Crowdsourcing und Cloudworking: Schöne neue Arbeitswelt

Wie die Technologien des Web 2.0 unser Arbeitsleben grundlegend umkrempeln werden

von Tomasz Konicz

(zuerst erschienen in Telepolis 13.8.2012)

Der Menschheit ergeht es unterm Kapital wie dem berühmten Zauberlehrling, der die Geister nicht mehr kontrollieren konnte, die er herbeirief. Sind sie erst einmal im Prozess der Kapitalverwertung voll inkorporiert, scheinen sich seine größten Errungenschaften und Erfindungen gegen den Menschen zu wenden, zu einer feindlichen und unüberwindlichen Macht anzuwachsen, die durch marktvermittelte objektive „Sachzwänge“ allen Lohnabhängigen das Leben zur Hölle machen.

Diese konstitutive Tendenz kapitalistischer Herrschaft – auf deren Fundament die bürgerlichen Ideologien des Kulturpessimismus und der Fortschrittsfeindlichkeit blühen – charakterisierte auch die widersprüchliche Entwicklung des Internets, das einerseits einen ungeheuren Schub der Globalisierung und Rationalisierung kapitalistischer Warenproduktion beförderte, aber andrerseits seiner inhärenten Struktur nach das Kapitalverhältnis bereits zu transzendieren schien: Nichts ist augenscheinlich absurder und widersinniger, als innerhalb der Weiten des World Wide Web die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse durchsetzen zu wollen. Der Windmühlenkampf der Politik und Kulturindustrie um die Durchsetzung des „Copyright“ kann nur unter sukzessiver Verstümmelung des freien Informationsflusses im Netz fortgesetzt werden – und er bildete einen wichtigen Impuls bei der Formierung der europäischen „Piratenparteien“.

Abseits der Sphäre der digitalen und immateriellen Güter hat aber schon der Vernetzungsschub des Internet 1.0 (das primär die passive Nutzung der neuen Informations- und Kommunikationskanäle ermöglichte) die ungeheure Dynamik der Globalisierung der kapitalistischen Warenproduktion überhaupt erst technisch ermöglicht, bei der globale Produktionsketten in einem zuvor ungekannten Ausmaß aufgebaut und tatsächlich erfolgreich koordiniert werden konnten. Die damit einhergehenden Rationalisierungsschübe ließen eine verstärkte globale Verdrängungskonkurrenz in den meisten Industriezweigen um sich greifen, mit der im Rahmen der neoliberalen Offensive der vergangenen Jahrzehnte bereits eine umfassende Umwandlung des Arbeitslebens und eine Verstärkung des Leistungsdrucks einhergingen.

Mittels umfassender Flexibilisierung der Arbeitsabläufe, einer Dezentralisierung der Produktion, der Abschmelzung der Kernbelegschaften und dem korrespondierenden Aufbau einer Klasse prekarisierter Tagelöhner reagierten etwa viele deutsche Konzerne durchaus erfolgreich auf die zunehmende Verdrängungskonkurrenz auf den Weltmarkt. Gesamtgesellschaftlich eingebettet ist die erste Phase dieser webbasierenden Umwandlung des Arbeitslebens in die neoliberal verbrämte totale Mobilisierung der Gesellschaft anhand der Wirtschaftsinteressen – alle Ressourcen und Gesellschaftsbereiche der als „Leistungsgemeinschaft“ ideologisierten Nation sollen im Rahmen dieses totalitären Ökonomismus in den Dienst an der Front der zunehmenden Weltmarkt- und Standortkonkurrenz gezwungen werden.

Dennoch blieben die grundlegenden Strukturen des Arbeitslebens weitgehend unangetastet. Die überwiegende Mehrheit der Lohnabhängigen macht sich immer noch jeden Morgen auf den Weg an ihren physisch tatsächlich gegebenen Arbeitsplatz, der sich in einem Betrieb, einem Bürokomplex oder einer sonstigen Institution befindet, die jenseits der Wohnung liegen. Die Trennung zwischen der Privatsphäre des Lohnabhängigen und dem Arbeitsleben blieb gesamtgesellschaftlich betrachtet größtenteils bestehen. Zudem dominieren allen Prekarisierungswellen zum Trotz immer noch abhängige Beschäftigungsverhältnisse die Arbeitswelt im heutigen Spätkapitalismus.

Selbst in der rasch anschwellenden Zeitarbeitsbranche, die besonders in Deutschland schnell wuchs, handelt es sich um eben solche mit Arbeitsverträgen kodifizierten Formen abhängiger Lohnarbeit. Lohnarbeit wird auch im krisengeschütteltem Kapitalismus immer noch überwiegend an Arbeitsplätzen außerhalb der Privatsphäre verrichtet, wie es seit der Durchsetzung der Industrialisierung der Fall ist. All dies dürfte aber künftig zur Disposition stehen, denn die kommenden Umbrüche könnten die bisherigen Rationalisierungs- und Globalisierungsschübe zu einem bloßen Prolog degradieren.

IBM als Vorreiter der webbasierenden Prekarisierung

Wohin die Entwicklung tendiert, zeigte IBM-Personalchef Tim Ringo in einem unachtsamen Moment im April 2010 auf, als er im Gespräch mit der Fachzeitschrift „Personnel Today“ eine Reduzierung der fest angestellten Stammbelegschaft des IT-Riesen von knapp 400 000 auf weltweit nur noch 100 000 Angestellte bis 2017 diskutierte, die unter Anwendung der webbasierenden Rationalisierungsstrategie des Crowdsourcing vollführt werden könnte: „Es gäbe keine Gebäudekosten, keine Renten und keine Kosten für das Gesundheitswesen, was enorme Einsparungen bedeutet“, so Ringo begeistert.

Bei diesem Crowdsourcing wird eine ursprünglich innerhalb des Unternehmens vollführte Tätigkeit ausgelagert und an eine Gruppe (Crowd) von prekären Lohnabhängigen oder Kleinstbetrieben ausgelagert, die diese Tätigkeit dann projektbezogen und in Konkurrenz zueinander verrichten, sobald die Unternehmensleitung diese ausschreibt (im Kapitaljargon als „call“, als Aufruf, bezeichnet). Ringo machte in dem Interview auch klar, dass die rund 300.000 in den Planungen zum Abschuss freigegebenen IBM-Angestellten eigentlich „nicht gefeuert“ würden, da man sie hiernach als „Auftragsnehmer“ weiterbeschäftigen würde: „Ich denke, Crowdsourcing ist sehr wichtig, du hast einen Kern von festen Angestellten, aber die große Mehrheit wird ausgelagert.“ Selbstverständlich wurde dieser allzu offenherzige Vorstoß des Personalmanagers von der Konzernführung im April 2010 umgehend dementiert. Und selbstverständlich geht IBM nun daran, mit ersten Flexibilisierungsoffensiven eben dieses Konzept umzusetzen.

Anfang Februar versetzten Pressemeldungen über geplante massive Stellenstreichungen bei IBM-Deutschland die Belegschaft des IT-Unternehmens in helle Aufregung. Bis zu 8.000 der rund 20.000 in Deutschland angestellten IBM-Mitarbeiter würden in den nächsten Jahren ihren Arbeitsplatz verlieren, ließen Spitzenmanager gegenüber dem Handelsblatt durchsickern.

Die Konzernleitung hüllte sich bezüglich des anstehenden Kahlschlags einen geschlagenen Monat in Schweigen, bis IBM-Deutschland-Chefin Martina Koederitz sich am 1. März zu einem lustlosen Dementi durchrang. Die Meldungen über den Personalkahlschlag seien „spekulativ“, das Unternehmen plane „im Moment“ keine Massenentlassungen. Am 30. März folgte das Dementi des Dementis, als Koederitz, angesprochen auf den Stellenabbau im Gespräch mit den VDI Nachrichten darauf insistierte, auch künftig „neue Technologien zu erproben“, die die „Arbeitsumgebung auch in Zukunft intelligenter, smarter und flexibler gestalten“. IBM habe etwa schon in den 1980er Jahren angefangen, „Heimarbeitsplätze zu entwickeln“, betonte die IBM-Chefin.

Tatsächlich pflegt die Führungskaste des Hochtechnologie-Konzerns ein elitäres Selbstbild, bei dem IBM als ein Schrittmacher neuer Business-Strategien und Arbeitsstrukturen firmiert, die dann von der gesamten Branche übernommen würden. Diese Ideologie der permanenten Innovation, bei der sich IBM immer wieder „neu erfinden“ müsse, gründet in der erfolgreichen Transformation des Unternehmens von einem Hardware-Hersteller zu einem hochprofitablen Software- und Dienstleistungskonzern. „Big Blue“ gilt in dieser Hinsicht in der Branche als Vorbild: Gerade ist etwa der krisengeplagte Hardwarekonzern HP bemüht, mittels einer massiven Entlassungswelle eine ähnliche Transformation wie IBM zu vollführen.

Das Damoklesschwert der Massenentlassungen schwebt also weiter über der deutschen IBM-Belegschaft, für die Koederitz nicht einmal die genaue Mitarbeiterzahl angeben will, da dies angeblich angesichts der hochgradigen globalen Verflechtung des Konzerns kaum noch möglich sei. Der Hinweis der deutschen IBM-Chefin auf die „Heimarbeitsplätze“, an deren Entwicklung IBM federführend beteiligt gewesen ist, bietet auch einen Ausblick auf die Zukunft der derzeitigen Belegschaft, sollte sich die Konzernführung durchsetzen. Die neuesten Webtechniken sollen hierbei eine Klasse prekarisierter Tagelöhner hervorbringen, deren Wohn- und Arbeitsplätze verschmelzen würden.

Die Verflüssigung des Arbeitslebens

Das von der Konzernführung „Liquid“ getaufte Organisationsmodell sieht eine massive Flexibilisierung der Arbeitsabläufe und deren „flüchtigere Organisation“ vor, die durch die Auslagerung von Tätigkeitsfeldern an externe Dienstleister und insbesondere an freie Mitarbeiter bewerkstelligt werden soll. Die Masse betriebswirtschaftlich verwerteter Arbeitskraft – wie auch der hierfür notwendigen Arbeitskräfte – soll so einer Flüssigkeit gleich nahezu friktionslos den Erfordernissen des Konzerns angepasst werden können. Das Liquid-Konzept stellt somit die Perfektionierung des neoliberalen Wunschtraums vom „atmenden Unternehmen“ dar, das Lohnarbeiter nach Gutdünken heuern und feuern kann.

Das Neuartige an diesem Konzept besteht darin, dass nun Organisationsstrukturen des Internets massiv auf die Arbeitsabläufe in der IT-Branche übertragen werden sollen. Das Internet scheint aus der digitalen Sphäre herauszutreten und sich in der Realität des Arbeitslebens in dessen Strukturen zu „materialisieren“. Das Internet 2.0 ist durch die Aktivität der Netzteilnehmer geprägt, der „Schwarm“ gilt als dessen zentraler Akteur, das „soziale Netzwerk“ bildet dessen grundlegende Kommunikationsplattform, die Cloud (Datenwolke) gilt als dessen zentrales Strukturmerkmal. Und genau diese Charakteristika des Web 2.0 – der „Schwarm“, das soziale Netzwerk und die Cloud – sollen auf die Arbeitswelt übertragen werden.

Um die Ausmaße der drohenden Prekarisierungswelle voll zu erfassen, muss hier nochmals der fundamentale Unterschied zu den Umstrukturierungsschüben im Gefolge der Inwertsetzung der Techniken des „passiven“ Internet 1.0 betont werden. Das Internet 1.0 spielte bei den bisherigen Globalisierungsschüben größtenteils eine strukturell passive Rolle, weil es nur die bestehenden Strukturen der Betriebsorganisation quantitativ modifizierte und erweiterte: Es ermöglichte eine größere Reichweite betriebswirtschaftlicher Organisation, eine Beschleunigung des Verwertungsprozesses, größere Effizienzgewinne oder Einsparpotenziale …

Das Web 2.0 wird hingegen aktiv zu der strukturellen Auflösung und Zerfaserung der gegebenen betriebswirtschaftlichen Strukturen beitragen, wie es bereits an IBMs Liquid-Konzept absehbar ist. „Big Blue“ will künftig viele Softwareprojekte auf eigens eingerichteten Internetportalen (Liquid Portal) ausschreiben, bei denen zertifizierte freie Softwareentwickler sich anmelden können, um sich für die jeweils von IBM ausgeschriebenen Projekte zu „bewerben“. Auf diesen „Projektbörsen“ – die eine Art eBay der Lohnarbeit darstellen werden – dürfen auch die derzeit noch fest angestellten IBM-Mitarbeiter um neue Aufträge „mitbieten“.

Dies wird von der sogenannten „Liquid Community“ bereits seit einiger Zeit im Unternehmen im kleinen Maßstab praktiziert, sodass IBM bereits erste Erfahrungen mit Crowdsourcing intern sammeln konnte. Hierbei handelt es sich um rund 7.000 IBM-Mitarbeiter mit freien Zeitkonten, die sich in diese „neue Arbeitsweise exakt eingefügt“ hätten, wie IBM-Vizepräsident Patrick Howard im August 2011 schwärmte: „Wir schaffen 30 Prozent schnellere Auslieferung, 20 Prozent höhere Qualität, (…) und haben dabei in 30 Monaten die Kosten um 33 Prozent gesenkt.“ Sollte diese massive Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeitsorganisation erfolgreich sein, wird das bereits in Ansätzen zu Anwendung gelangende Liquid-Konzept konzernweit voll umgesetzt werden.

Bei dem „externen“ Crowdsourcing soll das auf projektbezogene Jobvermittlung spezialisierte Internetportal Top-Coder zum Zuge kommen, bei dem sich global bereits knapp 400 000 freie Programmierer als Nutzer angemeldet haben. Hierbei erstellt der betreffende Programmierer ein Profil seiner Fähigkeiten, wie auch auf anderen Online-Plattformen, um dann an dem allgemeinen Konkurrenzkampf um Aufträge teilnehmen zu können. IBM wird somit in einem ersten Schritt beim Top-Coder-Portal bestimmte Ausschreibungen platzieren, das im Firmenjargon als „Liquid Ressource“ bezeichnet wird. Das entsprechende Portal gleicht somit Facebook, nur dass hier die von IBM zertifizierten Fähigkeiten der Beschäftigten und deren frühere Leistungsbewertungen eingesehen werden können.

Perspektivisch will IBM diese Art des webgestützten Tagelöhnertums in der gesamten Branche popularisieren, indem die entsprechenden Portale auch selbst aufgebaut und anderen Unternehmen zur Nutzung angeboten werden sollen – gegen eine Gebühr, die zur weiteren Einahmequelle wird. Der künftige IBM-Projektleiter aus der Kernbelegschaft könnte diesen Vorstellungen gemäß künftig auf etlichen Jobportalen sich seine freien Mitarbeiter aus verschiedenen Portalen für ein Projekt einfach „zusammenklicken“ – ganz so, wie wir uns derzeit Favoritenlisten oder Einkaufslisten auf Internetportalen zusammenstellen.

Jobportale wie Top-Coder oder Twago stellen somit eine Art pervertiertes soziales Netzwerk dar, auf dem die prekarisierten Lohnabhängigen ihre Ware Arbeitskraft feilbieten müssen – und deren einzige Kommunikationsform die gnadenlose Konkurrenz untereinander bildet. Im Idealfall sollen die an die Portale gerichteten „Calls“ (die Projektaufträge) der IT-Konzerne „offen“ sein. Dies bedeutet, dass jeder auf dem Portal gemeldete Programmierer an der Realisierung des Projekts teilnehmen kann und nur die beste Lösung auch entlohn wird. Die Konsequenzen dieser Form des „Crowdsourcing“ schilderte die Verdi-Betriebszeitung bei IBM: „Das ist für den Aufgabensteller – hier die IBM – besonders lukrativ, denn der kann aus den fertigen angebotenen Lösungen genau die aussuchen, die ihm am besten gefällt und am billigsten ist. Natürlich wird nur diese eine fertige Lösung bezahlt. Vielleicht kriegt noch der Zweitplatzierte etwas, aber die anderen gehen leer aus. Sie haben dann umsonst gearbeitet.“

Arbeiten in der Cloud

Das soziale Netzwerk – von den Medien spätestens seit dem Ausbruch des „arabischen Frühlings“ als das Mittel menschlicher Emanzipation schlechthin idealisiert – wandelt sich bei Einverleibung in den Verwertungsprozess zu einem buchstäblich „Asozialen Netzwerk“, das Konkurrenz und Ausbeutung auf eine neue Stufe stellt. In einer furchtbaren Ironie wird so das soziale Netzwerk dazu missbraucht, die konkurrenzvermittelte Vereinzelung der lohnabhängigen Monaden auf die Spitze zu treiben, deren Wohnung somit auch zum Arbeitsplatz würde.

Inzwischen macht das Schlagwort des „Cloud Working“ in der Branche die Runde, um aus betriebswirtschaftlicher Perspektive die Möglichleiten des Web 2.0 auf den Begriff zu bringen. Mit dem IT-Begriff der „Cloud“ (Wolke) werden die Daten, Programme und Dienstleistungen bezeichnet, die ein Benutzer in dem Internet aufbewahrt – etwa durch webgestützte E-Mail-Clients, soziale Netzwerke, Videoportale, Foto- und Musikdienste, usw. Nahezu jeder von uns hinterlässt solch eine Wolke von persönlichen Daten im Internet. Die in asozialen Netzwerken der Lohnarbeit gegeneinander konkurrierenden Menschen sollen im Idealfall Teil einer „Wolke“ aus lebendiger Arbeitskraft werden, die um die Kernbelegschaft eines Konzerns konjunkturabhängig fluktuiert. Diese menschliche Wolke, diese „Human Cloud“ von freien Mitarbeitern, bleibt nur noch vermittels der Subunternehmen, Jobportale und der entsprechenden Zertifizierungen an dem Unternehmen „angedockt“.

Mit diesem Prozess geht auch eine regelrechte Zerfaserung der Unternehmensstrukturen einher, die aufgrund einer Vielzahl von Subunternehmen, Dienstleistern und Jobportalen im Konzernumfeld an Eindeutigkeit und Kontur verlieren. Künftig sollen somit möglichst viele Arbeitsabläufe in Form von „offenen Calls“ auf Projektbasis an diese Tagelöhner in der „Human Cloud“ ausgeschrieben werden, die sich wie ein „Schwarm“ auf diese Calls stürzen und in Konkurrenz zueinander dem Konzern ihre Lösungen anbieten, von denen dieser die besten auswählen kann. Hier würde ein „Schwarm des Kapitals“ kreiert, der enorme Effizienzgewinne ermöglichte. Das System ist zudem auf direkte, globale Konkurrenz ausgelegt, bei dem der Standort der einzelnen Cloud-Mitglieder keine Rolle spielt. Deswegen erwägt die IBM-Führung die Einführung globaler Arbeitsverträge. Und deswegen ist die IBM-Deutschland-Chefin Koederitz schon heute der Ansicht, die genaue Anzahl ihrer Mitarbeiter in Deutschland aufgrund der globalen Verflechtung ihres Unternehmens nicht beziffern zu können.

Im Grunde stellen diese Überlegungen die Konsequenz des neoliberalen Appells an die „Selbstverantwortung“ der Lohnabhängigen dar. Diese würden so tatsächlich zu den „Unternehmern ihrer selbst“ werden, die nun für alle Voraussetzungen ihrer Lohnarbeit aufzukommen hätten: Ausbildung, Gesundheit, Renten, Arbeitsplatz, Arbeitsmittel, etc. – während die Zuspitzung der Konkurrenz untereinander und die Form der Heimarbeit die Organisierung von Gegenwehr stark behindern würden.

Auch in Deutschland gibt es übrigens erste Versuche, „Human Clouds“ aufzubauen. So kann das Portal Clickworker.com bereits 100 000 Nutzer verzeichnen, die prekär Korrekturaufgaben, Texterstellung oder Internetrecherche übernehmen. Kein Wunder also, dass IBM-Personalchef Ringo schon 2010 so begeistert war. Die Zeitschrift Personnel Today, der Ringo das besagte Interview gab, berichtete zudem von einem gigantischen gesamtwirtschaftlichen Potenzial für diese neuen Formen der prekären webbasierenden Arbeitsvermittlung in den USA: „Outsourcing-Experten erklärten, dass Arbeitgeber im privaten wie im öffentlichen Sektor dieses Modell verstärkt in Erwägung zögen, um die Personalkosten im Gefolge der Rezession zu senken.“

Tendenziell können nahezu alle Formen der Büroarbeit – und auch viele Dienstleistungen – in die „Cloud“ ausgelagert werden. Wie eine solche umfassend prekarisierte „schöne neue Arbeitswelt“ aussehen würde, schildert der im Auftrag der Gewerkschaft Verdi produzierte Kurzfilm „Gar kein Wolkenkuckucksheim“. Der Film entwickelt ein Zukunftsszenario, bei dem Lohnabhängige in den meisten Branchen bereits zu Cloud-Workern zugerichtet wurden.

Webbasierte Kontrolle der Internet-Tagelöhner

Diese angestrebte Bindungslosigkeit des neuen Internetproletariats ist für die Unternehmen Segen und Fluch zugleich. Der Verzicht auf einen Arbeitsplatz mitsamt fester Anstellung, Büroflächen, Sozialabgaben und Arbeitsausrüstung lässt auch keinerlei Verbindlichkeit, Loyalitäten oder sonstige Bindungsgefühle seitens des neuen digitalen Prekariats aufkommen. Eine Identifizierung des Tagelöhners mit dem Konzern – der für gewöhnlich eine spezifische Corporate Identity kreiert – ist somit nicht mehr möglich. Hierdurch fällt der Kernbelegschaft auch die Sicherung einer zuverlässigen Mitarbeit der Tagelöhner, mitunter der Qualitätskontrolle der abgelieferten Arbeit, sehr schwer.

Nach dem Ende des jeweiligen „Projekts“ findet sich ein „Cloud Worker“ wieder arbeitslos in der Wolke wieder, sodass die üblichen Anreize der kontinuierlichen Karrierelaufbahn, wie sie bei Angestellten noch zum Tragen kommen, nicht mehr greifen. Die umfassende gruppenbedingte Kontrolle des Angestellten am Arbeitsplatz, die sich ja bereits in der gläsernen Transparenzarchitektur vieler postmoderner Bürohochhäuser widerspiegelt, kann bei den vereinzelten Monaden in dem webbasierenden Schwarm des Kapitals naturgemäß nicht mehr aufrecht erhalten werden und muss durch andere webgestützte Formen der Disziplinierung und Leistungsbewertung ersetzt werden.

Genau daran wird in der Branche mit Hochdruck gearbeitet, während erste Ansätze webgestützter Leistungskontrolle bereits umgesetzt wurden. Die von dem deutschen IT-Riesen SAP aufgekaufte Firma Success Factor gilt beispielsweise als ein Pionier eines auf Cloud-Basis durchgeführten „Human Capital Management“. Sobald Unternehmen einen Großteil ihrer IT-Infrastruktur auflösen und stattdessen die Datenverarbeitung an externe Anbieter von Cloud-Computing auslagern, sinken die Kosten extremster Kontrolle dramatisch. Die Anbieter solcher Datenwolken erledigten nicht nur die klassischen betriebswirtschaftlichen IT-Aufgaben. Firmen wie „Success Factor“ bieten zudem Software an, die in der Datenwolke „Fehlzeiten, Arbeitszeiten, Vertragsabschlüsse oder sonstige der Leistungsnachweise“ der Lohnabhängigen analysiert, berichtete am 17. Mai 2012 die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ).

Die Leistungen der Angestellten könnten somit quasi in Echtzeit im Rahmen einer Dienstleistung eines externen Cloudanbieters „gemessen, bewertet und verglichen“ werden, ohne dass das betreffende Unternehmen größere Investitionen tätigen müsste. Der Preis für „professionelle“ Leistungsüberwachung und Kontrolle würde deswegen dramatisch sinken, so die FAZ: „Denn mit den neuen Cloud-Angeboten können die Kunden [der Cloud-Anbieter T.K.] die Programme für ihre Computer quasi aus der Steckdose ziehen.“ Im Klartext: Bald kann sich jeder Kleinbetrieb das „Human Ressource Management“ eines Großkonzerns leisten – inklusive der entsprechenden Ausbeutungsraten und des korrespondierenden Rationalisierungspotenzials.

Was „Success Factor“ an der Datenwolke einzelner Unternahmen vollführt, wird künftig auch an der „menschlichen Wolke“ der prekarisierten Internet-Tagelöhner durchexerziert werden. Die Leistungen der Cloud-Worker würden dann durch webgestützte Programme und Portale ebenfalls bis ins Kleinste „gemessen, bewertet und verglichen“, ohne dass die Beteiligten dieses Orwellschen Überwachungsprozesses in der „Human Cloud“ auch nur ein einziges Mal einander ansichtig werden müssten. Das Karlsruhe Service Research Institute (KSRI) beschäftigte sich zwischen Juni 2010 und Mai 2012 in einem Forschungsprojekt mit den „People Clouds“, die laut Projektbeschreibung „das Cloud-Computing-Paradigma auf menschliche Arbeitsleistung“ übertragen sollen. Eine „besondere Herausforderung“ dieses neuen Arbeitskonzepts stelle aber „das Qualitätsmanagement dar, da man sich wegen der eingeschränkten Kontrolle über die beteiligten Crowdworker nur bedingt auf einzelne Arbeitsergebnisse verlassen kann“.

Um diesen Mangel zu beheben, habe das KSRI in dem Projekt „skalierbare Qualitätsmanagementmechanismen entwickelt, welche die Arbeitsergebnisse mehrerer Crowdworker in einer effizienten Art und Weise kombinieren, um verlässliche Resultate zu garantieren“. Hierdurch solle ein „integriertes Qualitätsmanagementkonzept“ entstehen, so das KRSI, dessen Ausbeutungsforschung unter anderem von IBM gefördert wird. Andere Anbieter wie die US-Unternehmen Salesforce oder Saba, drängen mit ihren Lösungen für das „Human-Cloud-Management“ bereist auf den Markt. Saba etwa will eine „revolutionäre“ Software für die People-Cloud entwickelt haben, die einen „People-Quotient“ ermittelt, der „den Einfluss, die Reputation und die Wirkung“ der jeweiligen Cloud-Worker misst.

Der gläserne „Selbstunternehmer“ in der People Cloud

Grundlage der webbasierten Arbeitskontrolle bildet ein regelrechter Zwang zur Transparenz. Die prekären Internet-Proletarier werden ihre Fähigkeiten und Zertifizierungen auf den besagten Job-Portalen wie Top-Coder öffentlich „ausstellen“. Doch zugleich werden sich dort die Bewertungen aller ehemaligen Unternehmer finden, die künftig auf Grundlage der derzeit entwickelten Verfahren des „Human-Cloud-Management“ ermittelt werden. Ein jeder ehemaliger „Arbeitgeber“ wird so die Leistungen der Cloud-Worker nach Abschluss des jeweiligen Projekts bewerten können, was den Erfolgsdruck dieser Tagelöhner trotz prekärer Stellung ungemein steigern dürfte. Absolut transparente Bewertungen auf offenen Internetplattformen werden das grausamste und auch zuverlässigste Kontroll- und Disziplinierungsmittel in der „People Cloud“ darstellen.

Hier können durchaus Parallelen zu den Bewertungen von Online-Versandhändlern gezogen werden, wie sie bei eBay oder in Preisvergleichsportalen bereits heutzutage üblich sind. Dies ist im Rahmen des spätkapitalistischen Ökonomismus nur konsequent: Die allgegenwärtige Forderung nach Transparenz gilt dann auch für die prekarisierten „Unternehmer ihrer selbst“, die nichts anderes immer billiger losschlagen können als ihre Arbeitskraft. Der derzeitige „Arbeitgeber“ wird somit zum „Kunden“ des Selbstunternehmers, womit die neoliberale Umwertung aller Werte in der Arbeitswelt abgeschlossen wäre.

Ein weiteres Mittel der Kontrolle in der schönen neuen Arbeitswelt des Web 2.0 bildet der Prozess der Fortbildung und der Erlangung neuer Fähigkeiten, der den Pries der Ware Arbeitskraft der Cloud-Worker steigen ließe. Die auf den Web-Portalen ihre Fähigkeiten feilbietenden Internet-Proleten müssen einen Nachweis erbringen, diese Fertigkeiten tatsächlich auch anwenden zu können. Dies geschieht über den Prozess der Zertifizierung, bei dem Arbeitskräfte spezielle Kurse oder Prüfungen absolvieren, in denen das entsprechende Fachwissen abverlangt oder vermittelt wird. Diese kostenpflichtigen Kurse bieten den IT-Konzernen die Möglichkeit der Ausformung und Kontrolle des entsprechenden Fachwissens.

Darüber hinaus stellen sie eine zusätzliche und zuverlässige Einnahmequelle dar, wenn beispielsweise Cloud-Worker nur dann bestimmte Aufträge ergattern können, wenn sie die entsprechenden Kurse absolviert haben. IBM ist auch im Zertifizierungsgeschäft führend, dessen IBM Professional Certification Program laut Eigenaussage „international anerkannte Qualifizierungsstandards“ setzt. IBM wirbt bereits mit der entsprechenden Logik für diese Dienstleistung: „Weisen Sie über eine Zertifizierung Ihre Qualifikation im IBM Produktumfeld nach und steigern Sie so Ihren Marktwert. Das lohnt sich für Ihre Karriere.“

Der Kampf um das Individuum oder: der Humankapitalismus

Einen weiteren zentralen Kampfplatz der neuen Kontrolltechniken bildet schließlich das Individuum selber. Wurde im Laufe der ersten Phase des neoliberalen Rollbacks die gesamte Gesellschaft dem Ökonomismus untergeordnet, so sollen nun die Imperative der Kapitalverwertung möglichst tief im Bewusstsein der einzelnen Menschen verankert, die letzten Leistungs- und Kreativitätsreserven mobilisiert werden. Die totalitäre Verinnerlichung der Kapitalimperative soll so die webgestützte Überwachung und Qualitätskontrolle ergänzen – und dem kriselnden Kapitalismus neue Verwertungsfelder eröffnen.

Bei Henrik Müller, dem stellvertretenden Chefredakteur des Manager Magazins, liest sich das in einem Gastbeitrag für Spiegel-Online folgendermaßen: „Der wirklich knappe Faktor ist nicht mehr Kapital, sondern Kreativität – Humankapital in seiner schönsten Form. Die derzeitige Krise wird der Westen nur überwinden können, wenn die freien Gesellschaften diese Knappheit überwinden lernen.“ Müller forderte dabei einen „Humankapitalimus“, der den Menschen in den Mittelpunkt stelle.

Wie inhuman der neue Humankapitalismus die Menschen in den oberen Etagen der Managementpyramiden bereits heutzutage dressiert, schilderte die Regisseurin Carmen Losmann in einem Gespräch mit der Deutschen Welle. Im Milieu des Human-Ressource-Management herrsche ein Menschenbild vor, dass den Menschen als „sich selbst optimierende Ressource“ imaginiert. Losmann stellte eindrucksvoll in ihrem Dokumentarfilm „Work Hard – Play Hard“, der ganz in die Welt transnationaler Konzerne und Beratungsfirmen eintaucht, die an Gehirnwäsche erinnernden Verfahren dar, in denen das gesamte Streben des Lohnabhängigen auf die optimale Verwertung seiner Leistungsressourcen geeicht wird.

Dabei treibt diese Management-Dressur die den kapitalistischen Arbeitsprozess charakterisierende Entfremdung auf die Spitze, indem sie scheinbar aufgehoben wird. Letztendlich sollen die Imperative der heteronomen, den Menschen in ihre Tretmühle zwingenden Kapitalverwertung als die Maxime des eigenen, autonomen Strebens wahrgenommen werden. Es gehe um eine „sehr subtile Uminterpretation von Selbstentfaltung“. Dieses Vorgehen weise „schon teilweise faschistoide Tendenzen“ auf, betonte Losmann („Ich finde, dass das schon teilweise faschistoide Tendenzen hat“).

Der Lohnabhängige soll vermittels eines pseudoprivaten Arbeitsumfeldes und der entsprechenden Techniken des Human-Ressource-Managements ganz im Streben nach dem Erreichen der Unternehmensziele aufgehen und dies eigenverantwortlich, in Selbstkontrolle verwirklichen. „Wir sind Kapital“ – diese Parole sollen künftige Generationen von Lohnabhängigen verinnerlichen. Einer der mit der Schaffung dieses kapitalistischen „Neuen Menschen“ betrauten Kapitalroboter beschreibt im Film diesen intendierten Mentalitätswandel als einen Langzeitprozess: „Wir wollen den richtigen Menschen. Wenn wir das jetzt nicht richtig betreiben, dann gibt’s uns in zehn Jahren nicht mehr. Prozesse und Strukturen lassen sich schnell ändern. Aber Einstellungen und Verhalten – das dauert.“

Das Ergebnis dieser Gehirnwäsche schilderte etwa der Filmkritiker Jürgen Kiontke in einer Besprechung des Losmann-Films auf dem Gewerkschaftsportal Gegenblende: „Die Menschen in diesem Film sind tot, sie wissen es bloß noch nicht. Fremdbestimmung ist jedenfalls nicht mehr nötig. Denn die Leute hier arbeiten ‚task-orientiert‘, die kontrollieren sich ganz von allein.“

Selbstverständlich werden hier bereits in Ansätzen gegebene Konzepte der „Selbstoptimierung“ – wie sie bereits BWL-Studenten eingebläut werden – ins Extrem getrieben. Die in den Labors des „Human-Management“ ausgebrüteten Techniken der Selbstverleugnung, Selbstkontrolle und Selbstoptimierung sollen in abgewandelter Form in alle Sphären der Arbeitsgesellschaft diffundieren und sukzessive zur Voraussetzung der Lohnarbeit werden.

Es zeichnet sich dabei ab, dass die Heerscharen des Prekariats und der „Cloud-Worker“ auf Formen der Selbstoptimierung verweisen, während die kleinen Kernbelegschaften einer leistungsoptimierenden Gehirnwäsche unterzogen werden, wie sie in „Work Hard – Play Hard“ dargestellt wurde. Das Kapital nimmt mit diesem Drang nach Verinnerlichung seiner Imperativa in den Individuen auch eine fundamentale Umdeutung bestehender Begriffe in Angriff, die orwellsche Ausmaße erreicht: Selbstausbeutung wird so zu Selbstverwirklichung, Selbstkontrolle zur Freiheit umgelogen.

Internetkapitalismus als Krisenreflex

Wieso aber rückt nun der Mensch – inklusive seiner Privatsphäre – ins Zentrum der Konzepte und Strategien der Akkumulationsoptimierer in den Beratungsfirmen? Einen ersten Hinweis darauf gab Henrik Müller in seinem Gastbeitrag für SPON, als er „Humankapital in seiner schönsten Form“ als den wichtigsten Faktor bezeichnete, der zur Überwindung der gegenwärtigen Krise beitragen könne.

Der kommende Kapitalzugriff auf das Innerste des Menschen bildet genauso einen Krisenreflex, wie die Ausrichtung der Gesamtgesellschaft anhand der Vorgaben der zunehmend stotternden Kapitalverwertung in den vergangenen Jahren. Das Kapitalverhältnis reagiert auf seine Krise buchstäblich extremistisch, indem es sich selbst ins Extrem treibt. Die Degradierung der gesamten Gesellschaft zu einem „Wirtschaftsstandort“ im Rahmen des Ökonomismus verschaffte Konzernen und Staaten ja tatsächliche Vorteile in der krisenbedingten Verdrängungskonkurrenz der vergangenen Jahrzehnte, wie etwa die dominante Stellung der Bundesrepublik in Europa illustriert. Nach der totalitären Unterwerfung aller Gesellschaftsbereiche bleibt nur noch das Innerste des Menschen als ein letztes Expansionsfeld übrig, um weiter vor der Krisendynamik zu flüchten. Es handelt sich um eine extremistische Flucht des Kapitalverhältnisses vor den Folgen seiner Verwertungsbewegung (Wer ist schuld am Krisenausbruch?).

Der Mensch befindet sich innerhalb des Kapitalverhältnisses in einem permanenten „Wettlauf mit den Maschinen“, deren permanente Evolution immer größere Rationalisierungspotentiale eröffnet. Je weiter der technologische Fortschritt die menschliche Arbeit im Produktionsprozess überflüssig macht, desto stärker geraten reguläre Arbeitsbedingungen und Löhne unter Druck. Die Prekarisierung und die Abrufung der letzten Leistungsreserven vermittels der Selbstoptimierung bilden die Mechanismen, mit denen eine zunehmend schrumpfende Anzahl von Lohnabhängigen noch „in Arbeit“ gehalten wird. Arbeit muss billiger und produktiver werden, um im „Wettlauf mit den Maschinen“ zumindest vorläufig bestehen zu können.

Andrerseits sind vom Rationalisierungsdrang diejenigen Tätigkeiten ausgenommen, bei denen genuin menschliche Fähigkeiten und Fertigkeiten unabdingbar sind. Deswegen steigt insbesondere bei den Kernbelegschaften das Interesse der Personalabteilungen an der Privatsphäre oder dem Charakter der Lohnabhängigen. Das Management will bei der Kernbelegschaft tatsächlich auf den ganzen Menschen zugreifen, weil die „Menschlichkeit“ die wichtigste, technologisch nicht reproduzierbare Eigenschaft bildet, die verwertet werden soll. Aus der Umprogrammierung des menschlichen Strebens nach Selbstentfaltung im Sinne der Kapitalverwertung sollen dann auch die Kreativitätsschübe resultieren, die dem krisengeplagten Spätkapitalismus neue Verwertungsfelder eröffnen würden. Dieser „Neue Mensch“, der in seiner Funktion als kleines Rädchen im Verwertungsprozess ganz aufgeht, soll unter totaler Mobilisierung seiner innersten Reserven dem an seiner eigenen Produktivität erstickenden Kapital noch einmal den Weg aus der Krise weisen.

Diese durch immer weiter voranschreitende Produktivitätsfortschritte ausgelöste Krise der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft wird ursächlich zu dem dargelegten Auseinderbrechen des Arbeitsmarktes in eine prekäre Masse von Selbstoptimierern und eine kleine Elite von gehirngewaschenen Kernbelegschaften führen. Der Kapitalismus könnte nur noch in dieser barbarischen Form, die an Dystopien eines George Orwell oder Aldous Huxley erinnert, seinen Zusammenbruch hinauszögern.

Letztendlich erinnert die Heimarbeit des Spätkapitalismus an die Heimarbeit des Frühkapitalismus, wie sie etwa in der englischen Textilindustrie im Rahmen des Verlagssystems im 17. und 18. Jahrhundert praktiziert wurde, bei dem Heimhandwerker für sogenannte Verleger Textilien herstellten, die diese dann aufkauften und vermarkteten. Der frühe Kapitalismus drang vermittels der Lohnarbeit in die Häuser der Menschen ein, bevor er sie in die Fabriken trieb. Der Spätkapitalismus wird den künftigen Internet-Tagelöhner erneut in die eigenen vier Wände abliefern.

image_print