „Dieses Lexikon beinhaltet Informationen über die kommerziell erfolgreichen Persönlichkeiten der Rock- und Popmusik von A bis Z seit dem Beginn der 40er Jahre.“). Dort heißt es S. 677f.: „Nachdem er eine Bäckerlehre beendet hatte, betätigte er sich ab 1957 als Versicherungsvertreter. Schon während seiner Lehrzeit war er mit zwei Freunden als Düsselperten aufgetreten. Danach trat er bei Betriebsfeiern und zum Karneval als Alleinunterhalter auf und gründete schließlich das Trio OK Singers. Er sang vorwiegend Lieder von Freddy Quinn und René Carol nach, die seiner Stimmlage entgegenkamen. 1965 trat Heino bei einer Modenschau in Quakenbrück an der Hase auf und beeindruckte den dort als Stargast anwesenden Ralf Bendix. Der wurde Heinos Produzent und verschrieb ihm Lieder aus der Volkslied-, Seefahrts- und Kameradschaftsecke … ,Wir lieben die Stürme‘ war seine erste Platte in der deutschen Hitparade.“

Bereits die erste Single von 1965 ist mit über 100.000 verkauften Exemplaren ein großer Erfolg, das erste Album 1967 der endgültige Durchbruch: „Kein schöner Land in dieser Zeit“. Musik aus den Untiefen der politischen Reaktion, massentauglich aufpolierter Kulturkonservatismus, Volksgemeinschaft als Amüsement; der Stoff ist aus der trüben Vergangenheit deutscher Romantik hervorgeholt, zehrt zugleich von der ungebrochenen Beliebtheit solcher so genannten Tradition. Anton Wilhelm von Zuccalmaglio veröffentlicht 1840 „Kein schöner Land in dieser Zeit“ in der Sammlung „Deutsche Volkslieder mit ihren Original-Weisen“ unter dem Titel „Abendlied“: Männer sitzen beisammen, es ist spät, die Nacht bricht an, Linden und Eichen, Gottes Segen schützt die Heimat – die Wandervogelbewegung um neunzehnhundert machte das Lied bekannt, abgewandelte, auch sozialistische Varianten gibt es; aber erst Heinos markante Stimme mit der energischen Artikulation und dem rollenden „R“ macht dieses und andere derart interpretierte Volkslieder in der Schlagerversion zu dem, was der Schlager ansonsten beharrlich ableugnet, nämlich dezidiert politische Musik.

Für die Rolle Heino wird die Stimme zur Masche und bildet zusammen mit der blonden Perücke, der dunklen Sonnenbrille und dem fahlen Teint seine Markenzeichen. Dazu gehört: Gerade in den 1970ern, wo die Postmoderne sich ankündigt und die deutsche Schlagerkultur nachgerade hysterisch zum Soundtrack der längst verblassenden Wirtschaftswundergesellschaft überdreht wird, sind die großen Erfolge Heinos – Lieder wie „Blau blüht der Enzian“, „Die schwarze Barbara“ und „Komm in meinen Wigwam“– immer auch schon von einem Schimmer anscheinender Selbstironie begleitet; Otto Waalkes’ damalige Heino-Persiflage („Schwarz-braun ist die Haselnuss … schwarz-braun bin auch ich“) monierte als Witz, was Heino selbst im Deckmantel der Unterhaltung mit einem fröhlichen Lächeln ernst meinte; deutsche Weihnacht, deutsche Lieder, das „Deutschlandlied“ stellen das Repertoire.

Heino ist der deutsche Exzentrikclown, oder besser: das ins exzentrisch Clowneske übertriebene Deutsche, weißer als weiß; seine Erkrankung – er leidet an Morbus Basedow – verwandelt er zum Klischee, die individuelle Schwäche wird als Stärke der Marke Heino verkauft. Seine Rolle ist bis in die Groteske übertrieben, die Markenzeichen perfekt und einfach – ohne Weiteres zu kopieren, aber gerade deshalb kopiergeschützt. Eine Unterlassungsklage gegen einen Doppelgänger – unter dem Namen Der wahre Heino als Spaßmacher bei Punk-Konzerten – hatte 1985 Erfolg. Nach Alben wie „Glocken der Heimat“ (1991) oder „Deutschland, meine Heimat“ (2006) landet Heino 2013 den großen Coup: das Album „Mit freundlichen Grüßen“ präsentiert zwölf Coverversionen von Die Ärzte über Clueso und Nena bis Keimzeit, Sportfreunde Stiller, Rammstein u.ä. – und wurde in den ersten drei Tagen ab Veröffentlichung öfter als jedes andere Album eines deutschsprachigen Künstlers legal heruntergeladen. Zugleich ist es das erste Nummer-eins-Album in Heinos Karriere. Beim Metal-Festival Wacken Open Air singt Heino zusammen mit Rammstein vor 80.000 Leuten das Lied Sonne. Auf der im Oktober 2013 erschienenen Deluxe-Edition des Albums sind sechs weitere Titel gecovert, darunter auch „Kapitulation“ von Tocotronic.

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