Gehen 40 Jahre Straflosigkeit in Chile zu Ende?

Dora de la Vega interviewt Marcelo Henríquez Kries

Die Ärztin Ruth Kries war eine von Dutzenden Chilenen, die seit dem 11. September 1973 in der deutschen Botschaft Zuflucht vor dem Zugriff des chilenischen Terrorregimes gefunden hatten, das sich an diesem Tag an die Macht geputscht hatte. Ende Dezember 1973 war sie auch Teil des ersten Flüchtlingskontingents aus dem südamerikanischen Land, das am Flughafen Frankfurt am Main landete. Sie befand sich nun mit ihren vier kleinen Kindern in einer fremden Umgebung, in welcher sie sich schnell zu Recht finden sollte, um diese zu versorgen. In Chile war ihr diese Möglichkeit nach massiven Todesdrohungen verwehrt. Dass diese keine leeren Worte waren, war ihr schmerzhaft bewusst, spätestens seitdem ihr Mann Ende September 1973 von Militärs entführt und wenige Tage später exekutiert worden war. Der Mord an dem Arzt und Leiter des Krankenhauses der im Süden Chiles liegenden Stadt Temuco, wurde in einer Verlautbarung des Militärs als Fluchtversuch dargestellt. Sie erhielt jedoch nie Erklärungen zu den Todesumständen noch übergab man ihr oder den in Chile verbliebenen Angehörigen die sterblichen Überreste von Dr. Hernán Henríquez Aravena.

Dora de la Vega, aktiv in der Solidaritätsbewegung mit Lateinamerika, sprach mit Marcelo Henríquez Kries, dem Sohn des Ärzteehepaares, nachdem bekannt wurde, dass am letzten Mittwoch, den 22. Mai 2013 in Temuco 14 ehemalige Angehörige der Luftwaffe und Unternehmer der Region im Zuge der Ermittlungen zur Ermordung seines Vaters festgenommen wurden.

DdlV: Für Nicht-Chilenen ist nicht ohne Weiteres verständlich, warum die Justiz erst 40 Jahre später mit den Ermittlungen anfängt. Wenn ich die Presseberichte richtig verstanden habe, kommt es zum ersten Mal zu Inhaftierungen. Bedeutet das, dass bisher niemand rechtlich für dieses Verbrechen belangt worden ist?

MHK: Das ist leider richtig. Obwohl meine Mutter seit etwa 21 Jahren vier Klagen gegen Unbekannt(en) eingereicht hatte, waren die Verfahren bisher im Sand verlaufen. Es ist so, als ob ein Mantel des Schweigens und der Straflosigkeit in Chile weiterhin die Verbrechen gegen die Menschheit deckt. Täter und Nutznießer haben sich zu diesem Zweck ein Amnestie-Gesetz zurecht gelegt. Wenigen Fälle sind bis zur letzten Instanz durchgefochten worden, und selbst bei ihnen hat sich das chilenische Oberste Gericht in den vergangenen Jahren fast immer für die sogenannte halbe Verjährung ausgesprochen. So kamen viele von den Tätern ohne Haftstrafen davon. Die wenigen verurteilten Offiziere verbüßen ihre Strafe in einem Sondergefängnis mit weitreichenden Privilegien.

DdlV: Es sind genau die Privilegien, die diese soziale Schicht durch die strukturellen Veränderungen der sozialistischen Regierung Allendes bedroht gesehen haben. Für solche Veränderungen stand u.a. dein Vater als Leiter des Regionalkrankenhauses. Wie ist er zu dieser Stelle gekommen?

MHK: Nach dem Medizinstudium machte er seine Fachausbildung in Sozial-Medizin, übernahm danach die Verantwortung des stellvertretender Leiters des Krankenhauses in Temuco und kurz darauf, d.h. in Zeiten der Unidad Popular wurde er im Rahmen einer öffentlichen Ausschreibung für die Stelle des Direktors des öffentlichen Gesundheitsdienstes der Provinzen Malleco/Cautín ausgewählt, gleichzeitig arbeitete er weiterhin als Leiter des Krankenhauses Temuco.

DdlV: Ja, Marcelo, aber im Falle der Verfolgung deines Vaters und seiner Ermordung zeigt sich ein Hass, das weit darüber hinaus geht, dass er sich besonders stark für das öffentliche Gesundheitssystem engagierte, was auch schon an der Wahl seiner Facharztausbildung deutlich wird.

MHK: Das hängt damit zusammen, dass er gemeinsam mit einem interdisziplinären Team und im Rahmen des Gesundheitsplans der Regierung Allendes ein Programm zur Gesundheitsförderung der benachteiligten sozialen Gruppen erarbeitete, darunter auch das Volk der Mapuche, der größten Indigenen Gruppe in Chile. Es wurde ein interkulturelles Medizinprogramm erstellt, das die traditionelle Medizin dieses Volkes in die Vorsorge und Behandlung der Bevölkerung mit einbezog. Außerdem wurden Frauen und Männer der ländlichen Gebiete an der Gestaltung und Umsetzung der Gesundheitspolitik der Region eingebunden. Ein wichtiger Bestandteil dieses innovativen Programms bestand darin, Laien zu Gesundheits-Hilfskräften auszubilden, die auf der Basis dieses integrativen Medizinansatzes Primär-Grundversorgung gewährleisteten.

DdlV: Was meinst du mit integrativem Medizinansatz?

MHK: Es ging darum mit der ländlichen Bevölkerung im Süden Chiles, die ohnehin auf Grund der ungerechten Landverteilung unverändert die größten sozialen Ungleichheiten in Chile erleiden, eine umfassende Gesundheitsversorgung aufzubauen. Im Vordergrund stand dabei die Verwirklichung einer Gesundheitsvorsorge, die allerdings eine Verbesserung der gesamten Lebensbedingungen der Menschen voraussetzte. Daher wurden diese HelferInnen darin ausgebildet, die Landbevölkerung zu Themen wie den hygienischen Maßnahmen im Alltag, Impfprogrammen, Ernährung , u.ä aufzuklären. Gleichzeitig haben sie zur Verbesserung der sozialen Grundversorgungen (Wasser, Abwasser, Strom usw.) beigetragen und dafür mit dem Agrarministerium und den staatlichen Dienstleistungsunternehmen zusammengearbeitet. Dass diese ausgebildeten Medizinhelfer ihre Kenntnisse später in ihren eigenen ländlichen Gemeinschaften weitergeben sollten, versteht sich von selbst. Ich möchte noch hinzufüge, dass bis zum Militärputsch der erste dieser Kurse mit etwa 80 Teilnehmern mit Erfolg zu Ende geführt worden war, weitere waren angelaufen.

DdlV: Lief das Programm weiter? Was geschah nach dem Putsch?

MHK: Es wurde nicht nur sofort eingestellt, die Verantwortlichen und das ausgebildete Personal wurden nun verfolgt. Denn es war ein Symbol für Entwicklungen, die bestehende Machtsstrukturen in Frage gestellt hatten, daher war es den traditionellen Eliten, den mit ihnen verbündeten rechten Parteien und den putschenden Militärs Anlass genug, die Arbeit des gesamten Gesundheitsteams als subversiv abzustempeln. In den Monaten vor dem Militärputsch hatte das demokratisch gesinnte Gesundheitspersonal -auch jenes in Temuco – die Versorgung der Ärmsten, die sich keine Privatmedizin leisten können, aufrecht erhalten, trotz des massiven Boykotts des Ärztegremiums, und somit zur Destabilisierung der verfassungsmäßigen Regierung beitrug. Auch diese Entscheidung, wurde von den privilegierten Klassen als Schmach empfunden, die nach Rache schrie. Salvador Allende würdigte diese patriotischen Berufstätigen, die zum Erhalt der vielfältigsten wirtschaftlichen und sozialen Bereiche beitrugen in seiner letzten Rede am 11.September 1973.

DdlV: Was geschah, aber mit deinem Vater genau ab diesem so einschneidenden Zeitpunkt?

MHK: Er wurde wenige Tage nach dem Putsch in der lokalen Armeekaserne von Militärs verhaftet, nachdem er dort entsprechend eines per Radio ausgestrahlten Befehls vorstellig wurde. Zusammen mit einem weiteren Krankenhausmitarbeiter wurden sie geknebelt auf die Ladepritsche eines Armee-Pick-ups geworfen, um anschließend im Stadtzentrum Temucos zur Schau vorgeführt zu werden. Damit wurde die Bevölkerung, darunter Freunde und Familienangehörige meines Vaters eingeschüchtert. „Seht, dass erwartet euch wenn ihr euch (uns) widersetzt“! Nach einigen Tagen wurde er ohne Anklage aus dem Gefängnis entlassen, aber unter Hausarrest gestellt. Jegliche Kommunikation war verboten und gesperrt. Keinerlei Anschuldigungen wurden gegen ihn erhoben. Am späten Abend des 24. September war die kurze Phase des Aufatmens vorbei, schwer bewaffnete Militärpolizisten rissen ihn aus unserem Haus, bedrohten unsere Mutter und entführten ihn. In den folgenden Tagen versuchte sie sein Verbleib zu ermitteln. Anonyme Telefonanrufe, versuchten sie zu terrorisieren, in dem ihr die Folter und der sich schnell verschlimmernde Gesundheitszustand unseres Vaters beschrieben wurde.

DdlV: Das bedeutet, dass diese Kriminellen auch gegen deine Mutter psychische Gewalt ausgeübt haben. So wie ich sie kennengelernt habe, konnte man ihren Willen auch nicht dadurch brechen. Hatte sie damals immer noch die Hoffnung, deinen Vater lebend zu retten?

MHK: Klar, aber am 5. Oktober wurde eine Bekanntmachung der Militärs verbreitet, dass unser Vater bei einem angeblichen Fluchversuch unter Einsatz von Waffengewalt erschossen worden sei. Die Bemühungen unserer Mutter, beim zuständigen Militärstaatsanwalt sein Leichnam zu erhalten, waren erschütternd. Sie erhielt die lapidarische Antwort: „Die Feinde des Vaterlandes haben kein Anrecht auf ein Grab“. Dieses Schicksal galt auch fünf weiteren Mitarbeitern des Gesundheitsteams der Provinzen Malleco und Cautín.

DdlV: Was geschah dann mit Euch, mit deiner Mutter?

MHK: Nach mehreren Todesdrohungen, entschloss sie sich, uns in Sicherheit zu bringen. Wir vier waren damals zwischen 8 Jahren und 7 Monaten alt. Wir sind nach Santiago gefahren und meiner Mutter bekam Zuflucht in der deutsche Botschaft. Die Botschaften waren damals besonders massiv von den Repressionsapparaten überwacht.
Nach einigen Wochen wurden wir von dort nach Frankfurt am Main überführt. Hier erhielten wir politisches Asyl.

DdlV: Aber bevor du etwas darüber sagst, weißt du, wie und wann sie deinen Vater kennenlernte?

MHK:Meine Mutter verliebte sich in Hernán als sie mit 16 Jahren ihr Medizinstudium begann. Er befand sich damals in der Endphase seines Studiums. 4 Jahre später heirateten sie und im Verlauf ihrer Ehe kamen wir vier (Geschwister). Wir waren Grund und Ansporn für sie weiter zu leben und weiter zu kämpfen. Hernán war trotz seiner Verantwortung und seiner beruflichen und politischen Hingabe ein liebevoller Vater. Er war damals 36, meine Mutter 30 Jahre alt, beide voller Lebensfreude und vereint in der Gewissheit Teil eines gesellschaftlichen Umwälzungsprozess zu sein, der friedlich und auf demokratischem Weg zu erreichen sei. Wir Geschwister können jedoch auf Grund seines gewaltsamen Verschwindens und dem Schmerz um seinen Verlust bis zum heutigen Tag – fast 40 Jahre danach nur sehr schwer über ihn sprechen. Trotz dieser unaussprechlichen Gefühle fordern wir, die vollständige Aufklärung der an ihm und seinen Mitstreitern begangenen Verbrechen. Das Vorbild unseres Vaters und der unermüdliche Kampf unserer Mutter haben uns gelehrt, nicht zu resignieren. Uns reichen Ehrungen nicht aus, auch nicht dass seine Person mittlerweile als die gewürdigt wird, wofür sie steht: ein sozial und politisch engagierter Mensch, ein vorurteilsfrei handelnder Arzt, der seine Idealen bis zum Tode verteidigt hat und ihnen treu blieb.

DdlV: In diesen Tagen hat uns die Nachricht aus Chile erreicht, dass der Sonderermittler für Menschenrechtsverbrechen in der Region um Temuco, der Richter Alvaro Mesa im Verfahren gegen die Mörder deines Vaters wichtige Schritte zur Aufklärung eingeleitet hat. Die Anklage gegen inzwischen 15 Offiziere, Reserveoffiziere und Unteroffiziere der Luftwaffe, darunter einige Unternehmer der Region wurde nun vom Berufungsgericht aufrecht erhalten, d.h. Ihnen wurde keine Freiheit auf Kaution gewährt. Welche sind Eure Erwartungen nach vierzig Jahren?

MHK: Wir fordern Wahrheit, Aufklärung und Gerechtigkeit. Ohne diese fundamentalen Werte kann sich keine Gesellschaft entwickeln. Eine in der es selbstverständlich sein muss, sich für die Wiederherstellung der in den vergangenen 4 Jahrzehnten beraubten Rechte einzusetzen, die zur Disposition der wirtschaftlichen Verwertung standen und verkümmert sind. Die in Chile in jüngster Zeit wiederholten Todesdrohungen und Gewaltaufrufe gegen Repräsentanten der sozialen Bewegungen, die auch über die sozialen Netzwerke verbreitet wurden, zeigen, dass diejenigen die nicht bereit sind eines Tages unter Gleichen zu leben, sich bis heute auf die Straflosigkeit der schlimmsten Menschenrechtsverbrechen der jüngeren Geschichte Chiles verlassen können und bereit sind, diese zu wiederholen. Dies zu verhindern, die sozialen Proteste zu stärken und ihre exponiertesten Vertreter zu schützen ist eine Aufgabe, die ohne die juristische Aufarbeitung der Straftaten der chilenischen Militärdiktatur nicht möglich ist , weil sie droht gleich einer nicht endenden Sisyphusarbeit immer wieder in Blut ertränkt zu werden.
**************

image_print