Vermutungen über Kampf

von Lorenz Glatz

Um 1980 hatte ich viel Kontakt mit dem langjährigen Arbeiterbetriebsratsobmann einer Firma des damaligen KP-Imperiums. In seiner kämpferischen Entschlossenheit und Uneigennützigkeit war er ein „harter Hund“. Einen Genossen hat er mitten im Gespräch aus seinem Auto gejagt, weil der laut von einem guten Posten träumte, wenn die Partei einmal ans Ruder käme. Seine Vorstellung von Revolution hat auch nicht in die KP gepasst. Sie hat ihn dann auch als „Sektierer“ rausgeworfen, als Betriebsrat losgeworden ist sie ihn aber nie.

Von allem, was er mit mir gesprochen hat, haben sich zwei Episoden in besonderer Weise in meinem Gedächtnis verhakt – weil sie verstörend quer zu seinen sonstigen Anschauungen gelegen sind:

Einmal hatte ihn ein Direktor dabei ertappt, wie er für einige Kollegen, die schon vor ein, zwei Stunden heimgegangen waren, nachträglich „ausgestochen“ hatte. Das „verlängerte“ deren bezahlte Arbeitszeit – und war ein aufgelegter Grund für die „Fristlose“ (Entlassung) für den ungeliebten Betriebsrat. Der Direktor hat das „übersehen“. – Ich hätte ein paar Gründe dafür parat gehabt und auch erwartet, nur den meines Mentors nicht: „Innerlich war der ja für uns“.

Das Zweite war ein Gespräch über den Bürgerkrieg in Russland und den Sieg der Roten Garden. „Eigentlich“ – sinnierte der Deserteur aus Stalingrad, der in Wien in der Illegalität des schwachen Widerstands als „Fisch ohne Wasser“ überdauert hatte – „hätte man die auch erschießen müssen, weil: mit solchen Leuten kannst keine neue Gesellschaft machen“.

Ein Klassenfeind bekommt Beißhemmung, ja handelt aus Sympathie gegen sein Klasseninteresse. Und: Die Helden der Revolution disqualifizieren sich durch Kampf und Sieg, also genau durch das, was sie zu Helden macht, dafür, das zu erreichen, was ihr Kampfziel war. Vor allem das Zweitere ging ans Eingemachte.

Vom Ursprung des Wortes

Wörter, die grundlegende Verhältnisse einer gesellschaftlichen Ordnung bezeichnen, werden häufig auf gewissermaßen benachbarte Verhalte übertragen. Zugleich werden diese nach jenen Verhältnissen umgestaltet. Mit Benennung und Umgestaltung ist es dabei wie mit der Henne und dem Ei. Ein Beispiel dafür ist „Arbeit“, ein Wort, das nach dem Vorbild der knechtlich-unfreien Tätigkeit eines unversorgten Waisenkinds heute jedes einigermaßen ernsthafte Tun bezeichnen kann.

Ein anderes Beispiel ist „Kampf“, ursprünglich die Bezeichnung dessen, was zwei Männer oder Heere sich und einander antun, wenn sie „in campo“, zu deutsch: „im Felde“ stehen. In dem der Ehre nämlich, wo Mann tötet oder stirbt, versklavt oder selber Sklave wird. Was hier mit Fremden, Feinden getan wurde, man sich mit ihnen antat, musste zu Hause tüchtig geübt werden – z.B. auf dem „campus“ Martius, dem Marsfeld vor den Mauern Roms und auf ähnlichen Plätzen allüberall, wo der Umgang mit den Fremden an den Freunden geübt wurde und diese „Leibesübung“ vielerorts als die wichtigste und ehrenvollste Beschäftigung heranwachsender freier Männer galt. Sie gab mit „Kampf“ denn auch das sprachliche Bild ab für fast jede anstrengende Aktivität, mit der vor allem von anderen Menschen bereitete Schwierigkeiten zu überwinden waren. Meist in der Form von mehr oder minder geregelter Konkurrenz, von den Kinderspielen bis zum täglichen Umgang erwachsener Menschen miteinander.

Ähnlich übrigens verhält es sich mit „debattieren“ (beim Fechten schlagen) und „diskutieren“ (zerschlagen, zertrümmern; (eine Versammlung) auseinandertreiben), mit Wörtern, die Gewalt und Krieg in Gespräch und Erörterung gewissermaßen „hinein-erkennen“ und diese so zu einem Machtkampf mit Sieg und Niederlage formatieren. Dieser Prozess läuft durch alle Gesellschaftsordnungen seit der Etablierung von Herrschaft ab und erreicht in der gegenwärtigen den bisherigen Höhepunkt.

Kampf frisst Menschlichkeit

Menschliche Kooperationsfähigkeit und -willigkeit beruht auf unserer Fähigkeit zu, ja unserem Ausgesetztsein für Empathie und Sympathie, für das Einfühlen in den und das Zuneigen zum andern, auf unserer Potenz und Aufgeschlossenheit, im andern unsresgleichen zu erleben und zu mögen. Es hat Jahrtausende von Zurichtung durch Herrschaft gebraucht, bis eine Formulierung wie „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“ für eine anthropologische Weisheit gelten konnte. Bis dahin war auch der „Grenzfall des Menschen“ – der mir Fremde, der mir durch keine soziale Bindung Bekannte – zumindest doppeldeutig, er konnte Gast oder Feind (lat. hostis aus derselben Wurzel wie dt. Gast) werden. Nun aber ist jeder Mit-Mensch grundsätzlich nicht mehr als solcher, sondern als gefährlicher Wolf an-zuerkennen.
Kampf ist wie Arbeit keine anthropologische Konstante, sondern historische Form spezifischer menschlicher Aktivität. Auf dem Grund der Geschichte des Kampfes liegt die Institution der Herrschaft. Kampf etabliert Herrschaft, stürzt sie, um eine neue zu errichten, sichert sie ab.
Kampf produziert Ermordete und Überlebende, Verlierer und Sieger, Unterdrückte und Herrscher. Kampf infiziert die Seele der Kämpfer mit Kälte und Wut. Die bringen sie heim vom Feld der Ehre. Sie fressen sich durch Empathie und Sympathie, entsichern die Menschen damit Stück um Stück – ob Loser oder Winner – , und mehren die Dyspathie, die in einem Wort zugleich schweres Leid und die Unfähigkeit, es zu empfinden, bedeutet.
Kampfmoral erfasst Schritt um Schritt auch Teil um Teil des friedlichen Alltags, der „ehrlichen Arbeit“; sie schafft die und dient den sich entwickelnden Prinzipien und Strukturen der Herrschaft. Diese sind von individueller Willkür unabhängig, sie binden auch die Herren. Neue Sieger übernehmen sie als Erbteil, dessen man sich nicht entschlagen kann, als Erbschuld von den besiegten Herren. Wo Herrschaft wirkt, ist Kampf unvermeidlich. Wo man kämpft, wird Herrschaft affirmiert.
In einem Moment des Showdowns sagt in der vielleicht bemerkenswertesten Szene der ersten Star-Wars-Trilogie der böse Imperator zur Lichtgestalt Luke Skywalker: Take your weapon! Strike me down with all your hatred, and your journey towards the Dark Side will be complete. (Nimm deine Waffe, strecke mich nieder mit all deinem Hass, und du hast deinen Weg zur Dunklen Seite der Macht beendet.) – Das Böse siegt auch im Sieg der Guten neu.

„Sünden“ der Geschichte

„Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“ So beginnt das erste Kapitel des „Manifests der Kommunistischen Partei“. Auch zeitgenössische, bürgerliche Historiker wie Guizot und Mignet haben Ähnliches formuliert. Und dass Gewalt der „Geburtshelfer der Geschichte“ sei, ist ein weit über marxistische Kreise hinaus gern verwendetes Diktum, das immer Marx zugeschrieben wird, der wörtlich vom „Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht“, spricht (MEW 23, S. 779). Dass die Gewalt hier gegen das grammatische und das natürliche Geschlecht der allermeisten GeburtshelferInnen maskulin personifiziert wird, passt wohl gut zu Vorgang und Ergebnis der geschichtlichen Umwälzungen. Die geschriebene Geschichte ist durch alle Gesellschaftsformen hindurch eine der patriarchalen Dominanz.

Mythen unserer Weltgegend erzählen den Ursprung dieser Durchsetzungsform unter den Menschen noch als sündhaften Brudermord, z.B. Seths an Osiris, Kains an Abel oder des Romulus an Remus. In der liberalen und sozialistischen Geschichtsschreibung aber gelten Kampf und Erkämpftes seit gut zweihundert Jahren nicht nur nicht als Urverbrechen, sondern grosso modo als der Gang des Fortschritts und der Befreiung. Inzwischen werden fast alle Kriege nicht nur der „hochentwickelten“ Länder ausschließlich für Freiheit und Fortschritt, Durchsetzung der Menschenrechte, als Revolutionen oder Unterstützung von Revolutionen geführt. Diese selbst haben ihren Platz im Zentrum dieser Sicht von Geschichte. Auch die sozialistische, die das Ende aller sozialen Unterdrückung, Gewalt und Herrschaft, die wahre Verwirklichung von liberté, egalité, fraternité als ihr Ziel propagiert.

Der Weg des Kampfs führt aber zu dem ihm eingeschriebenen Ziel – zur Herrschaft in immer wieder neuen Formen. Die Vorstellung, dass Kampf am Ende seiner historischen Entwicklung die grundlegenden gesellschaftlichen Verhältnisse, deren Teil er ist, abschaffen könnte, führt am Ende in die genannte Aporie, dass es zuletzt der Kampf für die neue Welt ist, der die Kämpfer traumatisiert, schädigt, ja unfähig macht für das neue Leben.

Der Mensch ist nicht einfach ein animal rationale. Unser Leben, unsere Erkenntnis und unser Handeln sind mitgeprägt von Begehren, Lust und Leid unseres Lebenslaufes, nicht allein, nicht einmal überwiegend von dem, was wir zu Lebzeiten ein- und ausrichten, sondern ganz wesentlich von den zu Sitten, Gewohnheiten und Einrichtungen geronnenen Lernprozessen, Erfahrungen, Erlebnissen, Kämpfen und Traumata früherer Generationen, von überkommenen über- und unpersönlichen Strukturen und davon, wie uns das alles zugerichtet hat. Schlimmer jedenfalls, als wir es zu erinnern wagen. Die „Sünden“ der Geschichte wirken wahrscheinlich weit länger als „bis ins dritte und vierte Glied“, wie es in der Bibel heißt. In uns wirken Tradition und Traumata von Jahrtausenden.

Kampf und Kooperation

Keineswegs jedoch ist jeder Streit schon ein Kampf im dargelegten Sinne des Wortes. Nicht einmal jede Gewaltanwendung. Die Individuen und ihre Gruppen sind nicht kongruent. Gesellschaft, Gemeinschaft ist das, was „gemein gemacht“, kommuniziert, in einem Prozess der Auseinandersetzung als gemeinsam akzeptiert und behandelt worden ist und laufend wird. Sie stellt sich mit jedem solchen Schritt und Akt auf Neue her. Wo dieser Prozess zwischen einzelnen oder zwischen Gruppen aktuell über Gegensätzlichkeiten und Streitigkeiten führt, kann er dank Empathie und Sympathie in Versöhnung und Einigkeit münden, auf sie hingeführt werden. Wäre das nicht der grundlegende Vorgang, gäbe es keine Kooperation, könnte die Menschheit nicht bestehen.

Kampf auf Sieg und Niederlage, gar: „the winner takes it all“ ist „nach außen“ Krieg konkurrierender Herrschaften und „nach innen“ – in Grenzen also, wo die Herrschaftsfrage geregelt ist – Politik (auch in den freiesten Demokratien).

Diese beiden Vorgangsweisen, Einigung und Kampf, liegen allerdings nicht auf einer Ebene, sind keine Alternativen. Der Weg der Einigung und Kooperation ist die Basis menschlicher Gesellschaftlichkeit überhaupt. Auch die Institution von Herrschaft und der Kampf als wesentliche Form ihrer Durchsetzung und Sicherung beruht auf jener Kooperation und Einigung. Sie ist eine spezifische, gewaltsame, grundsätzlich instabile, rücksichtslose und konfliktive Formung, Beschränkung, Zersplitterung und zugleich doch eine effektive Kanalisierung unserer Kooperation. Herrschaft und Kampf haben sich – angetrieben von den durch sie aufgerissenen Widersprüchen in der Gesellschaft – zu immer neuen und weiter entwickelten Varianten gewandelt. Sie haben dabei ganz wesentlich das geprägt, was heute als Fortschritt geläufige Anschauung ist und angebetet wird – und nunmehr dabei ist, sich als drohende Menschheitskatastrophe zu entpuppen.

Eine Lebensweise kann nur verlernt werden

Die wesentliche Sicherung der Herrschaft sind die Menschen, die sich in ihr eingerichtet, wenigstens mit ihr in alltäglicher Praxis abgefunden haben. In ihrer aktuellen, weitgehend depersonalisierten und ungemein flexiblen Form ist sie eine Lebensweise, die wir buchstäblich ab ovo, vom Mutterleib an gelernt haben. Sie steckt in allem, in unserem Denken, im Fühlen, in unseren Wünschen, Erwartungen und selbst in unseren Vorstellungen davon, wie wir sie ändern könnten – sie ist uns in „Fleisch und Blut“, „in Leib und Seele“ übergegangen.

Was in der Gesellschaft also von Zeit zu Zeit massenhaft als Unterdrückung und Unrecht bewusst wird und empört, ist daher meist und zunächst immer nicht die Grundstruktur der Herrschaft, sondern das Versagen ihrer aktuellen Form. Für deren Re-Formierung, so zahm oder radikal sie auch auftreten mag, legt einem die allgemein akzeptierte Konkurrenz-Verfassung der Gesellschaft das Mittel in die Hand: politischen Kampf, sei es in staatlich regulierten Bahnen, sei es eskaliert zu (Bürger-)Krieg und Umsturz. Bloß: Eine „neue Gesellschaft“ jenseits der Katastrophen von Kampf und Herrschaft kommt davon so wenig, wie man mit Wasser Feuer macht. Auch hier gilt Einsteins gern zitierter Spruch: „Probleme kann man niemals durch die gleiche Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“

Dem Kampf zu entkommen ist in der aktuellen kapitalistischen Gesellschaft, die Konkurrenz auch in ihrem Inneren nicht bloß zu einer unausweichlichen Naturerscheinung, sondern zu einem heiligen Prinzip erklärt hat, schier unmöglich. Kampf und Konkurrenz und Freundschaften, die auf gemeinsamen Feinden beruhen, gehören zu den Essentials dessen, was eins zu lernen hat und lernt in dieser Lebensweise – und was den Weg heraus aus ihr so schwierig macht. Nur das Personal der Herrschaft kann gestürzt werden, sie selber ist ein Phönix, sie ersteht neu aus dem Flammen des Kampfs. Eine Lebensweise kann nur verlernt werden, indem eine neue er-lebt wird.

Der soziale Raum enthält die Ordnung der sozialen Reproduktionsverhältnisse, also die Beziehungen zwischen den Geschlechtern und den Altersstufen und die Organisation der Familie, und die Ordnung der Produktionsverhältnisse, das heißt die Aufteilung und Organisation der Arbeit und die hierarchisierten sozialen Funktionen (H. Lefebrve). Wenn die Menschen in ihm von diesen Ordnungen einigermaßen lückenlos kontrolliert werden und ihrer Logik verfallen sind, lasst alle Hoffnung fahren. Wahrscheinlich aber kommt ein solcher Eindruck bei manchen oppositionell gesinnten Leuten vor allem daher, dass sie in diesem Raum still sitzen und über die Blödheit der Leute räsonnieren oder im Kreis laufen und Kampf spielen, weil sie sonst ganz verzweifeln müssten.

Wir bewegen uns in einer fundamentalen Krise unserer Lebensweise. Die herrschaftliche Verwaltung wird brutaler, aber unsicherer. Wer Gewalt leidet, kann zu weniger Akzeptanz derselben neigen. – Wer also aus den Verhältnissen raus will, versammle sich an deren Rissen, nicht dort, wo sie intakt sind, versuche die Spalten zu erweitern, statt über ihre Kleinheit zu jammern. Und wer die Macht und Logik der gesellschaftlichen Ordnungsmächte kennt, lasse sich tunlichst nicht auf deren Umgang ein: den Kampf und die Gewalt; bewege sich dort, wo die Hürden jeweils übersteigbar sind, wo kein Bedarf nach Helden ist. Die legendäre soziale Bewegung, die das wirklich Alte im Sturmschritt beseitigt, gibt es nicht, höchstens eine, auf der die nächste Form von Herrschaft reitet.

Wir brauchen Zeit und Raum. Herrschaft und Kampf haben uns fünftausend Jahre voraus. Sie stecken in uns und zwischen uns und sind nicht auf die Schnelle abzulegen. Sie sind Stück um Stück abzuwickeln mit den Fähigkeiten, mit denen wir sie bis jetzt aufrecht halten: mit Empathie, Sympathie und unserer darauf fußenden Kooperation. Sie sind neu, der Menschheit würdig zu gestalten. Ohne Kampf und Konkurrenz.

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